Das Manifest und das Ende der Mehrehe
Über weite Teile des 19. Jahrhunderts hinweg praktizierte eine beträchtliche Anzahl von Mitgliedern der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage die Mehrehe – die Ehe eines Mannes mit mehreren Frauen. Sowohl Einführung als auch Beendigung dieses Brauchs wurden durch Offenbarung an die Propheten Gottes verfügt. Das ursprüngliche Gebot, die Mehrehe zu praktizieren, erging durch Joseph Smith – den Propheten, der die Kirche gegründet hat und ihr erster Präsident war. 1890 gab Präsident Wilford Woodruff das Manifest heraus, mit dem die Mehrehe in der Kirche beendet wurde.
Die Beendigung der Mehrehe erforderte von einzelnen Mitgliedern und von den Führern der Kirche großen Glauben und mitunter auch schwierige, schmerzliche – und zutiefst persönliche – Entscheidungen. Wie die Einführung der Mehrehe in der Kirche, war auch ihre Beendigung mehr ein Prozess als ein einmaliges Ereignis. Offenbarung erging „Zeile um Zeile, Weisung auf Weisung“1.
Gesetze gegen die Polygamie und ziviler Ungehorsam
Ab den frühen 40er Jahren des 19. Jahrhunderts betrachteten die Mitglieder der Kirche die Mehrehe ein halbes Jahrhundert lang als Gebot Gottes, als eine Verpflichtung, die dazu beitrug, dass man dem Herrn rechtschaffene Nachkommen „erwecken“ konnte.2 Es wurde nicht von allen Mitgliedern der Kirche erwartet, eine Mehrehe einzugehen, aber diejenigen, die es taten, waren überzeugt, dass sie dafür gesegnet werden würden. Zwischen 1850 und 1880 lebten viele Heilige der Letzten Tage als Ehemann, Ehefrau oder Kind in einer Familie, in der die Mehrehe praktiziert wurde.3
In vielen Teilen der Welt war Polygamie gesellschaftlich anerkannt und auch gesetzlich gestattet. In den USA betrachtete die Mehrheit der Bevölkerung den Brauch jedoch als moralisch verwerflich. Diese Vorbehalte führten zu Gesetzesinitiativen, mit denen der Polygamie ein Ende gemacht werden sollte. Ab 1862 verabschiedete die US-Regierung eine ganze Reihe von Gesetzen, mit denen die Heiligen der Letzten Tage gezwungen werden sollten, die Mehrehe aufzugeben.4
Angesichts dieser Maßnahmen vertraten die Heiligen der Letzten Tage die Auffassung, dass es sich bei der Mehrehe um einen religiösen Grundsatz handele und sie daher durch die US-Verfassung geschützt sei. Die Kirche setzte sich energisch juristisch zur Wehr und beschritt dabei den Instanzenweg bis hin zum Obersten Gerichtshof. Im Verfahren Reynolds gegen die Vereinigten Staaten (1879) entschied der Oberste Gerichtshof gegen die Auffassung der Heiligen der Letzten Tage: Die religiöse Überzeugung sei gesetzlich geschützt, nicht jedoch ein bestimmter religiöser Brauch. Nach Meinung der Richter handelte es sich bei der Ehe um einen Zivilvertrag, der staatlichen Regeln unterlag. Monogamie war die einzige staatlich zugelassene Form der Ehe. „Polygamie“, so führten die Richter weiter aus, „wurde unter den Völkern Nord- und Westeuropas schon immer mit Abscheu betrachtet.“5
Die Heiligen der Letzten Tage waren aufrichtig bemüht, treue Bürger der USA zu sein, die sie als Land betrachteten, dem Gott den Weg bereitet hatte. Sie erkannten aber auch die Mehrehe als Gebot Gottes an und waren der Überzeugung, dass das Gericht ihnen ungerechtfertigterweise das Recht nahm, Gottes Gebote zu befolgen.
Angesichts dieser widersprüchlichen Treuepflichten empfahlen die Führer der Kirche den Mitgliedern, Gott zu gehorchen und nicht dem Menschen. Zwischen 1880 und 1890 entschieden sich viele Heilige der Letzten Tage für zivilen Ungehorsam, indem sie weiterhin in Mehrehe lebten oder auch weitere Mehrehen eingingen.6 Die Bundesregierung reagierte darauf mit immer schärferen Gesetzen.
