Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar
Andacht für junge Erwachsene in aller Welt • 11. September 2022 • Tabernakel in Salt Lake City
Elder Dale G. Renlund: Danke. Wir sind hier im historischen Tabernakel in Salt Lake City versammelt, doch unser Publikum ist über die ganze Welt verstreut. In den heiligen Schriften fordert der Herr uns immer wieder auf, etwas im Gedächtnis zu bewahren. An unser gemeinsames Vermächtnis des Glaubens, der Hingabe und der Ausdauer zu denken, erweitert unseren Blick und gibt uns Kraft, uns den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen.
Dem Wunsch, daran zu denken, „wie barmherzig der Herr zu den Menschenkindern gewesen ist“1, entsprang die vierbändige Reihe Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, wovon drei Bände bereits veröffentlicht wurden. In dieser historischen Schilderung sind auch Erlebnisse treuer Heiliger der Letzten Tage aus früheren Tagen zu finden. Wir haben das Beispiel von Menschen vor uns, die wirklich gelebt haben, die das Evangelium Jesu Christi geliebt und Bündnisse geschlossen haben und auf dem Weg der Bündnisse vorwärtsgegangen sind, um unseren Erretter Jesus Christus erkennen zu können.
Schwester Ruth L. Renlund: Gern wollen wir jetzt den Fokus auf die wahren Begebenheiten richten, die zwischenzeitlich im dritten Band der Reihe, nämlich Heilige: Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, zu lesen sind. In diesem Band ist die Geschichte der Kirche von der Weihung des Salt-Lake-Tempels im Jahr 1893 bis zur Weihung des Bern-Tempels in der Schweiz im Jahr 1955 aufgezeichnet. In dieser Zeitspanne zeigt sich das Prinzip der fortlaufenden Offenbarung in der Kirche, die sowohl durch die Propheten des Herrn als auch an einzelne Mitglieder ergeht. Durch Band 3 der Reihe Heilige können wir unsere Geschichte, die mit ihr verbundenen Menschen und unseren Erretter besser verstehen.
Elder Renlund: In jener Zeit schlossen sich alle vier meiner Großeltern der Kirche an. Meine Eltern wanderten nach Salt Lake City aus, denn sie hatten das Versprechen gegeben, im Tempel zu heiraten, und 1950 gab es keinen Tempel in Europa. Sie beide erhielten das Endowment im Salt-Lake-Tempel, wobei die Unterweisung auf Englisch erfolgte, sodass sie kaum etwas verstanden. Sie wurden getraut und gesiegelt und fühlten sich unendlich gesegnet. Ihre Entscheidung, alles zu tun, was nötig war, um im Tempel gesiegelt zu werden, hat auch mein Leben für immer geprägt.
Band 3 der Reihe Heilige ist unser Erbe – ob wir nun, wie meine Frau, von Pionieren aus der Anfangszeit der Kirche abstammen oder, wie ich, von späteren Pionieren oder ob wir, wie manche von euch, selbst ein Pionier im Glauben sind. Am weiteren Verlauf der Geschichte der Kirche habt ihr einen wichtigen Anteil. Wir danken euch für alles, womit ihr auf dem Fundament des Glaubens aufbaut, das ihr und eure Vorfahren gelegt habt. „Möge dieser Band [der Reihe Heilige euer] Verständnis der Vergangenheit vergrößern, [euren] Glauben festigen und [euch] darin bestärken, die Bündnisse, die zur Erhöhung und zum ewigen Leben führen, zu schließen und zu halten.“2
Schwester Renlund: Ich freue mich darauf, Begebenheiten aus Band 3 aufzugreifen. Fangen wir also an!
Elder Renlund: Beginnen wir mit einem Beispiel für die fortdauernde Wiederherstellung der Kirche. Präsident Russell M. Nelson betont häufig, dass die Wiederherstellung „ein Vorgang [ist], kein einmaliges Ereignis; sie wird fortdauern, bis der Herr wiederkehrt.“3 Gut anschaulich wird dies daran, was Präsident Joseph F. Smith kurz vor Ende seines Lebens erlebte.
1918 war Präsident Smith bei schlechter Gesundheit. Wahrscheinlich wusste er, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Der Tod schien ihn zu umringen. Zunächst wurde sein ältester Sohn Hyrum krank und starb an einem Blinddarmdurchbruch. Präsident Smith schilderte seinen Kummer in seinem Tagebuch: „Meine Seele ist zerrissen. … Oh! Gott, hilf mir!“4 Präsident Smiths Trauer wurde noch größer, als Hyrums hinterbliebene Ehefrau Ida kurze Zeit später an Herzversagen starb.
Zudem las er entsetzliche Berichte über den tobenden Weltkrieg. 20 Millionen Soldaten und Zivilisten starben im Ersten Weltkrieg. Damit nicht genug: Auf der ganzen Welt fielen Menschen einem tödlichen Grippevirus zum Opfer. Mindestens 50 Millionen Menschen verloren das Leben, was unsägliches Leid und viel Kummer über all die betroffenen Familien brachte. Präsident Smith trauerte angesichts der vielen Verstorbenen, zudem war er bereits seit fünf Monaten ans Bett gefesselt. Da kann man wohl sagen, dass der Tod den Propheten sehr beschäftigte.
Hier habe ich eine Bibel, die Präsident Smith gehörte. Vielleicht las er in dieser oder auch in einer ähnlichen und öffnete so einer wegweisenden Offenbarung die Tür.
Schwester Renlund: Am 3. Oktober 1918 saß er in seinem Zimmer im Beehive House, nur eine Straßenecke von hier entfernt, und „dachte über das Sühnopfer Jesu Christi und die Erlösung der Welt nach. Er schlug [den ersten Petrusbrief] auf und las, wie der Erretter den Geistern in der Geisterwelt gepredigt hatte. … Der Geist des Herrn [kam auf Präsident Smith herab] und seinem Verständnis [gingen] die Augen [auf].“ Er sah in die Geisterwelt, wo unzählige „rechtschaffene Frauen und Männer, die vor dem irdischen Wirken des Erretters gestorben waren, … freudig auf seine Ankunft [warteten] und dass er ihnen Befreiung von den Banden des Todes verkünde.
