Das Buch Mormon und die DNS-Forschung


Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage bekräftigt, dass das Buch Mormon heilige Schrift ist, der Bibel vergleichbar. Es enthält einen Bericht über Gottes Umgang mit drei Gruppen von Menschen, die vom Nahen Osten oder Kleinasien aus nach Amerika auszogen, mehrere hundert Jahre bevor die Europäer dort eintrafen.1

Obwohl der Hauptzweck des Buches Mormon eher geistiger als geschichtlicher Natur ist, fragt sich mancher, ob die in ihm beschriebenen Wanderungsbewegungen mit Forschungsergebnissen zum alten Amerika übereinstimmen. Die Debatte konzentriert sich dabei auf die Bevölkerungsgenetik und Fortschritte in der DNS-Forschung. Es wird behauptet, dass die im Buch Mormon erwähnten Wanderungsbewegungen nicht stattgefunden haben können, weil große Teile der DNS, die bisher bei Nachfahren der amerikanischen Ureinwohner bestimmt wurde, vor allem Ähnlichkeiten zu der bei der ostasiatischen Bevölkerung nachgewiesenen DNS aufweisen.2

Um den Grundlagen der Bevölkerungsgenetik gerecht zu werden, empfiehlt sich jedoch eine zurückhaltendere Interpretation dieser Daten. Wie in der Wissenschaft üblich, sind auch die Ergebnisse der Genetik vorläufig. Es ist noch viel zu tun, bis der Mensch die Ursprünge der Ureinwohner des amerikanischen Kontinents vollständig erfasst hat. Über die DNS der Völker im Buch Mormon ist nichts bekannt, aber selbst wenn ihr genetisches Profil bekannt wäre, gäbe es dennoch fundierte wissenschaftliche Argumente, weshalb es vielleicht nicht nachzuweisen ist. Aus denselben Gründen sind die Argumente, die einige Verteidiger des Buches Mormon auf Grundlage der DNS-Forschung vorbringen, ebenso spekulativ. Kurz gesagt, die Ergebnisse der DNS-Forschung sind nicht geeignet, eine eindeutige Aussage für oder gegen die historische Glaubwürdigkeit des Buches Mormon zu treffen.

Die Vorfahren der Indianer und der Indios

Die bislang gesammelten Beweise deuten darauf hin, dass die Mehrheit der amerikanischen Ureinwohner hauptsächlich DNS asiatischen Ursprungs in sich trägt.3 Wissenschaftler vermuten, dass in einer Zeit, die den Berichten im Buch Mormon vorausging, eine relativ kleine Gruppe von Menschen aus dem Nordosten Asiens über eine Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska auf den amerikanischen Kontinent gelangte.4 Diese Menschen breiteten sich den Annahmen zufolge rasch über Nord- und Südamerika aus und waren wahrscheinlich die ursprünglichen Vorfahren der heutigen Indianer und Indios.5

Das Buch Mormon enthält nur verschwindend geringe Hinweise auf kulturelle Kontakte zwischen den Völkern, die darin beschrieben werden, und anderen Völkern, die in der Nähe gelebt haben mögen. Daher gingen in den Anfangstagen der Kirche die meisten ihrer Mitglieder davon aus, dass Bewohner des Nahen Ostens und Kleinasiens – wie Jared, Lehi, Mulek und deren Begleiter – die ersten, größten oder sogar einzigen Volksgruppen waren, die den amerikanischen Kontinent besiedelten. Auf Basis dieser Annahme behaupten Kritiker beharrlich, dass das Buch Mormon die Gegenwart anderer großer Völker auf dem amerikanischen Kontinent nicht zuließe und deshalb in der DNS der heutigen Nachfahren der amerikanischen Ureinwohner sehr einfach Ähnlichkeiten zur DNS der im Nahen Osten lebenden Menschen nachzuweisen sein müssten.