Von 1850 bis 1896 war Utah ein Territorium, das der US-Regierung unterstand. Daher hatten die Bundesbeamten in Washington, D. C. großen Einfluss auf die dortigen Angelegenheiten. 1882 verabschiedete der Kongress das Edmunds-Gesetz, das ungesetzliches Zusammenleben (also das Zusammenleben eines Mannes mit mehreren Frauen) mit sechs Monaten Haft und einem Bußgeld von 300 Dollar unter Strafe stellte. 1887 dann erließ der Kongress das Edmunds-Tucker-Gesetz, das sich gegen die Kirche als Institution richtete, nicht nur gegen ihre Mitglieder. Dadurch wurde die Kirche als Körperschaft aufgelöst und alle Vermögenswerte über 50.000 Dollar wurden dem Staat übereignet.
Diese staatlichen Repressalien festigten die Entschlossenheit der Heiligen der Letzten Tage, gegen die Gesetze, die sie als ungerecht betrachteten, Widerstand zu leisten. Famillienväter, die in Mehrehe lebten, tauchten unter – manchmal zogen sie für viele Jahre von Haus zu Haus und verbargen sich bei Freunden und Verwandten. Andere legten sich Decknamen zu und zogen an abgelegene Orte im Süden Utahs, in Arizona, Kanada oder Mexiko.7 Viele entgingen der Verfolgung, viele andere wiederum wurden verhaftet. Sie bekannten sich schuldig und nahmen Bußgeld und Haft auf sich.
Diese Kampagne gegen die Polygamie löste erhebliche Spannungen in den Siedlungen der Mormonen aus. Wo Ehemänner in den Untergrund gegangen waren, blieb es den Frauen und den Kindern überlassen, sich um die Farm oder das Geschäft zu kümmern. Dadurch sank das Einkommen und es ging wirtschaftlich bergab. Die Kampagne war auch eine große Belastung für die einzelnen Familien. Die Ehefrauen, die erst kurz zuvor in eine Mehrehe eingetreten waren, mussten von ihrem Mann getrennt leben. Ihre insgeheim geschlossene Ehe war nur wenigen bekannt. Schwangere Frauen tauchten oft ebenfalls unter, manchmal an weit abgeschiedenen Orten, um nicht Gefahr zu laufen, vor Gericht gegen ihren Mann aussagen zu müssen. Kinder lebten mit der Angst, dass ihre Familie auseinandergerissen werden würde oder dass man sie zwingen würde, gegen ihre Eltern auszusagen. Manche Kinder gingen in den Untergrund und verwendeten statt ihres eigentlichen Namens ein Pseudonym.8
Ungeachtet zahlloser Schwierigkeiten waren viele Heilige der Letzten Tage überzeugt, dass die Kampagne gegen die Polygamie letztlich den Absichten Gottes nutzen würde. Sie gaben Zeugnis, dass Gott sein Bundesvolk demütigte und läuterte, wie er es schon in vergangenen Zeitaltern getan hatte. Myron Tanner, ein Bischof in Provo in Utah, empfand es so: „Die Hand, mit der die Eltern unterdrückt werden, trägt mehr dazu bei, dass unsere Kinder von der Wahrheit des Mormonentums überzeugt werden, als alles andere es vermocht hätte.“9 Eine Inhaftierung aus „Gewissensgründen“ erwies sich für viele als glaubensstärkend. Für George Q. Cannon, Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, waren die fünf Monate, die er in Utah im Zuchthaus verbrachte, wie eine Verjüngungskur. „Meine Zelle schien mir ein himmlischer Ort zu sein, der von Engeln aufgesucht wurde“, schrieb er.10
Die Kirche stellte während der Kampagne gegen die Polygamie zwei Tempel fertig und weihte sie – eine bemerkenswerte Leistung.11 Der staatliche Druck nahm jedoch weiter zu. Vieles, was eigentlich unumgänglich war, um die Kirche zu führen, wurde stark beschnitten. Es verfestigte sich immer mehr der Eindruck, dass ziviler Ungehorsam langfristig keine tragbare Lösung war. Zwischen 1885 und 1889 befanden sich die meisten Apostel und Pfahlpräsidenten entweder im Untergrund oder in Haft. Als Bundesagenten begannen, gemäß dem Edmunds-Tucker-Gesetz Eigentum der Kirche zu beschlagnahmen, wurde es noch schwieriger, diese zu verwalten.12
Das Manifest
