Weihnachtsandachten
13holland


Träume in der Nacht

Weihnachtsandacht der Ersten Präsidentschaft 2020

Sonntag, 6. Dezember 2020

Die Natur hätte die Szenerie nicht friedlicher gestalten können. Es war einer der ersten Frühlingstage und die Nacht brach an. Der Himmel war sternenklar, und von diesen Sternen sah man erst ein paar, dann ein paar hundert und zum Schluss ein paar tausend. Die Hirten auf dem Felde konnten sich von der Hitze des Tages erholen und von ihrer redlichen Arbeit ausruhen. Das einzig Ungewöhnliche – und doch erstaunlich Schöne – an dieser Hirtenszene war in einem Stall an einem Hügel nahe einer Ortschaft zu sehen, wo zwei menschliche Gestalten sich aneinandergeschmiegt über ein Kindlein in einer Krippe beugten. Nur ein paar Nutztiere waren Zeuge des Wunders, das da geschehen war.

Diese drei hatten im überlaufenen Betlehem weder einen Freund noch einen aufnahmebereiten Wirt angetroffen. Da war zunächst eine schöne Jungfrau, eine junge Mutter namens Maria (den damaligen Gebräuchen nach zu schließen wahrscheinlich gerade mal ein Teenager), deren Mut und bemerkenswerter Glaube zu dem Eindrucksvollsten zählen, was in den heiligen Schriften niedergeschrieben ist. Dann war da ihr Mann namens Josef, älter als seine junge Frau, aber laut Beschreibung wohl der würdigste Mann auf Erden, wenn er ein Kind aufziehen konnte, das nicht sein eigenes war, sondern mit der Zeit Josefs geistiger Vater werden sollte. Und drittens und letztens und am schönsten von allen war da das Baby, das Jesus heißen sollte. Es lag in Windeln gewickelt auf dem saubersten Stroh, das der besorgte Vater zusammentragen konnte.

Das Paradoxe an diesem so beschaulichen, unscheinbaren Bild lag in der Tatsache, dass noch nie ein Kind zur Welt gekommen war, über das schon so viel bekannt war, über das schon so viel geschrieben worden war und auf dem bereits so viele Erwartungen ruhten. Ja, das Wissen darüber, wer und was er war, war schon in den Weiten des Himmels bekannt, noch ehe auch nur ein Mensch geboren worden war! Als Erstgeborenem des Vaters1 in der Geisterwelt war es ihm bestimmt, der Erretter der Welt zu sein,2 vorherordiniert „seit der Erschaffung der Welt [als das Lamm], das geschlachtet wurde“3. Später, aber noch immer vor seiner Geburt, sollte er der große Jehova des Alten Testaments sein, der Noach half, seine Familie vor der Flut zu bewahren,4 und der Josef beistand, seine Familie vor der Hungersnot zu retten.5 Er war der herrschaftliche Jehova, der Namen erhalten sollte wie „Wunderbar, Ratgeber, Mächtiger Gott, Immerwährender Vater, Fürst des Friedens“6. Er war das Alpha und das Omega7 im großen Plan der Barmherzigkeit und sollte eines Tages den Armen frohe Botschaft bringen, diejenigen heilen, die gebrochenen Herzens sind, den Gefangenen Freilassung ausrufen und die Gefesselten befreien.8

Zu diesem Zweck sollte er ganz allein, einsam und verlassen, die Weinkelter der Erlösung treten. Kein irdischer Gefährte würde ihm dabei helfen, und kein himmlischer Gefährte würde es können. Indem er all die Sünden und Sorgen des Erdendaseins ertrug, sollte er der gesamten Menschheit – von Adam an bis zum Ende der Welt – die unfassbare Gabe der Errettung bringen. Auf seinem gesamten Weg sollte er der Hirte und Hüter unserer Seelen sein,9 der „Hohepriester unseres Bekenntnisses“10, die sprudelnde „Quelle aller Rechtschaffenheit“11. All diese Aufgaben und Ansprüche an sein irdisches Dasein waren noch zu erfüllen. Doch nicht an diesem Abend. Nicht in dieser Nacht. Da war er einfach nur ein Baby in den Armen seiner Mutter, die ihn über alles liebte, und das ein zärtlicher und starker Vater behütete.