Der Erretter erschien … und die rechtschaffenen Geister freuten sich[.] Sie knieten vor ihm nieder und nannten ihn ihren Erlöser und Befreier vom Tod und von den Ketten der Hölle.
[Präsident Smith verstand auch,] dass der Erretter nicht persönlich zu den ungehorsamen Geistern ging. Aus den rechtschaffenen Geistern stellte er seine Kräfte zusammen … und beauftragte sie, die Botschaft des Evangeliums zu den Geistern in der Finsternis zu tragen. Somit konnten alle Menschen, die in Übertretung oder ohne Kenntnis der Wahrheit gestorben waren, etwas über den Glauben an Gott, die Umkehr, die stellvertretende Taufe zur Sündenvergebung, die Gabe des Heiligen Geistes und alle anderen unverzichtbaren Grundsätze des Evangeliums lernen.“
Elder Renlund: „Dem Propheten wurde in der Folge klar, dass die treuen [Heiligen] dieser Evangeliumszeit ihre Arbeit im nächsten Leben fortsetzten, indem sie den Geistern, die sich in Finsternis und unter der Knechtschaft der Sünde befanden, das Evangelium verkündigten.“ Er schrieb: „Die Toten, die umkehren, werden erlöst werden, indem sie die Verordnungen des Hauses Gottes beachten[,] und sobald sie die Strafe für ihre Übertretungen bezahlt haben und reingewaschen sind, werden sie gemäß ihren Werken einen Lohn empfangen, denn sie sind Erben der Errettung.“
Schwester Renlund: „Am nächsten Morgen überraschte er die Heiligen damit, dass er trotz seines schlechten Gesundheitszustands an der … Herbst-Generalkonferenz teilnahm. Er war entschlossen, zu den Anwesenden zu sprechen, stand aber wackelig am Pult [in diesem Gebäude hier], während sein großer Körper vor Anstrengung zitterte. … Da ihm die Kraft fehlte, über seine Vision zu sprechen, ohne von Gefühlen übermannt zu werden, sprach er nur ansatzweise davon. ‚Ich habe die letzten fünf Monate nicht allein verbracht‘, sagte er den Anwesenden. ‚Ich verweilte im Geist des Gebets, des Flehens, des Glaubens und der Entschlossenheit; und ich hatte fortwährend Verbindung mit dem Geist des Herrn. Ich bin glücklich, heute Morgen bei euch zu sein‘, sagte er. ‚Möge der allmächtige Gott euch segnen!‘“5
Nach der Generalkonferenz diktierte Präsident Smith die Offenbarung seinem Sohn Joseph Fielding Smith. Dies ist ein Exemplar, das er unterzeichnete und der Ersten Präsidentschaft und dem Kollegium der Zwölf Apostel vorlegte. Sie lasen die Vision und stimmten dem Inhalt in vollem Umfang zu.6 Die Vision wurde später als Abschnitt 138 in das Buch Lehre und Bündnisse aufgenommen. Wir wissen jetzt, dass diejenigen, die sich auf der anderen Seite des Schleiers zum Jenseits befinden, Gott am Herzen liegen. Ihm ist an ihrer Erlösung gelegen. Die „Toten“ sind eben nicht tot. Diese Erkenntnis hat uns die fortdauernde Wiederherstellung gebracht, was uns Trost und Klarheit in Bezug auf die nächste Welt schenkt.
Elder Renlund: In vielerlei Hinsicht erfordert persönliche Offenbarung das gleiche Vorgehen. Das heißt für mich: Ich muss ein Problem fokussiert betrachten. Ich muss es durcharbeiten und darüber nachdenken. Ich muss verschiedene Lösungen ausformulieren. Nur dann, so scheint es mir, kann persönliche Offenbarung zuverlässig erfolgen. Oft erhalte ich Offenbarung in Form von kurzen, knappen Anweisungen wie „Geh!“, „Tu!“ oder „Sag!“.
Schwester Renlund: So ist es auch bei mir. Nachdem ich nachgedacht, studiert und gebetet habe, kommen mir oft Gedanken oder Ideen in den Sinn, von denen ich weiß, dass sie nicht von mir stammen. Es gibt mir immer wieder Mut, dass Gott mich sieht und mich durch den Heiligen Geist dazu anregt, Gutes zu tun.
Elder Renlund: Oft geht eine Offenbarung damit einher, dass etwas ganz Konkretes benötigt wird. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür trug sich bei der Frühjahrs-Generalkonferenz 1894 zu. Präsident Wilford Woodruff eröffnete seinen Ratgebern sowie dem Kollegium der Zwölf Apostel, dass er eine Offenbarung erhalten habe, was die Siegelung im Tempel betraf. Er verkündete: „Der Herr hat mir gesagt, dass es richtig ist, dass Kinder an ihre Eltern gesiegelt werden und diese wiederum an deren Eltern – so weit zurück, wie wir eben mit unseren Aufzeichnungen kommen können.“7 Diese Offenbarung erfolgte mehr als 50 Jahre, nachdem Elija im Kirtland-Tempel die Siegelungsvollmacht wiederhergestellt hatte.