Nachdem die Führer der Kirche zwanzig Jahre lang versucht hatten, durch Verhandlungen eine Gesetzesänderung herbeizuführen oder aber die schrecklichen Konsequenzen der bestehenden Rechtslage abzuwenden, fassten sie andere Vorgehensweisen ins Auge. In den Jahren 1885 und 1886 gründeten sie Siedlungen in Mexiko und in Kanada. Dort hatten die Gesetze der USA keine Gültigkeit. Familien, in denen die Mehrehe praktiziert wurde, konnten dort unbehelligt leben. In der Hoffnung, dass eine moderatere Position ihrerseits auch zu einem Rückgang der Anfeindungen führen würde, legten die Führer der Kirche polygamen Familienvätern nahe, sich in der Öffentlichkeit nur zu einer Ehefrau zu bekennen, und sprachen sich dafür aus, dass die Mehrehe öffentlich nicht gelehrt wurde. 1889 untersagten die Autoritäten der Kirche das Schließen neuer Mehrehen in Utah.13
Die Führer der Kirche bemühten sich gebeterfüllt um Führung vom Herrn und rangen um Erkenntnis, was sie tun sollten. Sowohl Präsident John Taylor als auch Präsident Wilford Woodruff spürten, dass der Herr sie anwies, den Kurs zu halten und die Mehrehe nicht zu widerrufen.14
Die Inspiration stellte sich schließlich ein, als noch nicht alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Die letzte dieser Möglichkeiten schwand im Mai 1890, als der Oberste Gerichtshof der USA das Edmunds-Tucker-Gesetz als verfassungskonform bestätigte. Damit stand der Beschlagnahmung des Eigentums der Kirche nichts mehr im Wege. Präsident Woodruff erkannte, dass die Tempel der Kirche und die darin vollzogenen heiligen Handlungen nun in Gefahr waren. Diese Bedrohung lastete schwer auf ihm, und so betete er inständig über die Angelegenheit. „Der Herr hat mir durch Vision und Offenbarung“, so berichtete er später, „genau gezeigt, was geschehen würde, wenn wir mit der Ausübung [der Mehrehe] nicht aufhörten. … Alle Tempel [wären] unseren Händen entglitten.“ Gott „hat mir genau gesagt, was zu tun ist, und was die Folge wäre, wenn wir es nicht täten“15.
Am 25. September 1890 schrieb Präsident Woodruff in sein Tagebuch, dass er für die „zeitliche Errettung der Kirche“ handeln müsse. Er erklärte: „Nachdem ich zum Herrn gebetet habe und durch seinen Geist inspiriert wurde, habe ich … [eine] Proklamation herausgegeben.“16 Diese Proklamation, die jetzt im Buch Lehre und Bündnisse als Amtliche Erklärung 1 abgedruckt ist, wurde am 25. September veröffentlicht und wurde als das Manifest bekannt.17
Das Manifest wurde sorgfältig so formuliert, dass es dem damals akuten Konflikt mit der US-Regierung Rechnung trug. „Wir lehren keine Polygamie oder Vielehe und gestatten auch niemandem, ihre Ausübung einzugehen“, so Präsident Woodruff. „Da nun der Kongress Gesetze erlassen hat, die die Vielehe verbieten, und da das höchste Appellationsgericht diese Gesetze als verfassungsgemäß bezeichnet hat, erkläre ich hiermit meine Absicht, mich diesen Gesetzen zu fügen und bei den Mitgliedern der Kirche, deren Präsident ich bin, meinen Einfluss geltend zu machen, dass sie es auch tun.“18
Unter den Mitgliedern des Kollegiums der Zwölf Apostel gab es unterschiedliche Reaktionen auf das Manifest. Franklin D. Richards verlieh der Gewissheit Ausdruck, dass es „das Werk des Herrn“ war. Francis M. Lyman sagte, „er habe das Manifest ohne Vorbehalte befürwortet, als er es das erste Mal hörte“19. Nicht jeder der Zwölf Apostel erkannte das Dokument sofort an. John W. Taylor berichtete, er habe zunächst „kein gutes Gefühl dabei“ gehabt.20 John Henry Smith räumte unverblümt ein, dass ihn „das Manifest emotional sehr aufgewühlt“ habe und dass er deswegen „hin- und hergerissen“ gewesen war.21 Innerhalb einer Woche stimmten jedoch alle Mitglieder der Zwölf Apostel zugunsten des Manifests.