Im Buch Mormon wird jedoch nirgendwo behauptet, dass die Völker, die darin beschrieben werden, die vorherrschende Bevölkerungsgruppe oder die einzigen Bewohner des von ihnen bewohnten Landes gewesen seien. In der Tat gibt es im Text kulturelle und demografische Hinweise auf das Vorhandensein anderer Gruppen.6 Bei der Frühjahrsgeneralkonferenz 1929 hob Präsident Anthony W. Ivins von der Ersten Präsidentschaft warnend hervor: „Wir müssen hinsichtlich der Schlussfolgerungen, die wir ziehen, sehr vorsichtig sein. Im Buch Mormon … steht nicht, dass vor [den Völkern, die darin beschrieben werden,] niemand hier lebte. Es steht auch nicht darin, dass nach ihnen keine anderen Menschen mehr hierherkamen.“7

Joseph Smith scheint der Vorstellung gegenüber offen gewesen zu sein, dass es neben den im Buch Mormon beschriebenen Wanderungsbewegungen noch weitere gegeben hat8. Im vorigen Jahrhundert haben etliche Führer der Kirche und Wissenschaftler unter den Heiligen der Letzten Tage festgestellt, dass der Bericht im Buch Mormon mit der Existenz anderer Bevölkerungsgruppen voll und ganz vereinbar ist.9 In der 2006 vorgenommenen Aktualisierung der Einführung zum Buch Mormon spiegelt sich diese Erkenntnis wider. Es wird darauf verwiesen, dass die Völker im Buch Mormon „zu den Vorfahren der Indianer und Indios“ gehörten.10

Es gibt keine Informationen über Mischehen oder genetische Vermischung zwischen den Völkern des Buches Mormon oder ihren Nachkommen und anderen Bewohnern des alten Amerika, aber offenbar hat auch in dem Zeitraum, der vom Text des Buches abgedeckt wird, eine gewisse Vermischung stattgefunden.11 Es scheint auch einleuchtend, dass die DNS der Völker im Buch Mormon eher nur einen Bruchteil der gesamten DNS im alten Amerika darstellte. Wer die DNS dieser Völker in der heutigen Zeit aufspüren und aufschlüsseln möchte, erwartet vielleicht mehr von der Bevölkerungsgenetik, als diese leisten kann.

Die genetischen Beweise verstehen

Der folgenden Überblick über die Grundprinzipien der Genetik soll deutlich machen, wie anhand der DNS Bevölkerungsgruppen aus vergangenen Zeiten wissenschaftlich erforscht werden. Er lässt erkennen, wie problematisch es ist, aus der genetischen Forschung Rückschlüsse auf das Buch Mormon zu ziehen.

Die DNS – die Anleitung für den Aufbau und Erhalt des Lebens – ist im Kern fast jeder menschlichen Zelle zu finden. Sie verteilt sich auf 46 Bausteine, die Chromosomen genannt werden, von denen jeweils 23 vom Vater und 23 von der Mutter stammen. Diese Chromosomen enthalten etwa 3,2 Milliarden Anweisungen. Der genetische Aufbau zweier beliebiger Menschen ist zu etwa 99,9 Prozent gleich. Für die gewaltigen Unterschiede zwischen den Menschen sind tausende minimale Abweichungen verantwortlich.

Genetische Veränderungen entstehen durch das, was Genetiker zufällige Mutation nennen. Mutationen sind Fehler, die auftreten, wenn bei der Bildung von Keimzellen die DNS kopiert wird. Da diese Mutationen von einer Generation an die andere weitergegeben werden, sammeln sie sich im Laufe der Zeit an, sodass einzigartige genetische Profile entstehen. Das Vererbungsmuster der ersten 22 Chromosomenpaare (die sogenannten Autosomen) ist durch ein ständiges Mischen gekennzeichnet: Die Hälfte der DNS des Vaters wird mit der Hälfte der DNS der Mutter kombiniert und bildet so die DNS ihrer Kinder. Das 23. Chromosomenpaar bestimmt das Geschlecht eines Kindes (XY bei einem Jungen, XX bei einem Mädchen). Da nur Männer das Y-Chromosom haben, erbt ein Sohn dieses Chromosom weitgehend intakt von seinem Vater.