Schwester Renlund: Am Sonntag jener Generalkonferenz im Jahr 1894 erklärte Präsident Woodruff: „‚Wir sind noch nicht am Ende der Offenbarungen angelangt. … Wir sind noch nicht am Ende des Werkes Gottes angelangt.‘ Er sprach davon, wie Brigham Young das Werk, das Joseph Smith begonnen hatte, fortgeführt habe, nämlich Tempel zu erbauen und darin heilige Handlungen zu vollziehen. ‚Und dennoch hat Brigham Young nicht alle Offenbarungen erhalten, die zu diesem Werk gehören‘, ließ Präsident Woodruff die Versammelten wissen, ‚genauso wenig wie Präsident Taylor oder Wilford Woodruff. Dieses Werk wird erst dann ein Ende haben, wenn es gänzlich vollendet ist.‘“8
Seit der Zeit in Nauvoo hatten die Mitglieder Taufen für verstorbene Angehörige ihrer Familie durchgeführt. Doch wie wichtig es ist, an die eigenen Vorfahren gesiegelt zu werden, war bis dahin noch nicht offenbart worden. Präsident Woodruff erklärte: „Wir möchten, dass die Heiligen der Letzten Tage von jetzt an ihre Abstammung so weit wie möglich zurückverfolgen und sich an Vater und Mutter siegeln lassen. … Siegelt die Kinder an ihre Eltern und schließt die Kette so weit, wie es euch möglich ist.“9
Präsident Woodruff „erinnerte die Heiligen an die Vision, die Joseph Smith im Kirtland-Tempel von seinem Bruder Alvin gehabt hatte. ‚Alle, die gestorben sind, ohne von diesem Evangelium zu wissen, die es aber angenommen hätten, wenn sie hätten verweilen dürfen, … werden Erben des celestialen Reiches Gottes sein.‘
‚So wird es auch mit euren Vätern sein‘, sagte Präsident Woodruff über diejenigen in der Geisterwelt. ‚Es wird, wenn überhaupt, nur sehr wenige geben, die das Evangelium nicht annehmen.‘
Am Ende seiner Predigt forderte er die Heiligen auf, … nach ihren verstorbenen Verwandten zu suchen. ‚Brüder und Schwestern‘, so sagte er, ‚arbeiten wir weiter an unseren Aufzeichnungen, führen wir sie in Rechtschaffenheit vor dem Herrn, und setzen wir diesen Grundsatz in die Tat um, dann werden die Segnungen Gottes auf uns ruhen und diejenigen, die erlöst worden sind, werden uns eines künftigen Tages preisen.‘“10 Diese Offenbarung war der Grund, weshalb die Mitglieder häufig zum Tempel zurückkehrten, nämlich um als Stellvertreter für ihre verstorbenen Vorfahren heilige Handlungen und Ordinierungen durchzuführen. Seit jener Zeit führten die Familien zudem sorgfältig Buch über die heiligen Handlungen und inwieweit diese durchgeführt worden waren. Hier ist so ein Buch, in dem eingetragen ist, welche Arbeit für Mitglieder der Familie von Jens Peter und Marie Dame verrichtet wurde.
Elder Renlund: Heutzutage ist für uns die Lehre von der Siegelung über Generationen hinweg etwas ganz Normales, aber es bedurfte einer Offenbarung des Herrn, um die Siegelung von Familien korrekt zu organisieren. Diese Offenbarung hatte unmittelbare Auswirkungen auf meine Vorfahren auf der weit entfernten Insel Larsmo direkt vor der Westküste Finnlands. Die folgende Geschichte ist nicht im dritten Band der Reihe Heilige zu finden, aber sie wird in meiner Familie wie ein Schatz bewahrt. Im Jahr 1912 hörten meine Großeltern väterlicherseits, Lena Sofia und Matts Leander Renlund, Missionaren aus Schweden zu, die das wiederhergestellte Evangelium verkündeten. Tags darauf ließen sich Lena Sofia und Leander taufen. Sie fanden Freude an ihrem neuen Glauben und an der Zugehörigkeit zu einem kleinen Zweig, dem ersten in Finnland. Doch leider nahm das Schicksal der beiden eine Wendung, als eine Katastrophe über sie hereinbrach.
1917 starb Leander an Tuberkulose. Zurück blieb Lena Sofia, die gerade mit ihrem zehnten Kind schwanger und nun Witwe war. Dieses Kind – mein Vater – kam zwei Monate nach Leanders Tod zur Welt. Weitere Familienangehörige starben an Tuberkulose. Lena trug schließlich nicht nur Leander, sondern auch sieben ihrer zehn Kinder zu Grabe. Sie war eine arme Bauersfrau und es war für sie unglaublich schwierig, den Rest der Familie zusammenzuhalten.
Fast 20 Jahre lang konnte sie nachts nicht durchschlafen. Sie arbeitete als Tagelöhnerin, um etwas Essen auf den Tisch zu bekommen. Nachts pflegte sie Angehörige, die im Sterben lagen. Man kann sich kaum vorstellen, wie Lena Sofia damit zurechtkommen musste.
Ich habe Lena Sofia einmal im Dezember 1963 getroffen. Ich war 11 und sie 87. Sie war von einem Leben harter Arbeit schwer gebeugt. Ihr Gesicht und ihre Hände waren vom Wetter gegerbt, zäh und rau wie altes Leder. Bei unserer Begegnung zeigte sie auf ein Bild von Leander an und sagte auf Schwedisch zu mir: „Det här är min gubbe.“ „Das ist mein lieber Mann.“
Ich dachte, sie hätte fälschlicherweise die Gegenwartsform des Verbs verwendet. Da Leander bereits seit 46 Jahren tot war, wies ich meine Mutter auf diesen offensichtlichen Fehler hin. Doch meine Mutter meinte nur: „Das verstehst du nicht.“ Ich hatte es wirklich nicht verstanden. Lena Sofia wusste, dass ihr längst verstorbener Mann für immer und ewig zu ihr gehörte und gehören wird. Durch die Lehre von der ewigen Familie war Leander in ihrem Leben stets präsent und Teil ihrer großen Hoffnung für die Zukunft.