Das Manifest wurde der Kirche bei der Herbst-Generalkonferenz, die im Oktober 1890 im Tabernakel von Salt Lake City stattfand, offiziell vorgelegt. Am Montag, dem 6. Oktober, trat Orson F. Whitney, ein Bischof in Salt Lake City, ans Rednerpult und verlas die Glaubensartikel. Darin heißt es in einer Zeile auch, dass die Heiligen der Letzten Tage daran glauben, „dem Gesetz zu gehorchen, es zu achten und für es einzutreten“. Diese Glaubensartikel wurden durch Heben der Hand bestätigt. Danach las Whitney das Manifest vor, und Lorenzo Snow, der Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel, stellte den Antrag, das Dokument als „maßgebend und bindend“ anzuerkennen. Die Versammelten wurden dann aufgefordert, über diesen Antrag abzustimmen. Die Deseret News berichteten, dass die Abstimmung „einstimmig“ ausgefallen sei. Die meisten hatten dafür gestimmt, es gab aber auch einige Stimmenthaltungen.22
Die einfachen Heiligen der Letzten Tage nahmen das Manifest mit mehr oder weniger starken Vorbehalten auf. Viele waren für ein Ende der Mehrehe noch nicht bereit. Die Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung, Zina D. H. Young, hielt an dem Tag, als das Manifest der Kirche vorgelegt wurde, den Kummer fest, der mit diesem Moment verbunden war: „Heute wurden die Herzen aller auf die Probe gestellt, doch sie blickten zu Gott und fügten sich.“23 Das Manifest weckte Ungewissheit darüber, wie es in Zukunft mit einigen Beziehungen weitergehen würde. Eugenia Washburn Larsen, die das Schlimmste befürchtete, berichtete, dass sie „dichte Finsternis“ empfand, als sie sich vorstellte, wie sie und andere Frauen und Kinder von den Ehemännern „auf die Straße gesetzt werden“24. Andere Frauen in polygamen Beziehungen nahmen das Manifest jedoch mit „großer Erleichterung“ auf.25
Nach dem Manifest
Die Heiligen der Letzten Tage glauben, dass der Herr seinen Willen „Zeile um Zeile …, Weisung um Weisung“ offenbart.26 Die Mitglieder der Kirche zur damaligen Zeit sahen das Manifest im Allgemeinen als das „Werk des Herrn“ an, so wie Franklin D. Richards es gesagt hatte. Jedoch waren zunächst nicht alle Auswirkungen des Manifests offenkundig; sein Geltungsbereich musste festgelegt werden, und die Autoritäten waren unterschiedlicher Ansicht darüber, wie am besten vorzugehen sei. „Wir haben unseren gegenwärtigen Standpunkt Schritt für Schritt erreicht“, erklärte Herber J. Grant, ein Apostel.27 Mit der Zeit und weil sie sich um fortdauernde Offenbarung bemühten, erkannten die Mitglieder der Kirche „Schritt für Schritt“, wie das Manifest zukünftig auszulegen war.