In menschlichen Zellen gibt es jedoch auch DNS in einem Zellbaustein, der Mitochondrien genannt wird. Die mitochondriale DNS ist relativ klein – sie enthält etwa 17.000 Anweisungen – und wird weitgehend intakt von der Mutter geerbt. Die Mutter gibt ihre mitochondriale DNS an alle ihre Kinder weiter, aber nur ihre Töchter geben wiederum die mitochondriale DNS an die nächste Generation weiter.

Da die mitochondriale DNS der erste DNS-Typ war, der entschlüsselt wurde, wurde sie auch als erster DNS-Typ von Genetikern für Bevölkerungsstudien verwendet. Der technische Fortschritt ermöglicht es Genetikern mittlerweile, mit der Analyse der autosomalen DNS anspruchsvolle Untersuchungen mit Kombinationen von mehreren genetischen Markern durchzuführen.

Bevölkerungsgenetiker versuchen, Ursprung und Wanderungsbewegungen von Bevölkerungsgruppen und Beziehungen zwischen ihnen mithilfe von neuen und alten DNS-Proben zu rekonstruieren. In den verfügbaren Daten haben Wissenschaftler Kombinationen von Mutationen entdeckt, die für die Bevölkerung der verschiedenen Regionen der Welt charakteristisch sind. Einzigartige Profile der mitochondrialen DNS und des Y-Chromosoms werden mit dem Ausdruck Haplogruppe bezeichnet.12 Wissenschaftler ordnen diese Haplogruppen den Buchstaben des Alphabets zu.13

Der wissenschaftliche Konsens ist gegenwärtig, dass die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Ureinwohner zu Untergruppen der Y-Chromosom-Haplogruppen C und Q14 und den mitochondrialen DNS-Haplogruppen A, B, C, D und X gehört, die alle vorwiegend in Ostasien vorzufinden sind.15 Aber das Bild ist nicht ganz eindeutig. Fortlaufende Untersuchungen liefern neue Einsichten. Einige davon stellen frühere Schlussfolgerungen in Frage. In einer Studie aus dem Jahr 2013 heißt es zum Beispiel, dass bis zu einem Drittel der DNS der amerikanischen Ureinwohner seinen Ursprung in Europa oder Kleinasien hatte und wahrscheinlich noch vor der ersten Wanderungsbewegung auf den amerikanischen Kontinent Einzug in den Genpool fand.16 Diese Studie zeichnet ein etwas komplexeres Bild als die vorherrschende Meinung, wonach die gesamte DNS der amerikanischen Ureinwohner vor allem ostasiatischen Ursprungs ist.

Obwohl in der DNS der heutigen Ureinwohner auch für den Nahen Osten typische DNS-Marker zu finden sind, lässt sich nur schwer bestimmen, ob sie das Ergebnis von Wanderungsbewegungen sind, die vor Kolumbus stattfanden – wie die im Buch Mormon beschriebenen –, oder ob sie von der genetischen Vermischung herrühren, die nach der Eroberung durch die Europäer erfolgte. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die „molekulare Uhr“, die Wissenschaftler verwenden, um das Erscheinen von genetischen Markern zu datieren, nicht immer genau genug ist, um den Zeitpunkt von Wanderungsbewegungen zu bestimmen, die erst vor ein paar hundert oder sogar ein paar tausend Jahren stattfanden.17

Es ist wissenschaftlich nicht auszuschließen, dass es weitere, kleine Wanderungsbewegungen auf den amerikanischen Kontinent gegeben hat.18 Zum Beispiel veranlasste die Genanalyse der gut erhaltenen Überreste eines 4000 Jahre alten Paläo-Eskimos in Grönland im Jahr 2010 Wissenschaftler zu der Hypothese, dass eine weitere Gruppe von Menschen neben denjenigen aus Ostasien zum amerikanischen Kontinent gezogen sein könnte.19 Der Bevölkerungsgenetiker Marcus Feldman von der Stanford-Universität hat mit Bezug auf diese Studie gesagt: „Modelle, die eine einzige, einmalige Wanderungsbewegung nahelegen, gelten im Allgemeinen als idealisierend. … Kleinere Wanderungsbewegungen könnten über Jahrtausende hinweg stattgefunden haben.“20