Vor der Weihung des Helsinki-Tempels im Jahr 2006 erkundigte sich meine Schwester, welche heiligen Handlungen für die Linie unseres Vaters noch vollzogen werden mussten. Was sie entdeckte, ist eine hellleuchtende Bestätigung für Lena Sofias Glauben an die Siegelungsvollmacht: Lena Sofia hatte die Familienunterlagen für ihre verstorbenen Kinder, die zum Zeitpunkt ihres Todes acht Jahre oder älter gewesen waren, eingereicht, sodass die Tempelarbeit 1938 durchgeführt werden konnte. Diese heiligen Handlungen gehörten zu den ersten, die aus Finnland beim Tempel eingereicht wurden.
Lena kam mit all ihren Schicksalsschlägen und Schwierigkeiten zurecht, indem sie sich die Lehre von der Erlösung vor Augen hielt. Sie betrachtete es als große Gnade Gottes, dass sie noch vor diesen schrecklichen Ereignissen erfahren hatte, dass die Familie ewig ist. Ein Zeichen für ihre tief verwurzelte Bekehrung zum wiederhergestellten Evangelium Jesu Christi war das, was sie alles in familiengeschichtlicher Hinsicht tat – eine Arbeit, die durch Joseph Smith, Wilford Woodruff und Joseph F. Smith offenbart worden war. Sie war wie diejenigen, die „im Glauben … gestorben [sind] und … die Verheißungen nicht erlangt, sondern sie nur von fern geschaut und gegrüßt [haben]“11.
Schwester Renlund: Da sich die Wiederherstellung immer weiter fortsetzt, können wir uns auf noch mehr freuen. Vor weniger als einem Jahr hat Präsident Nelson gesagt: „Die derzeitigen Anpassungen bei den Abläufen im Tempel sowie künftige sind ein fortwährender Beweis dafür, dass der Herr seine Kirche aktiv führt. Er bietet jedem von uns die Gelegenheit, unser geistiges Fundament noch besser zu verstärken, indem wir unser Leben auf ihn und auf die heiligen Handlungen und Bündnisse seines Tempels ausrichten.“12 Präsident Nelson hat erklärt, dass diese Anpassungen „auf Weisung des Herrn und als Antwort auf unsere Gebete“ vorgenommen wurden, weil der Herr möchte, „dass [wir] glasklar und genau verstehen, was [wir] im Rahmen [unserer] Bündnisse zu tun versprechen“. Auch sollen wir unsere „Rechte, Verheißungen und Pflichten begreifen“ und „geistige Einblicke und Erkenntnisse erhalten.“13
Manchmal kommen Offenbarungen genau dann, wann wir sie brauchen. Dies geschah bei einem weiteren Beispiel für die fortdauernde Wiederherstellung, und zwar als Lorenzo Snow Präsident der Kirche war. 1898 befand sich die Kirche in einer schwierigen finanziellen Lage. Auf dem Höhepunkt seiner Kampagne gegen die Polygamie hatte der Kongress der Vereinigten Staaten die Beschlagnahmung von Kircheneigentum genehmigt. Aus Sorge, die Regierung werde ihre Spenden beschlagnahmen, hatten damals viele Heilige aufgehört, den Zehnten zu zahlen, wodurch sich die Haupteinkommensquelle der Kirche drastisch reduziert hatte. Die Kirche nahm Geld auf, damit sie genügend Mittel sicherstellen konnte, um das Werk des Herrn weiter voranzubringen. Sogar für die Kosten der Fertigstellung des Salt-Lake-Tempels nahm die Kirche ein Darlehen auf. Die finanzielle Lage der Kirche lastete schwer auf den Schultern des 85-jährigen Propheten.14
„Eines Morgens Anfang Mai saß Präsident Snow im Bett, als sein Sohn LeRoi das Zimmer betrat. … Der Prophet sagte ihm zur Begrüßung: ‚Ich fahre nach St. George.‘
LeRoi war überrascht. St. George lag … fast fünfhundert Kilometer von Salt Lake City entfernt.“ Um dorthin zu gelangen, musste man erst den Zug nach Süden ins 320 Kilometer entfernte Milford nehmen und dann knapp 170 Kilometer mit der Pferdekutsche zurücklegen – eine beschwerliche Reise für einen alten Mann. Dennoch machten sie sich auf den langen, anstrengenden Weg. Als sie staubig und müde ankamen, fragte der Pfahlpräsident dort, „weshalb sie denn eigentlich gekommen seien. ‚Ehrlich gesagt‘, erwiderte Präsident Snow, ‚weiß ich das nicht, aber der Heilige Geist hat uns wissen lassen, dass wir kommen sollen.‘
Am nächsten Tag, dem 17. Mai, kam der Prophet im Tabernakel von St. George, einem roten Sandsteinbau einige Straßen nordwestlich des Tempels, mit den Heiligen zusammen.“ Präsident Snow erhob sich, um zu den Mitgliedern zu sprechen, und sagte: „Einen Grund dafür, weshalb wir überhaupt gekommen sind, können wir nicht nennen[,] doch ich nehme an, der Herr wird uns etwas zu sagen haben.“
Elder Renlund: „Mitten in der Predigt hielt Präsident Snow unerwartet inne. Im Raum wurde es mucksmäuschenstill. Seine Augen glänzten, und sein Gesicht schien zu leuchten. Als er wieder den Mund öffnete, klang seine Stimme kraftvoller. Göttliche Inspiration schien den Raum zu erfüllen. Dann sprach er über den Zehnten. … Er beklagte, dass viele … Heilige nicht ihren vollen Zehnten zahlten … ‚Dies ist eine unerlässliche Vorbereitung auf Zion‘, merkte er an.“
Am nächsten Nachmittag erklärte Präsident Snow: „Jetzt ist die Zeit gekommen[,] dass jeder Heilige der Letzten Tage, der sich auf die Zukunft vorbereiten und auf festem Grund stehen will, den Willen des Herrn tun und den vollen Zehnten zahlen muss. Dies ist das Wort des Herrn an euch, und es wird als Wort des Herrn an jede Siedlung im ganzen Land Zion ergehen.“
Später sagte Präsident Snow: „‚Wir befinden uns in einem furchtbaren Zustand, und genau deswegen ist die Kirche auch in Knechtschaft. Die einzige Lösung besteht darin, dass die Heiligen dieses Gesetz befolgen.‘ Er forderte [die Mitglieder] auf, das Gesetz zur Gänze zu befolgen, und verhieß ihnen, dass der Herr sie dafür segnen werde. Er erklärte auch, dass das Zahlen des Zehnten ab nun auch eine unumstößliche Voraussetzung für den Tempelbesuch darstelle.“15
Schwester Renlund: Seitdem können viele bezeugen, dass der Herr seine reichsten Segnungen über diejenigen ausgießt, die bereit sind, dieses einfache Gesetz zu befolgen. Bruder Alois Cziep war Präsident des Zweiges Wien in Österreich. In diesem schlichten Kästchen bewahrte er den Zehnten und andere Unterlagen des Zweiges auf. Während der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg war dies der erste Gegenstand, den Präsident Cziep und seine Familie immer in Sicherheit brachten – noch vor ihrem persönlichen Hab und Gut.