Anfänglich gingen viele Führer der Kirche davon aus, dass die Mehrehe durch das Manifest lediglich für unbestimmte Zeit ausgesetzt würde.28 Nachdem man so lange Zeit die Mehrehe gelebt, gelehrt und für sie gelitten hatte, war eine Welt ohne sie nur schwer vorstellbar. George Q. Cannon, ein Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, verglich das Manifest damit, wie der Herr in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts von seinem Gebot, Tempel in Missouri zu errrichten, abgerückt war, nachdem die Heiligen aus diesem Bundesstaat vertrieben worden waren. In einer Predigt, die er unmittelbar nach der Bestätigung des Manifests bei der Generalkonferenz hielt, zitierte Cannon eine Schriftstelle, in der der Herr diejenigen von ihrer Pflicht freistellt, die sich aufrichtig bemühen, eines seiner Gebote auszuführen, aber von ihren Feinden daran gehindert werden: „Siehe, [es erscheint mir] angebracht, jenes Werk nicht mehr von den Händen jener Söhne der Menschen zu fordern, sondern ihre Opfer anzunehmen.“29
Dennoch mussten noch viele praktische Fragen geklärt werden. Im Manifest kam nicht zur Sprache, wie sich Familien verhalten sollten, in denen die Mehrehe bereits praktiziert wurde. Einige Paare entschieden sich infolge des Manifests aus eigenem Antrieb für Trennung oder Scheidung; manche Ehemänner lebten nur noch mit einer ihrer Ehefrauen zusammen, unterstützten alle Beteiligten aber weiterhin finanziell und seelisch.30 In einer Versammlung mit örtlichen Führern unter Ausschluss der Öffentlichkeit tadelte die Erste Präsidentschaft Männer, die ihre Frauen verließen und sich dabei auf das Manifest beriefen, scharf. „Ich habe nicht versprochen – und konnte und wollte es auch gar nicht –, dass ihr eure Frauen und Kinder im Stich lasst“, machte Präsident Woodruff den Männern deutlich. „Dies ist mit eurer Ehre unvereinbar.“ 31
Aufgrund der Überzeugung, dass die Bündnisse, die sie mit Gott und ihren Ehefrauen eingegangen waren, wichtiger waren als alles andere, lebten viele Männer, darunter auch Führer der Kirche, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein weiter mit mehreren Frauen zusammen und bekamen Kinder mit ihnen.32 Die Fortsetzung dieser Beziehungen brachte diese Paare in die Gefahr, verfolgt zu werden, genauso wie es schon vor dem Manifest gewesen war. Diese Bedrohung ging nach 1890 jedoch merklich zurück. Das Manifest stellte die Beziehung zur Bundesregierung und zum ganzen Land auf eine neue Grundlage: Polygamisten wurden immer weniger verfolgt, Frauen, die in einer Mehrehe lebten, verließen den Untergrund und trugen ihren Ehenamen, und die Ehemänner pflegten offeneren Umgang mit ihren Angehörigen, vor allem nachdem US-Präsident Benjamin Harrison 1893 den Mormonen, die Polygamie ausübten, eine Generalamnestie gewährt hatte.33 Drei Jahre danach wurde Utah Bundesstaat mit einer Verfassung, die Polygamie nicht zuließ.
Im Manifest hatte Präsident Woodruff die Absicht kundgetan, sich den Gesetzen der USA zu fügen. Darin stand jedoch nichts über die Gesetze anderer Länder. Schon seit Gründung der ersten Siedlungen in Mexiko und Kanada hatten die Führer der Kirche dort Trauungen für Mehrehen vorgenommen. Auch nach dem Oktober 1890 wurden dort im Stillen weiterhin Mehrehen eingegangen.34 Grundsätzlich galt, dass die Führer der Kirche sich nicht für solche Ehen aussprachen, und es war auch schwierig, eine Genehmigung zu erhalten. Einer oder beide Ehepartner, die eine Mehrehe schlossen, mussten sich verpflichten, in Kanada oder Mexiko zu bleiben. Im Ausnahmefall wurden zwischen 1890 und 1904 auch in den USA noch einige wenige neue Mehrehen geschlossen, es ist jedoch unklar, ob die Befugnis erteilt worden war, diese Ehen auf US-Territorium zu schließen.35
Die genaue Zahl der während dieser Jahre innerhalb und außerhalb der USA neu geschlossenen Mehrehen ist unbekannt. In den Berichten, die zur damaligen Zeit über Siegelungen geführt wurden, wurde nicht angegeben, ob es sich bei der Siegelung um eine monogame Ehe oder eine Mehrehe handelte, was eine umfassende Berechnung erschwert. Ein grober Maßstab lässt sich jedoch aus einer chronologischen Aufstellung herleiten, die von den Schreibern der Kirche über Eheschließungen und Siegelungen gemacht wurde. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts – in einer Zeit, da es nur wenige Tempel gab und die Reise zu ihnen lang und beschwerlich war – wurde es Paaren aus der Kirche, die weit von einem Tempel entfernt wohnten, gestattet, sich außerhalb eines Tempels siegeln zu lassen.