Der Gründereffekt

Ein Grund, weshalb es schwierig ist, anhand von DNS-Proben eindeutige Rückschlüsse auf die Völker im Buch Mormon zu ziehen, ist der, dass nichts über die DNS bekannt ist, die Lehi, Saria, Ischmael und andere auf den amerikanischen Kontinent mitbrachten. Selbst wenn Genetiker eine Datenbank der DNS aller heute vorhandenen Gruppen von Indianern und Indios hätten, wäre es immer noch unmöglich, genau zu wissen, wonach sie suchen sollten. Es ist möglich, dass jedes Mitglied der Auswanderergruppen, die im Buch Mormon beschrieben werden, eine für den Nahen Osten typische DNS besaß, aber es ist genauso möglich, dass einige von ihnen eine DNS in sich trugen, die für andere Gegenden typisch ist. In diesem Fall wäre ihren Nachkommen ein mit Blick auf den Herkunftsort ihrer Familie unerwartetes genetisches Profil mitgegeben worden. Dieses Phänomen wird als Gründereffekt bezeichnet.

Betrachten wir einmal den Fall von Dr. Ugo A. Perego, der Mitglied der Kirche und Bevölkerungsgenetiker ist. Seiner Abstammungstafel zufolge sind seine Vorfahren seit vielen Generationen Italiener. Die DNS seiner väterlichen Linie gehört jedoch zu einem Zweig der Haplogruppe C, die für Asiaten oder amerikanische Ureinwohner typisch ist. Das bedeutet wahrscheinlich, dass an irgendeinem Punkt aufgrund einer Wanderungsbewegung von Asien nach Europa DNS in seine Abstammungslinie Einzug hielt, die für Dr. Peregos Herkunftsort untypisch ist.21 Wenn nun Dr. Perego und seine Familie eine abgelegene Landmasse besiedelten, könnten künftige Genetiker, die die Y-Chromosomen seiner Nachkommen untersuchen, den Rückschluss ziehen, dass die ersten Siedler dieser Landmasse aus Asien und nicht aus Italien stammten. Diese hypothetische Geschichte zeigt, dass Schlussfolgerungen über die Genetik einer Bevölkerung auf eindeutigen Informationen über die DNS der Gründer dieser Bevölkerung beruhen müssen. Im Falle des Buches Mormon sind solch eindeutige Informationen nicht verfügbar.

Genetischer Flaschenhals und Gendrift

Die Schwierigkeiten hören jedoch nicht beim Gründereffekt auf. Auch wenn mit hoher Gewissheit bekannt wäre, dass die im Buch Mormon beschriebenen Auswanderer eine DNS besaßen, die als typisch für den Nahen Osten betrachtet werden könnte, ist es durchaus möglich, dass ihre DNS-Marker die folgenden Jahrhunderte nicht überlebten. Den Wissenschaftlern sind sehr wohl Ursachen bekannt, die zum Verlust genetischer Marker führen können oder aufgrund derer der Nachweis dieser Marker fast unmöglich ist. Zu diesen Ursachen zählen der genetische Flaschenhals und die Gendrift.

Der genetische Flaschenhals

Der genetische Flaschenhals beschreibt einen Verlust genetischer Vielfalt, der entsteht, wenn aufgrund einer Naturkatastrophe, einer Krankheitsepidemie, eines verheerenden Krieges oder anderer Katastrophen ein Großteil der Bevölkerung ums Leben kommt. Solche Ereignisse können das Vorkommen einzelner genetischer Profile erheblich reduzieren oder sie sogar vollständig auslöschen. In einem solchen Fall kann die Bevölkerung im Laufe der Zeit durch Mutationen genetische Vielfalt zurückgewinnen, aber ein großer Teil der früheren Vielfalt bleibt unwiederbringlich verloren.