Manche haben auch bezeugt, dass es durchaus eine Herausforderung war, das Gesetz anzunehmen, sie dann aber bemerkenswerte Segnungen erlangten.
Für so ein Beispiel steht, was Familie Yanagida aus Japan erlebte. 1948 entsandte die Erste Präsidentschaft wieder Missionare nach Japan. Als Toshiko Yanagida ihrem Vater Fragen zum Thema Religion stellte, redete er ihr zu, doch einen Gottesdienst der Heiligen der Letzten Tage zu besuchen. Er hatte sich 1915 der Kirche angeschlossen.
Schwester Yanagida traf sich mit den Missionaren, bekehrte sich und ließ sich im August 1949, im Beisein ihres Vaters, taufen. Kurze Zeit später suchte ihr Mann die Missionare auf, und derselbe Missionar, der Schwester Yanagida unterwiesen hatte, taufte ihn.16
Elder Renlund: Die Yanagidas taten sich schwer damit, den Zehnten zu zahlen. Sie „verdiente[n] nicht viel. Manchmal hatten sie kaum genug Geld, um das Schulessen für ihren Sohn zu bezahlen. Ihr großer Traum war es, ein Haus kaufen zu können. Nach einer Versammlung sprach [Schwester Yanagida] mit einem Missionar über den Zehnten. ‚Wir Japaner sind jetzt nach dem Krieg sehr arm‘, erklärte sie. ‚Der Zehnte ist hart für uns. Müssen wir ihn denn zahlen?‘
Der Missionar erwiderte, dass Gott allen Menschen geboten habe, den Zehnten zu zahlen. Er sprach auch von den Segnungen, die sich aus dem Befolgen dieses Grundsatzes ergeben. [Schwester Yanagida] war skeptisch – und auch ein bisschen verärgert. ‚So eine Denkweise ist doch typisch amerikanisch‘, dachte sie sich. …
Eine Missionarin versicherte [Schwester Yanagida], dass das Zahlen des Zehnten ihrer Familie helfen werde, ihr Ziel zu erreichen und zu einem eigenen Haus zu kommen. [Bruder und Schwester Yanagida] wollten gehorsam sein. Sie beschlossen, ihren Zehnten zu zahlen und darauf zu vertrauen, dass sie dafür gesegnet werden.
[Sie] erlebten [jene Segnungen] mehr und mehr … Sie kauften ein günstiges Grundstück in der Stadt und entwarfen Pläne für ein Haus. Ein neues Regierungsprogramm versetzte sie in die Lage, einen Kredit aufzunehmen. Kaum hatten sie die Baugenehmigung erhalten, begannen sie mit dem Fundament.
Alles lief gut – bis ein Bauinspektor feststellte, dass das Grundstück für die Feuerwehr unzugänglich war. ‚Dieses Grundstück ist für den Bau eines Hauses ungeeignet‘, beschied er. ‚Sie dürfen den Bau nicht fortsetzen.‘
Unsicher, was sie tun sollten, sprachen [Bruder und Schwester Yanagida] mit den Missionaren. ‚Wir sechs werden für Sie fasten und beten‘, sagte ein Missionar. ‚Bitte tun Sie dasselbe.‘ Die nächsten zwei Tagen fasteten und beteten die Yanagidas gemeinsam mit den Missionaren. Kurz darauf begutachtete ein weiterer Inspektor das Grundstück. [Er] machte den Yanagidas anfangs wenig Hoffnung. Doch als er sich das Gelände ansah, entdeckte er eine Lösung. Die Feuerwehr konnte im Notfall das Grundstück erreichen, indem sie einfach einen nahegelegenen Zaun entfernte. Familie Yanagida konnte ihr Haus also doch bauen!
‚Ich vermute, Sie beide haben in der Vergangenheit etwas außergewöhnlich Gutes getan‘, sagte der Inspektor zu ihnen. ‚In meiner gesamten Dienstzeit hatte ich noch nie das Gefühl, jemandem entgegenkommen zu müssen.‘ [Bruder und Schwester Yanagida] waren überglücklich. Sie hatten gefastet, gebetet und den Zehnten gezahlt. Es war gekommen, wie die [bemerkenswerte] Missionarin gesagt hatte: Sie sollten nun bald ihr eigenes Haus bekommen.“17
Mitglieder in aller Welt haben ähnliche Erfahrungen gemacht, als sie ihren Zehnten gezahlt haben. Der Herr segnet die Treuen und Gehorsamen seines Volkes. Und weil der Zehnte treu gezahlt wird, können auf der ganzen Welt Tempel gebaut werden.