In der Aufstellung über „Eheschließungen und Siegelungen außerhalb des Tempels“, die nicht vollständig ist, sind 315 Ehen verzeichnet, die zwischen dem 17. Oktober 1890 und dem 8. September 1903 geschlossen wurden.36 Nachforschungen haben ergeben, dass es sich bei den 315 Eheschließungen in der Aufstellung bei 25 (7,9 %) um Mehrehen und bei 290 (92,1 %) um monogame Ehen handelte. Fast alle der verzeichneten monogamen Ehen wurden in Arizona oder Mexiko geschlossen. Von den 25 Mehrehen wurden 18 in Mexiko, drei in Arizona, zwei in Utah und jeweils eine in Colorado und auf einem Schiff im Pazifischen Ozean geschlossen. Alles in allem geht aus der Aufstellung hervor, dass die Mehrehe zurückging und dass die Führer der Kirche nach bestem Gewissen handelten, um sich an die Bedingungen des Manifests zu halten, so wie sie diese verstanden.37
Nach welchem Verfahren genau diese Eheschließungen genehmigt wurden, bleibt unklar. Eine Zeit lang bedurften alle Mehrehen, die nach dem Manifest eingegangen wurden, der Zustimmung durch ein Mitglied der Ersten Präsidentschaft. Es gibt jedoch keine eindeutigen Belege dafür, dass die Entscheidungen darüber von allen Mitgliedern der Ersten Präsidentschaft gemeinsam getroffen wurden. Präsident Woodruff beispielsweise verwies Anträge auf die Genehmigung neuer Mehrehen üblicherweise an Präsident Cannon, der sie dann persönlich prüfte.38 Gegen Ende der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts war es dann so weit, dass zumindest einige der Männer, die befugt waren, Siegelungen zu vollziehen, der Auffassung waren, dass es ihnen freistand, unabhängig von der Ersten Präsidentschaft Anträge nach eigenem Ermessen zu bewilligen oder abzulehnen. Der Apostel Heber J. Grant beispielsweise berichtete, dass er im Jahr 1900, als er Mormonensiedlungen in Mexiko besuchte, an einem einzigen Tag zehn Anträge auf Genehmigung von Mehrehen erhielt. Er lehnte alle ab. „Ich muss gestehen“, so erzählte er einem Freund, „dass es mir immer gegen den Strich ging, wenn man Dokumenten [wie dem Manifest] in dieser Weise zuwiderhandelte.“39
Das Zweite Manifest
Zunächst war es außerhalb der Kirche weitgehend unbekannt, dass auch nach dem Manifest noch neue Mehrehen geschlossen wurden. Als dies herauskam, waren viele Amerikaner beunruhigt, vor allem nachdem Präsident George Q. Cannon 1899 in einem Interview mit dem New York Herald geäußert hatte, dass in Kanada und Mexiko neue Mehrehen geschlossen werden könnten.40 Nachdem B. H. Roberts, ein Mitglied des Ersten Rats der Siebzig, in den Kongress gewählt worden war, wurde bekannt, dass dieser drei Ehefrauen hatte, von denen er eine erst nach Veröffentlichung des Manifests geheiratet hatte. Sieben Millionen Bürger unterschrieben eine Petition, in der verlangt wurde, Roberts seinen Sitz im Kongress zu verwehren. Der Kongress stimmte dem zu und Roberts wurde seines Amtes enthoben.41
Der Parlamentsausschluss von B. H. Roberts rückte die Gepflogenheiten der Mormonen im Zusammenhang mit der Ehe erneut ins Blickfeld. Der Präsident der Kirche, Lorenzo Snow, gab eine Erklärung heraus, in der er klarstellte, dass in der Kirche keine neuen Mehrehen mehr geschlossen wurden und dass das Manifest für alle Teile der Welt galt. Dies bekräftigte er auch wiederholt in persönlichen Gesprächen. Dessen ungeachtet wurden weiterhin noch einige wenige neue Mehrehen geschlossen, wahrscheinlich jedoch ohne das Wissen oder die Zustimmung von Präsident Snow. Nachdem Joseph F. Smith 1901 Präsident der Kirche wurde, wurden auch während der ersten Jahre seiner Amtszeit einige wenige neue Mehrehen geschlossen.42
Welche Rolle die Kirche bei diesen Eheschließungen gespielt hatte, wurde Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen, als Red Smoot, ein Apostel, 1903 in den Senat gewählt wurde. Smoot selbst lebte monogam, aber sein Apostelamt warf Fragen auf, wie loyal er gegenüber dem Land war. Wie konnte Smoot gleichzeitig die Gesetze der Kirche, unter deren Amtsträgern es einige gab, die bei neuen Mehrehren die Trauung vorgenommen hatten, sie gutgeheißen hatten oder selbst eine eingegangen waren, und die Gesetze des Landes, laut denen die Mehrehe gesetzwidrig war, hochhalten? Vier Jahre lang debattierten die Abgeordneten diese Frage in ausgedehnten öffentlichen Anhörungen.