Darstellung des genetischen Flaschenhalses

Darstellung des genetischen Flaschenhalses. Aufgrund des drastischen Bevölkerungsrückgangs gehen einige genetische Profile, die hier als gelbe, orangefarbene, grüne oder lilafarbene Kreise dargestellt sind, verloren. Die nachfolgenden Generationen erben nur die DNS der Überlebenden.

Zusätzlich zu dem verheerenden Krieg am Ende des Buches Mormon war die Eroberung des alten Amerikas durch die Europäer im 15. und 16. Jahrhundert der Auslöser solch einer Kette von katastrophalen Ereignissen. Infolge von Krieg und der Ausbreitung von Krankheiten erlebten viele Gruppen der Ureinwohner Amerikas verheerende Bevölkerungsverluste.22 Wie ein Molekularanthropologe festgestellt hat, wurde durch die Eroberung „die gesamte Bevölkerung der Indianer und Indios durch einen genetischen Flaschenhals gezwängt“. Er kam zu dem Schluss: „Dieser Bevölkerungsrückgang hat die Genetik der überlebenden Gruppen für immer verändert, wodurch jeder Versuch erschwert wird, die präkolumbische genetische Struktur der meisten Gruppen in der Neuen Welt zu rekonstruieren.“23

Die Gendrift

Die Gendrift bezeichnet den allmählichen Verlust genetischer Marker, der aufgrund zufälliger Ereignisse in kleinen Bevölkerungsgruppen erfolgt. Um dieses Konzept zu erklären, wird oft ein einfaches Beispiel verwendet:

Füllen Sie ein Glas mit zwanzig Murmeln – zehn davon rot, zehn davon blau. Das Glas stellt die Bevölkerung dar und die Murmeln stehen für Menschen mit unterschiedlichem genetischen Profil. Nehmen Sie nach dem Zufallsprinzip eine Murmel aus der Menge der Bevölkerung, notieren Sie ihre Farbe und legen Sie sie zurück in das Glas. Jede Ziehung steht für die Geburt eines Kindes. Führen Sie zwanzig Ziehungen durch, um eine neue Generation innerhalb der Bevölkerung zu simulieren. Die zweite Generation könnte für jede Farbe die gleiche Zahl aufweisen, aber es ist wahrscheinlicher, dass beide Farben nun eine ungleiche Zahl haben.

Bevor Sie die dritte Generation ziehen, passen Sie das Verhältnis jeder Farbe im Glas an, um die neue Mischung der genetischen Profile im Genpool wiederzugeben. Wenn Sie mit den Ziehungen fortfahren, wird die jetzt ungleichmäßige Verteilung zu einer immer häufigeren Ziehung der an Zahl überwiegenden Farbe führen. Über mehrere Generationen führt diese „Drift“ in Richtung einer Farbe fast unausweichlich zum Verschwinden der anderen.

Darstellung der Gendrift

Darstellung der Gendrift mit farbigen Murmeln

Diese Übung stellt das Vererbungsmuster des Erbguts im Verlauf mehrerer Generationen dar und zeigt, wie die Drift zum Verlust genetischer Profile führen kann. Die Driftwirkung ist besonders ausgeprägt in kleinen, abgeschiedenen Bevölkerungen und in Fällen, in denen sich eine kleine Gruppe mit einem eigenen genetischen Profil mit einer wesentlich größeren Bevölkerung anderer Abstammung vermischt.

Die Ergebnisse einer Studie in Island, bei der Genproben mit genealogischen Daten kombiniert wurden, belegen, dass die Mehrheit der heute in diesem Land lebenden Menschen ihre mitochondriale DNS von einem nur kleinen Prozentsatz der Menschen geerbt hat, die dort vor gerade einmal 300 Jahren lebten.24 Die mitochondriale DNS der Mehrheit der damals lebenden Isländer hat die Zufallseffekte der Drift einfach nicht überstanden. Es ist durchaus möglich, dass ein Großteil der DNS der Völker im Buch Mormon aus dem gleichen Grund nicht überlebt hat.