Schwester Renlund: Ich kann bezeugen, dass wir selbst schon unscheinbare und dennoch bedeutende Segnungen empfangen haben, weil wir das Gesetz des Zehnten leben. Manchmal sind die Segnungen nicht das, was wir erwarten, und können leicht übersehen werden. Aber sie stellen sich ein. Das haben wir schon selbst erlebt.18
Eine weitere meiner Lieblingsgeschichten in der Reihe Heilige ist die, wie erstmals Schwestern als Vollzeitmissionarinnen berufen wurden. Ende der 1890er Jahre kursierten in England Gerüchte, dass die Frauen in der Kirche Jesu Christi naiv und leicht hinters Licht zu führen wären und nicht selbstständig denken könnten. Dann kamen Elizabeth McCune, ein Mitglied der Kirche aus Salt Lake City, und ihre Tochter für einen längeren Besuch nach London.
Als sie an einer Konferenz der Kirche in London teilnahmen, war Elizabeth überrascht, als „in der Versammlung am Vormittag … Joseph McMurrin, Ratgeber in der Missionspräsidentschaft, [die] wenig schmeichelhaft[en Äußerungen] über die Frauen [in der Kirche beklagte und anmerkte:] ‚Wir haben doch gerade eine Dame aus Utah bei uns. … So wollen wir doch Schwester McCune bitten, uns heute Abend von ihrem Alltag in Utah zu berichten.‘ Dann legte er noch allen Konferenzteilnehmern ans Herz, Freunde und Bekannte mitzubringen, damit sie Schwester McCune sprechen hörten. …
Zu Versammlungsbeginn war der Raum zum Bersten voll. Elizabeth sprach ein stilles Gebet und trat dann ans Pult.“ Sie sprach zu den Anwesenden über ihren Glauben und ihre Familie und bezeugte unerschrocken, dass das Evangelium wahr sei. Auch sagte sie: „‚Unsere Religion lehrt uns, dass Mann und Frau Seite an Seite stehen.‘ Am Ende der Versammlung gaben ihr gänzlich Unbekannte die Hand. Einer sagte: ‚Wenn noch mehr von Ihren Frauen hierherkämen, würde eine Menge Gutes zuwege gebracht.‘ …
Nachdem [Präsident] McMurrin erlebt hatte, welche Wirkung Elizabeths Worte auf die Zuhörer gehabt hatten, [schrieb er an den Präsidenten der Kirche]: ‚Würde man eine Anzahl kluger, intelligenter Frauen nach England auf Mission berufen, hätte das wohl vortreffliche Ergebnisse.‘“ „Die Entscheidung, Frauen als [Vollzeit-Verkündungs]missionarinnen zu berufen, war zum Teil eine Folge der Predigt von Elizabeth McCune.“19
Am 22. April 1898 legte das Schiff, auf dem sich Inez Knight und Jennie Brimhall befanden, im Hafen von Liverpool an. Sie waren die Ersten, die als Missionarinnen der Kirche eingesetzt worden waren.
Sie begleiteten Präsident McMurrin und andere Missionare in eine Stadt östlich von Liverpool. Am Abend kam eine große Menschenmenge zu einer Straßenversammlung mit den Missionaren zusammen. „Präsident McMurrin kündigte an, am nächsten Tag werde eine besondere Versammlung abgehalten werden, und lud alle ein, dort der Predigt ‚echter, lebendiger Mormonenfrauen zu lauschen‘.“20 Dies ist Inez Knights Missionstagebuch. Sie schrieb: „Am Abend sprach ich voller Furcht und Zittern, aber ich war über mich selbst überrascht.“21 Sie erkannte die Hilfe vom Himmel, die sie erhalten hatte, als sie später schrieb: „Ich sprach am Abend vor einer großen Menschenmenge, wurde aber durch die Gebete anderer Missionare gesegnet.“22 Diese „echte[n], lebendige[n] Mormonenfrauen“ machten ihre Sache gut, gingen von Tür zu Tür und gaben häufig bei Straßenversammlungen Zeugnis. Bald schlossen sich ihnen weitere Missionarinnen an, die in ganz England tätig waren.
Elder Renlund: Sister Knight und Sister Brimhall machten den Anfang. In dieser Evangeliumszeit haben schon Hunderttausende Missionarinnen im Werk Gottes gedient.23 An den Missionarinnen fällt mir unter anderem auf, dass sie erfolgreich sein können, indem sie authentisch und ganz sie selbst sind. Sie sind echte Heilige der Letzten Tage. Wie Sister Knight und Sister Brimhall sprechen sie mit den Menschen darüber, wer sie sind und warum sie an das glauben, was sie vertreten.
Der Einfluss der Missionarinnen auf die Sammlung Israels war und ist bemerkenswert. Ein junger Missionar fragte mich kürzlich in einer Fragerunde, wieso die Gemeinden in seiner Mission denn Missionarinnen bevorzugten. Meine Antwort war einfach: „Weil sich die Schwestern mit Leib und Seele dem Werk verschreiben. Die Mitglieder schätzen alle Missionare, die dies tun und alles geben.“
Die Bereitschaft von Schwestern, eine Missionsberufung anzunehmen, war und ist ein wichtiger Bestandteil der Verbreitung des Evangeliums. Bei der Frühjahrs-Generalkonferenz hat Präsident Nelson gesagt: „Wir schätzen unsere Missionarinnen und heißen sie von ganzem Herzen willkommen. Was ihr zu diesem Werk beitragt, ist großartig!“24
Schwester Renlund: Ich bin ebenfalls beeindruckt von dem Guten, das von Schwester McCune ausging. Sie war ja nicht als Missionarin berufen und eingesetzt worden, aber diese gute Schwester hat durch ihren Glauben vieles bewirkt.25
Dies führt uns zu einer anderen erstaunlichen Geschichte aus Band 3 von Heilige. Wir finden darin Beispiele für Heilige, die auch unter schwierigsten Umständen zeigten, dass sie Jünger Christi waren. Ehemalige Feinde überwanden jene Feindschaft und wurden vereint, weil sie auf Jesus Christus vertrauten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und „fünf Jahren Besatzung [durch das deutsche NS-Regime] befanden sich die Niederlande insgesamt in einem beklagenswerten Zustand. Mehr als zweihunderttausend Niederländer hatten im Krieg das Leben verloren, und hunderttausende Häuser waren beschädigt worden oder lagen in Trümmern. Viele Heilige in [den Niederlanden] empfanden Groll den Deutschen gegenüber“ – und auch untereinander, da einige Widerstand geleistet und andere mit den Besatzern zusammengearbeitet hatten. Die Entzweiung war deutlich spürbar.