Der Senat vernahm zahlreiche Zeugen. Joseph F. Smith sagte im März 1904 als Präsident der Kirche im Plenum des Senats aus. Als er auf seine familiären Beziehungen angesprochen wurde, verteidigte er diese und erklärte dem Ausschuss, dass er auch nach 1890 weiter mit seinen Frauen zusammengelebt und Kinder mit ihnen bekommen habe. Er sagte, es wäre unehrenhaft von ihm, würde er die heiligen Bündnisse, die er mit seinen Frauen und Gott eingegangen habe, brechen. Als man ihn zu den neuen Mehrehen befragte, die nach 1890 geschlossen worden waren, zeigte Präsident Smith sorgsam auf, dass zwischen Maßnahmen, die von der Kirche gutgeheißen und in ihren Ratsgremien und bei ihren Konferenzen ratifiziert werden, und dem Verhalten einzelner Mitglieder der Kirche ein Unterschied besteht. „Seit Veröffentlichung des Manifests hat es nie eine Mehrehe gegeben, von der die Kirche wusste oder die sie gutgeheißen, gebilligt oder genehmigt hat“, so seine Aussage. 43
In diesem juristischen Rahmen war Präsident Smith darum bemüht, die Kirche zu schützen und gleichzeitig die Wahrheit zu sagen. In seiner Aussage traf er eine Unterscheidung, die den Führern der Kirche schon lange klar gewesen war: Durch das Manifest unterlag die Kirche als Ganzes nicht mehr dem Gebot Gottes, die Mehrehe aufrechtzuerhalten und zu verteidigen, dem Einzelnen jedoch war es bis zu diesem Zeitpunkt dadurch nicht verboten, aus religiöser Überzeugung die Mehrehe fortzuführen oder einzugehen.
Die Zeit war reif für eine Änderung dieser Denkweise. Die Mehrheit der Ehen bei den Mormonen war schon immer monogam gewesen und ein Wandel hin zur Monogamie als einzig zulässige Form war schon lang im Gange. 1889 wurde ein Mann ins Kollegium der Zwölf Apostel berufen, der sein Leben lang monogam gelebt hatte; seit 1897 war mit einer Ausnahme jeder Apostel, der ins Kollegium der Zwölf berufen wurde, zum Zeitpunkt seiner Ernennung mit nur einer Frau verheiratet.44 Seit Beginn der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, als die Führer der Kirche die Mitglieder aufforderten, in ihrem Heimatland zu bleiben und Zion dort aufzubauen, statt wie in den vorangegangenen Jahren nach Utah auszuwandern, war es wichtig geworden, dass sie sich nach den Gesetzen richteten, die Monogamie forderten.