Die Gendrift wirkt sich insbesondere auf die mitochondriale DNS und die DNS des Y-Chromosoms aus, aber sie führt auch zum Verlust der Vielfalt an autosomaler DNS. Wenn sich eine kleine Bevölkerungsgruppe mit einer großen vermischt, werden die für die kleinere Gruppe typischen Kombinationen autosomaler Marker schnell von denen der größeren Gruppe überrollt. Die Marker der kleineren Gruppe kommen dann sehr bald nur noch selten in der gemischten Bevölkerung vor und sterben möglicherweise aufgrund der oben beschriebenen Effekte der Gendrift und des genetischen Flaschenhalses aus. Darüber hinaus produziert das Mischen und Umkombinieren der autosomalen DNS von Generation zu Generation neue Kombinationen von Markern, in denen das vorherrschende genetische Signal aus der größeren Ursprungsbevölkerung stammt. Dadurch können die Kombinationen von Markern, die für die kleinere Gruppe charakteristisch sind, so weit verwässert werden, dass sie sich nicht mehr zuverlässig identifizieren lassen.

Die Verfasser eines 2008 im American Journal of Physical Anthropology erschienenen Artikels fassen die Auswirkung dieser Kräfte kurz und bündig zusammen: „Die Gendrift hatte bedeutenden Einfluss [auf die Genetik der amerikanischen Ureinwohner]. Sie veränderte zusammen mit dem großen Bevölkerungsrückgang nach dem Kontakt mit den Europäern die Häufigkeit, in der Haplogruppen vorkommen, und führte auch zum Verlust vieler Haplotypen.“25 Genetische Profile können vollständig verlorengehen und Kombination, die einmal existiert haben, können so stark verwässert werden, dass sie nur noch schwer zu erkennen sind. Auf diese Weise können Teile einer Bevölkerung tatsächlich genealogisch mit einzelnen Personen oder Gruppen verwandt sein, auch wenn ihre DNS nicht als von diesen Vorfahren stammend identifiziert werden kann. Mit anderen Worten: An den heute lebenden Indianern und Indios lässt sich mithilfe der DNS möglicherweise nicht bestätigen, dass die Völker des Buches Mormon zu ihren Vorfahren gehören.26

Zum Abschluss

Auch wenn Kritiker und Verteidiger des Buches Mormon die DNS-Forschung gerne dafür verwenden möchten, ihre Ansichten zu untermauern, ist die Beweislage schlichtweg nicht eindeutig. Über die DNS der Völker im Buch Mormon ist nichts bekannt. Selbst wenn diese Informationen bekannt wären, ist es aufgrund von Prozessen wie dem genetischen Flaschenhals und der Gendrift unwahrscheinlich, dass ihre DNS noch aufzuspüren ist. Elder Dallin H. Oaks vom Kollegium der Zwölf Apostel hat dazu gesagt: „Wir vertreten den Standpunkt, dass weltliche Beweise die Echtheit des Buches Mormon weder beweisen noch widerlegen können.“27

Für die Berichtsführer des Buches Mormon war es in erster Linie wichtig, religiöse Wahrheiten zu vermitteln und das geistige Erbe ihres Volkes zu bewahren. Sie beteten dafür, dass ihr Bericht trotz der prophezeiten Zerstörung ihres Volkes bewahrt bleiben und eines Tages dazu beitragen möge, das Wissen von der Fülle des Evangeliums Jesu Christi wiederherzustellen. Ihre Verheißung an alle, die das Buch „mit aufrichtigem Herzen, mit wirklichem Vorsatz … und Glauben an Christus“ lesen, besteht darin, dass Gott ihnen „durch die Macht des Heiligen Geistes kundtun [wird], dass es wahr ist“.28 Für unzählige Menschen, die die Echtheit des Buches Mormon auf diese Weise geprüft haben, ist es eine heilige Schrift, die sie Jesus Christus näherzubringen vermag.