Schon bald kamen die Hirten, die den niedrigsten Berufsstand auf Erden darstellten, die Ärmsten unter den Menschen. Später kamen auch Könige, weise Männer aus dem Morgenland, Sinnbild der stolzesten Errungenschaften auf der Welt, die Reichsten unter den Menschen. Im wahrsten Sinne über all dem erschienen Engel und sangen: „Ehre sei Gott in der Höhe“12 – eine wahre Heerschar himmlischer Wesen, die dieses Kindlein priesen, das endlich auf die Erde gekommen war. Engel hatten ja schon jahrhundertelang den Weg zu dieser Krippe begleitet. Vor nicht allzu langer Zeit war ein Engel zu Maria gekommen und hatte ihr die herrliche Kunde gebracht, wozu sie ausersehen worden war und wer sie sein sollte.13 Ein Engel war auch zu Josef gekommen und hatte ihn darin bestärkt, diese junge Frau zu heiraten, die auf wundersame Weise bereits ein Kind erwartete. Dieser Aufforderung hatte er sich sofort und voller Glauben gebeugt.14 Nach der Geburt sagte ein Engel dem jungen Paar, es solle fliehen, ja, vor dem Kindermord des Herodes (diese kleinen Kinder waren die ersten Märtyrer im Neuen Testament), und derselbe Engel sagte dem Paar auch, dass es aus Ägypten wieder heimkehren könne und sich dann im fernen Nazaret und nicht etwa in Betlehem oder gar Jerusalem niederlassen solle.15 Offenbar wussten die Engel im Himmel weit mehr als die Sterblichen auf Erden darüber, was diese Geburt zu bedeuten hatte und welche Aufgabe dieses Kind hatte – nämlich unsere Krankheit zu tragen und unsere Schmerzen auf sich zu laden, wegen unserer Vergehen durchbohrt und wegen unserer Sünden zermalmt zu werden sowie klarzustellen, dass die Züchtigung zu unserem Heil auf ihm lag und wir durch seine Wunden geheilt werden würden.16

Ich persönlich finde es bezeichnend, dass all dies nachts geschah – zu der Tageszeit, wenn die Muskeln erschlaffen und man der Müdigkeit nachgibt, wenn man betet, wenn man Offenbarung erwartet und die Nähe göttlicher Wesen am wahrscheinlichsten ist. Einmal im Jahr bekommen Kinder nachts vor lauter Aufregung und Vorfreude kaum ein Auge zu, weil sie wissen, dass morgen Weihnachten ist. Doch wie schwer ein Tag auch gewesen sein mag – die schönsten Träume in der Nacht können alles wieder ins Lot bringen. Wie Elder Parley P. Pratt einst schrieb:

„Gott hat viele wichtige Anleitungen … mithilfe von Träumen offenbart. … Da werden die Nerven [dann] freigelegt, die gesamte sterbliche Menschheit liegt sanft in stillem [Schlummer und] die geistigen Organe haben regen Austausch mit der Gottheit, [mit] den Engeln und [mit] den Geistern der Gerechten, die vervollkommnet wurden.“17

Und so vereinten sich in dieser Nacht voll ehrfurchtsvollem Staunen in den Träumen von Betlehem wahrhaftig die Hoffnungen und Befürchtungen aller vorangegangenen Jahre.18

In jener Nacht in Judäa einst

sah man einen neuen Stern aufgehen.

Ein Blinder war davon im Schlaf berührt

und träumte, er könne sehen.

In jener Nacht erscholl den Hirten

der Klang von Engelschören.

Ein Tauber war im Schlaf berührt

und träumte, er könne hören.

In jener Nacht schien für Mutter und Kind

die Zeit fast stillzustehen.

Ein Krüppel streckte die lahmen Glieder aus

und träumte, er könne gehen.

In jener Nacht beugte sich Maria

über ihr neues Kindelein.

Ein verachteter Aussätziger lächelte im Schlaf

und träumte, er sei rein.

In jener Nacht ruhte das Kind an Mutters Brust,

der kleine König war von Liebe umgeben.

Eine Dirne lag glücklich schlafend da

und träumte, ihr sei vergeben.

In jener Nacht dort in der Krippe lag

der Geheiligte, der später für uns starb.

Ein Mann rührte sich im Schlaf des Todes

und träumte, es gebe kein Grab.19

Diese Träume von Betlehem lasse ich als mein Weihnachtsgeschenk bei Ihnen und tue dies im Namen des Kindes, das all diese Träume wahr werden lässt, ja, im Namen des Herrn Jesus Christus. Amen.

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