Bei seiner Aussage im Senat versprach Präsident Smith öffentlich, für Klarheit zu sorgen, was die Haltung der Kirche zur Mehrehe betraf. Bei der Frühjahrs-Generalkonferenz 1904 gab er dann eine eindringliche Erklärung ab, die als das Zweite Manifest bekannt ist. Darin wurde das Schließen von Mehrehen unter Strafe gestellt: „Wenn sich ein Beamter oder ein Mitglied der Kirche anmaßen sollte, eine solche Eheschließung vorzunehmen oder in eine solche Ehe einzutreten, wird dies als Übertretung gegen die Kirche angesehen. Der Betreffende wird dann zur Rechenschaft gezogen, indem mit ihm gemäß den Regeln und Vorschriften der Kirche verfahren und er aus dieser ausgeschlossen wird.“45 Diese Erklärung war von den führenden Gremien der Kirche genehmigt worden und wurde bei der Konferenz einstimmig als für die Kirche maßgebend und bindend bestätigt.46
Das Zweite Manifest war ein Wendepunkt. Zum ersten Mal wurde den Mitgliedern der Kirche zu verstehen gegeben, dass neue Mehrehen von Gott und der Kirche nicht gebilligt wurden. Das Zweite Manifest erweiterte die Reichweite und Geltung des ersten. „Mit dem [Manifest]“, erklärte Elder Francis M. Lyman, der Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel, „wurde den Heiligen lediglich mitgeteilt, dass sie keine weiteren Mehrehen mehr schließen mussten, doch mit der Maßnahme, die bei der Konferenz in Salt Lake City am 6. April 1904 getroffen wurde, wurde dieses Manifest [durch das Zweite Manifest] um ein Verbot erweitert.“47
Die Führer der Kirche bemühten sich, die Tragweite dieser Erklärung den Führungsbeamten und Mitgliedern auf allen Ebenen deutlich zu machen. Auf Weisung der Ersten Präsidentschaft schickte Präsident Lyman allen Mitgliedern des Kollegiums der Zwölf Apostel Briefe, in denen sie darüber in Kenntnis gesetzt wurden, dass das Zweite Manifest ohne Ausnahme einzuhalten sei.48 Entgegen der Anweisung sprachen sich zwei Apostel, John W. Taylor und Matthias F. Cowley, auch nach dem Zweiten Manifest weiter für neue Mehrehen aus und nahmen entsprechende Trauungen vor. Sie wurden schließlich aus dem Kollegium ausgeschlossen.49 Taylor wurde später auch aus der Kirche ausgeschlossen, nachdem er auf seinem Recht beharrt hatte, weiterhin Trauungen für Mehrehen vorzunehmen. Cowley wurde untersagt, sein Priestertum auszuüben, und er gab später zu, dass er sich „gänzlich im Irrtum“ befunden habe.50
Einige Paare, die zwischen 1890 und 1904 eine Mehrehe eingegangen waren, gingen nach dem Zweiten Manifest auseinander, viele andere jedoch lebten bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus im Stillen weiter zusammen.51 Mitglieder der Kirche, die das Zweite Manifest ablehnten und sich weiterhin öffentlich für die Mehrehe aussprachen oder neue Mehrehen anstrebten, mussten sich vor einem Disziplinarrat der Kirche verantworten. Einige derer, die ausgeschlossen wurden, schlossen sich zu unabhängigen Bewegungen zusammen und werden manchmal als Fundamentalisten bezeichnet. Diese Gruppen haben keine Verbindung zur Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und werden von ihr nicht unterstützt. Seit der Amtszeit von Joseph F. Smith haben die Präsidenten der Kirche wiederholt hervorgehoben, dass der Kirche und ihren Mitgliedern die Mehrehe nicht mehr gestattet ist, und die Aufrichtigkeit ihrer Worte damit unterstrichen, dass sie die örtlichen Führungsbeamten aufforderten, Mitglieder, die dem zuwiderhandeln, vor einen Disziplinarrat der Kirche zu laden.
Zum Abschluss
Die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau ist Gottes Norm für die Ehe, solange er nichts anderes verkündet, wie er es durch seinen Propheten Joseph Smith getan hat. Mit dem Manifest begann die Rückkehr zur Monogamie, die heutzutage in der Kirche der Maßstab ist.52 Nicht lang nach der Veröffentlichung des Manifests beschrieb Präsident George Q. Cannon in einer Ansprache bei der Generalkonferenz, wie das Manifest durch Offenbarung herbeigeführt worden war: „Die Mitglieder der Präsidentschaft der Kirche müssen genauso ihre Füße benutzen, wie Sie es tun“, sagte er. „Genau wie Sie müssen sie einen Schritt vor den anderen setzen. Sie müssen sich auf die Offenbarungen Gottes verlassen, wie sie an sie ergehen. Sie sehen das Ende nicht von Anfang an, so wie es der Herr tut.“ „Alles, was wir tun können“, so Cannon über die Erste Präsidentschaft, „ist, dass wir uns bemühen, die Absicht und den Willen des Herrn zu erfahren. Wenn uns dies dann kundgetan wird, widerspricht es vielleicht allem, was wir bisher gedacht haben, aber wir haben keine andere Wahl, als den Schritt zu gehen, den Gott uns aufzeigt, und auf ihn zu vertrauen.“53