Quellen und Anmerkungen

  1. Siehe „Einleitung zum Buch Mormon“
  2. In diesem Artikel werden die Indianer und Indios in Nord- und Südamerika auch als Ureinwohner Amerikas oder amerikanische Ureinwohner bezeichnet. Mehr über den Zusammenhang zwischen der DNS-Forschung und dem Buch Mormon finden Sie in: Ugo A. Perego, „The Book of Mormon and the Origin of Native Americans from a Maternally Inherited DNA Standpoint“, Robert L. Millet, Hg., No Weapon Shall Prosper: New Light on Sensitive Issues, 2011, Seite 171–216; Michael F. Whiting, „DNA and the Book of Mormon: A Phylogenetic Perspective“, Journal of Book of Mormon Studies 12, Nr. 1, 2003, Seite 24–35; Daniel C. Peterson, Hg., The Book of Mormon and DNA Research, 2008.
  3. Antonio Torroni et al., „Asian Affinities and Continental Radiation of the Four Founding Native American mtDNAs“, American Journal of Human Genetics 53, 1993, Seite 563–590; Alessandro Achilli et al., „The Phylogeny of the Four Pan-American MtDNA Haplogroups: Implications for Evolutionary and Disease Studies“, PLoS ONE 3, Nr. 3, März 2008, e1764
  4. Ugo A. Perego et al., „Distinctive Paleo-Indian Migration Routes from Beringia Marked by Two Rare mtDNA Haplogroups“, Current Biology 19, 2009, Seite 1–8
  5. Martin Bodner et al., „Rapid Coastal Spread of First Americans: Novel Insights from South America’s Southern Cone Mitochondrial Genomes“, Genome Research 22, 2012, Seite 811–820
  6. John L. Sorenson, „When Lehi’s Party Arrived in the Land, Did They Find Others There?“, Journal of Book of Mormon Studies 1, Nr. 1, Herbst 1992, Seite 1–34. Diese Argumente wurden erst kürzlich zusammengefasst in: John L. Sorenson, Mormon’s Codex: An Ancient American Book, 2013. Sorenson weist darauf hin, dass es aufgrund von Anhaltspunkten im Text des Buches „zwangsläufig während des gesamten Zeitraums, der durch den nephitischen Bericht abgedeckt wird, und wahrscheinlich auch während des jareditischen Zeitalters im ‚verheißenen Land‘ Bevölkerungsgruppen von beachtlicher Größe gegeben haben muss“ („When Lehi’s Party Arrived“, Seite 34).
  7. Anthony W. Ivins, Frühjahrs-Generalkonferenz 1929
  8. „Facts Are Stubborn Things“, Times and Seasons 3, 15. September 1842, Seite 922. Dieser Artikel wurde ohne Nennung des Autors, aber mit Joseph Smith als Herausgeber veröffentlicht. Siehe auch Hugh Nibley, Lehi in the Desert, The World of the Jaredites, There Were Jaredites, 1988, Seite 250
  9. Eine Übersicht von Aussagen zu diesem Thema finden Sie in: Matthew Roper, „Nephi’s Neighbors: Book of Mormon Peoples and Pre-Columbian Populations“, FARMS Review 15, Nr. 2, 2003, Seite 91–128
  10. Introduction to the Book of Mormon. Die Einleitung, die nicht zum Text des Buches Mormon gehört, enthielt früher die Aussage, dass die Lamaniten die „Hauptvorfahren der amerikanischen Indianer“ seien. Aber auch diese Aussage, die erstmals im Jahr 1981 veröffentlicht wurde, setzt die Gegenwart anderer Bevölkerungsgruppen voraus (siehe „Introduction to the Book of Mormon“ in der Fassung von 1981).
  11. Sorenson, „When Lehi’s Party Arrived“, Seite 5–12
  12. Peter A. Underhill und Toomas Kivisild, „Use of Y Chromosome and Mitochondrial DNA Population Structure in Tracing Human Migrations“, Annual Review of Genetics 41, 2007, Seite 539–564