Elder Renlund: „Missionspräsident Cornelius Zappey [rief] die Zweige [der Kirche] dazu auf, ihre Lebensmittelvorräte aufzustocken und zu diesem Zweck Kartoffeln anzubauen mit Saatkartoffeln, die die niederländische Regierung ausgab.“ Aufgrund dieser Aufforderung legten „Zweige in den Niederlanden … Kartoffelbeete an, wo immer sich dafür Platz fand, und so wuchsen denn Kartoffeln in Hinterhöfen, in Blumenbeeten, auf unbebauten Grundstücken und selbst am Straßenrand.
Kurz vor der Erntezeit hielt [Präsident Zappey) in Rotterdam eine Missionskonferenz ab.“ Aus Gesprächen mit dem Präsidenten der Ostdeutschen Mission war ihm bekannt, „dass auch viele Mitglieder in Deutschland kaum etwas zu essen hatten. [Präsident Zappey] wollte etwas tun, um dem Mangel abzuhelfen, und fragte daher die Führer vor Ort, ob sie bereit seien, einen Teil ihrer Kartoffeln an die Heiligen in Deutschland abzugeben.
‚Ich weiß, einige der erbittertsten Feinde, denen ihr im Krieg gegenübergestanden habt, waren die Deutschen‘, räumte er ein. ‚Aber ihnen geht es jetzt viel schlechter als euch.‘
Zunächst lehnten einige niederländische Mitglieder den Plan ab. Wieso sollten sie denn ihre Kartoffeln mit den Deutschen teilen? [Einige hatten] durch deutsche Bomben das Zuhause [verloren oder hatten zusehen müssen], wie nahe Angehörige verhungerten, weil die deutschen Besatzer ihnen alle Lebensmittel weggenommen hatten.“
Präsident Zappey bat Pieter Vlam, einen ehemaligen Kriegsgefangenen und Leiter des Zweigs der Kirche in Amsterdam, „in ganz Holland die Zweige zu besuchen und die Mitglieder aufzufordern, diesen Plan zu unterstützen“ und die Deutschen als Volk nicht mit dem Nazi-Regime gleichzusetzen. „Pieter war … ein langjähriger Führer der Kirche, dessen ungerechtfertigte Lagerhaft allseits bekannt war. Wenn die niederländischen Heiligen jemanden in der Mission liebten und ihm vertrauten, dann war es Pieter Vlam.“
Als Pieter die Zweige besuchte, kam er „immer wieder auf seine Kriegsgefangenschaft zu sprechen. ‚Das alles habe ich durchgemacht‘, bestätigte er, ‚und ihr wisst das.‘ Er drängte sie, den Deutschen zu vergeben. ‚Ich weiß, wie schwer es fällt, sie zu lieben‘, bekannte er. ‚Doch wenn dies unsere Brüder und Schwestern sind, dann müssen wir sie auch wie Brüder und Schwestern behandeln.‘“
Schwester Renlund: „Seine Worte und die anderer Zweigpräsidenten berührten das Herz der Heiligen, und bei vielen verflog der Groll, während sie nun für [ihre] deutschen [Brüder und Schwestern] Kartoffeln ernteten.“ Und nicht nur das: Auch Misstrauen und Meinungsverschiedenheiten, die unter den Mitgliedern innerhalb der Zweige bestanden hatten, begannen, sich aufzulösen. Die Mitglieder wussten, „dass sie weiterhin zusammenarbeiten und vorwärtsgehen konnten.
[Präsident Zappey] bemühte sich unterdessen, für die Kartoffellieferungen eine Transportgenehmigung nach Deutschland zu erhalten. … Als einige Beamte den Transport zu unterbinden suchten, sagte [Präsident Zappey] ganz offen zu ihnen: ‚Diese Kartoffeln gehören unserem Herrn und Heiland, und wenn es sein Wille ist, dann wird er auch dafür sorgen, dass sie nach Deutschland gelangen.‘
Zu guter Letzt kamen im November 1947 etliche niederländische Mitglieder und Missionare in Den Haag zusammen und [luden] knapp siebzig Tonnen Kartoffeln [zum Transport auf]. Bereits wenig später wurden die Kartoffeln an die Heiligen in Deutschland ausgeteilt. …
Das Kartoffelprojekt kam denn auch bald der Ersten Präsidentschaft zu Ohren. [Präsident] David O. McKay … nannte dies staunend ‚eine der größten wahrhaft christlichen Taten, die mir je zu Ohren gekommen ist‘.“26
Elder Renlund: Im Jahr darauf schickten die niederländischen Mitglieder erneut eine große Kartoffelernte an die Deutschen und fügten Hering bei, was ihre Spende noch nahrhafter machte. Einige Jahre später, 1953, überschwemmte die Nordsee große Teile der Niederlande, sodass die niederländischen Mitglieder in Not gerieten. Diesmal schickten deutsche Mitglieder Hilfsgüter in die Niederlande, um ihren Brüdern und Schwestern in dieser Zeit der Not beizustehen. Die guten Taten der niederländischen Heiligen haben jahrelang nachgewirkt und sind ein bleibendes Zeugnis für die Liebe und Nächstenliebe, die selbst zwischen Feinden möglich ist, wenn gewöhnliche Menschen zuerst Gott lieben und ihren Nächsten lieben wie sich selbst.