  13. Die Haplogruppen werden nach einer systematischen Nomenklatur aus sich abwechselnden Buchstaben und Zahlen benannt. Siehe International Society of Genetic Genealogy, „Y-DNA Haplogroup Tree 2014“; Mannis van Oven und Manfred Kayser M., „Updated Comprehensive Phylogenetic Tree of Global Human Mitochondrial DNA Variation“, Human Mutation 30, 2009, Seite E386–E394
  14. Vincenza Battaglia et al., „The First Peopling of South America: New Evidence from Y-Chromosome Haplogroup Q“, PLoS ONE 8, Nr. 8, August 2013, e71390
  15. Ugo A. Perego et al., „The Initial Peopling of the Americas: A Growing Number of Founding Mitochondrial Genomes from Beringia“, Genome Research 20, 2010, Seite1174–1179
  16. Maanasa Raghavan et al., „Upper Palaeolithic Siberian Genome Reveals Dual Ancestry of Native Americans“, Nature, 20. November 2013
  17. Diese „Uhr“ basiert auf der beobachteten Häufigkeit, in der zufällige Mutationen in der DNS im Laufe der Zeit auftreten. Ein Vorschlag für eine molekulare Uhr der mitochondrialen DNS findet sich zum Beispiel in Pedro Soares et al., „Correcting for Purifying Selection: An Improved Human Mitochondrial Molecular Clock“, American Journal of Human Genetics 84, 2009, Seite 740–759
  18. Alessandro Achilli et al., „Reconciling Migration Models to the Americas with the Variation of North American Native Mitogenomes“, Proceedings of the National Academy of Sciences 110, Nr. 35, 2013, Seite 14308–14313
  19. Morten Rasmussen et al., „Ancient Human Genome Sequence of an Extinct Palaeo-Eskimo“, Nature, 11. Februar 2010, Seite 757–762. Zwischen dieser hypothetischen Wanderungsbewegung und den frühen Wanderungsbewegungen auf den amerikanischen Kontinent lägen etwa 200 Generationen.
  20. Zitiert in Cassandra Brooks, „First Ancient Human Sequenced“, Scientist, 10. Februar 2010, www.thescientist.com/blog/display/57140. Michael H. Crawford, Molekularanthropologe an der University of Kansas, hat angemerkt, dass „die Beweislage die Möglichkeit einiger begrenzter kultureller Kontakte zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen der amerikanischen Ureinwohner und Seefahrern aus Asien oder Ozeanien nicht ausschließt“ (Michael H. Crawford, The Origins of Native Americans: Evidence from Anthropological Genetics, 1998, Seite 4).
  21. Perego, „Origin of Native Americans“, Seite 186f.
  22. Die Bevölkerung der Ureinwohner verzeichnete einen Rückgang um bis zu 95 Prozent. Siehe David S. Jones, „Virgin Soils Revisited“, William and Mary Quarterly, Third Series, Band 60, Nr. 4, Oktober 2003, Seite 703–742
  23. Crawford, Origins of Native Americans, Seite 49ff., 239ff., 260f.
  24. Agnar Helgason et al., „A Populationwide Coalescent Analysis of Icelandic Matrilineal and Patrilineal Genealogies: Evidence for a Faster Evolutionary Rate of mtDNA Lineages than Y Chromosomes“, American Journal of Human Genetics 72, 2003, Seite1370–1388
  25. Beth Alison Schultz Shook und David Glenn Smith, „Using Ancient MtDNA to Reconstruct the Population History of Northeastern North America“, American Journal of Physical Anthropology 137, 2008, Seite 14
  26. Siehe „How Many Genetic Ancestors Do I Have?“, Co-op Lab, Population and Evolutionary Genetics, UC Davis
  27. Dallin H. Oaks, „The Historicity of the Book of Mormon“, in: Paul Y. Hoskisson, Hg., Historicity and the Latter-day Saint Scriptures, 2001, Seite 239
  28. Moroni 10:4

Die Kirche ist den Wissenschaftlern, auf deren Arbeit in diesem Artikel Bezug genommen wird, sehr dankbar; ihre Arbeit wird mit Erlaubnis verwendet.