Ihre Vergebungsbereitschaft brachte den niederländischen Mitgliedern Heilung. Ich habe festgestellt, dass dies auch bei mir so ist. Wenn ich einen Groll hege, ist der Geist betrübt. Wenn ich wütend bin, bin ich weniger freundlich und verhalte mich anderen gegenüber weniger christlich. Diese Wahrheit wird von einer Figur in Alan Patons 1953 erschienenem Roman Too Late the Phalarope, der im Südafrika der Apartheid spielt, sehr schön ausgedrückt: „Es gibt ein hartes Gesetz[:] Wenn uns eine tiefe Verletzung zugefügt wurde, können wir uns erst dann davon erholen, wenn wir vergeben.“27
Schwester Renlund: Es gibt noch viele weitere inspirierende Begebenheiten aus der Geschichte der Kirche, die sich in der in Band 3 abgedeckten Zeit zugetragen haben – Geschichten aus allen Teilen der Welt. Vielleicht möchtet ihr ja auch etwas über William Daniels erfahren, der jahrelang in dem von Rassentrennung geprägten Kapstadt in Südafrika treu im Werk Gottes gedient hat. Obwohl er nicht zu einem Amt im Priestertum ordiniert wurde, hatte er ein loderndes Zeugnis.28
Elder Renlund: Oder Rafael Monroy und Vicente Morales in Mexiko, die für ihren Glauben den Märtyrertod starben. Und Rafaels Mutter Jesusita und seine Frau Guadalupe, die ihrer Familie und Mitbürgern trotz ständiger Bedrohungen mutig vorangingen.29
Schwester Renlund: Oder Alma Richards, der erste Heilige der Letzten Tage, der eine olympische Medaille gewann, nicht zuletzt, weil er sich entschlossen hatte, nach dem Wort der Weisheit zu leben.30
Elder Renlund: Oder Hirini Whaanga, der, unterstützt von seiner glaubenstreuen Frau Mere, als Missionar in seine Heimat Neuseeland zurückkehrte, um dort zu predigen und Namen für die Tempelarbeit zusammenzutragen.31
Schwester Renlund: Oder Helga Meiszus, die als junge Heilige der Letzten Tage unter dem Hitler-Regime trotz Schikanen durch ehemalige Freunde, Lehrer und Schulleiter ihren Glauben bewahrte.32
Elder Renlund: Oder Evelyn Hodges, die als Sozialarbeiterin bei der Frauenhilfsvereinigung angestellt war, um während der Weltwirtschaftskrise Familien zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen.33
Schwester Renlund: Wir haben keine Zeit mehr, um noch weitere Beispiele herauszugreifen, aber ihr werdet diesen dritten Band der Reihe Heilige sicher alle selbst lesen wollen.
Elder Renlund: Für mich ist das wohl passendste Kirchenlied für diese Zeit in der Geschichte der Kirche das Lied „Sehet, ihr Völker!“34, das der Chor gleich zum Abschluss dieser Andacht singt. Das Lied wurde von Louis F. Mönch geschrieben, einem gebürtigen Deutschen, der sich der Kirche anschloss, als er auf einer Reise Halt in Salt Lake City machte. Später war er in der Schweiz und in Deutschland als Missionar für die Kirche tätig. Auf Mission veröffentlichte er zahlreiche Werke in deutscher Sprache, darunter das Lied „Sehet, ihr Völker!“, das zu einem der beliebtesten Kirchenlieder der deutschsprachigen Mitglieder wurde. Es wurde in Deutschland erstmals 1890 in diesem Gesangbuch veröffentlicht. Zudem wurde das Lied in andere Sprachen übersetzt und steht auch in dem Gesangbuch, das wir heute verwenden. In der englischsprachigen Ausgabe wurde die dritte Strophe, die der Chor gleich singt, weggelassen.
Darin wird beschrieben, was die Heiligen, über die wir heute gesprochen haben, in jener Zeit taten: Sie ehrten „den wahren, ewigen Gott“. Sie taten Buße und ließen sich taufen. Sie weihten Gott „das Herz, und durch seinen Sohn“ wurde ihnen ein ewger Lohn zuteil.
Ich lege euch ans Herz, die Reihe Heilige zu lesen, um die Geschichte der Kirche kennenzulernen und nachzuvollziehen und um durch das Beispiel ihrer Mitglieder zu lernen. Die Reihe Heilige ist sehr gut recherchiert und verlässlich. Sie ist ein Zeugnis für die fortdauernde Wiederherstellung der Kirche Jesu Christi. Unsere Geschichte ist inspirierend. Diese Geschichte ist unser gemeinsames Erbe, ob wir nun von Pionieren aus der Anfangszeit der Kirche oder von späteren Pionieren abstammen oder selbst ein Pionier im Glauben sind.
Weshalb ist dies von Bedeutung? Weshalb verwenden wir so viel Zeit darauf, all diese Geschichten zu erzählen? Weil darin lebensechte Beispiele dafür zu finden sind, wie viel Kraft wir erhalten, wenn wir unseren Erretter Stück um Stück erkennen. Ich weiß, dass Jesus Christus lebt, diese Kirche leitet und über sein Bundesvolk wacht, das mit der Macht Gottes in großer Herrlichkeit ausgerüstet ist. Ich erbitte einen Segen für euch, dass ihr die Liebe des Erretters in eurem Leben spüren mögt, während ihr euch ihm und seiner Kirche naht. Im Namen Jesu Christi. Amen.