2010–2019
In Schatten und Licht – Herr, verlass mich nicht!
Herbst-Generalkonferenz 2019


In Schatten und Licht – Herr, verlass mich nicht!

Ich bezeuge, dass der Herr in Schatten und Licht bei uns ist und dass unsere „Bedrängnisse … in der Freude über Christus verschlungen“ sein können

In einem unserer gern gesungenen Kirchenlieder ist die Rede von Schatten und Licht, und dann kommt die flehentliche Bitte: „Herr, verlass mich nicht!“ Ich befand mich einmal in einem Flugzeug, das auf einen heftigen Sturm zuflog. Ich schaute aus dem Fenster und konnte unter uns eine dichte Wolkendecke sehen. Die Strahlen der untergehenden Sonne wurden von den Wolken reflektiert, wodurch sie strahlend hell leuchteten. Bald darauf durchflog das Flugzeug die schweren Wolken, sodass wir plötzlich von dichter Finsternis umschlossen waren, die uns für das intensive Licht, das wir kurz zuvor gesehen hatten, blind machte.

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Strahlen der untergehenden Sonne
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Dunkle Wolken

Schwarze Wolken können sich auch in unserem Leben bilden und uns für das Licht Gottes blind machen und sogar dazu führen, dass wir uns fragen, ob dieses Licht für uns überhaupt noch existiert. Einige dieser Wolken bestehen aus Depressionen, Angstzuständen und anderen psychischen und seelischen Krankheiten. Sie können die Art und Weise, wie wir uns selbst, andere und sogar Gott wahrnehmen, verzerren. Frauen und Männer jeden Alters und überall auf der Welt sind davon betroffen.

Gleichermaßen schädlich ist die abstumpfende Wolke der Skepsis, die den Blick derjenigen trüben kann, die keine Erfahrung mit den erwähnten Herausforderungen haben. Wie jeder Teil des Körpers unterliegt auch das Gehirn Krankheiten, Traumata und chemischem Ungleichgewicht. Wenn unsere Seele leidet, sollten wir Gott, die Menschen in unserem Umfeld, Mediziner und Therapeuten um Hilfe bitten.

„Alle Menschen – Mann und Frau – sind als Abbild Gottes erschaffen. Jeder Mensch ist ein geliebter Geistsohn oder eine geliebte Geisttochter himmlischer Eltern und hat … ein göttliches Wesen und eine göttliche Bestimmung.“ Wie unsere himmlischen Eltern und unser Erretter haben auch wir einen physischen Körper und Gefühle.

Meine lieben Schwestern, es ist normal, gelegentlich traurig zu sein oder sich Sorgen zu machen. Traurigkeit und Angst sind natürliche menschliche Gefühle. Wenn wir aber ständig traurig sind und unser Schmerz verhindert, dass wir die Liebe des himmlischen Vaters und seines Sohnes und den Einfluss des Heiligen Geistes verspüren, dann leiden wir vielleicht an Depressionen, Angstzuständen oder anderen seelischen Störungen.

Meine Tochter schrieb einmal: „Es gab eine Zeit[, da] war ich die ganze Zeit extrem traurig. Ich dachte immer, dass man sich dafür schämen müsse, wenn man traurig ist, und dass es ein Zeichen von Schwäche sei. Also behielt ich meine Traurigkeit für mich. … Ich fühlte mich völlig wertlos.“

Eine Freundin beschrieb es so: „Seit meiner frühesten Kindheit hatte ich mit Gefühlen der Hoffnungslosigkeit, Dunkelheit, Einsamkeit und Angst zu kämpfen und mit dem Gefühl, dass mit mir etwas nicht in Ordnung war. Ich tat alles, um meinen Schmerz zu verbergen, und ich versuchte immer, den Eindruck zu erwecken, dass es mir gut ging und ich stark war.“

Meine lieben Freundinnen, das kann jedem von uns passieren – vor allem, wenn wir, die wir ja an den Plan des Glücklichseins glauben, uns unnötige Lasten auferlegen, weil wir meinen, wir müssten schon jetzt vollkommen sein. Solche Gedanken können erdrückend sein. Vollkommen zu werden ist ein Vorgang, der unser ganzes Leben auf der Erde andauert und auch danach noch weitergeht und der nur durch die Gnade Jesu Christi möglich ist.

Wenn wir hingegen in Bezug auf unsere seelischen Probleme offen sind und uns eingestehen, dass wir nicht vollkommen sind, erlauben wir auch anderen, von ihren Kämpfen zu erzählen. Gemeinsam erkennen wir, dass es Hoffnung gibt und dass wir nicht allein leiden müssen.

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Hoffnung auf das Zweite Kommen

Als Jünger Jesu Christi sind wir mit Gott den Bund eingegangen, dass wir „willens [sind,] des anderen Last zu tragen“ und „mit den Trauernden zu trauern“. Dazu kann gehören, dass wir uns über seelische Krankheiten informieren, dass wir Hilfen ausfindig machen, mit denen man diese Probleme angehen kann, und dass wir uns und andere letztlich zu Christus bringen, der der größte aller Heiler ist. Selbst wenn wir nicht nachempfinden können, was ein anderer durchmacht, kann es ein wichtiger erster Schritt zu Verständnis und Heilung sein, wenn wir anerkennen, dass der Schmerz des Betreffenden real ist.

In einigen Fällen kann die Ursache für Depressionen oder Angstzustände relativ einfach festgestellt werden, in anderen ist dies vielleicht schwerer. Unser Gehirn leidet womöglich aufgrund von Stress oder extremer Müdigkeit. Manchmal kann hier Abhilfe durch eine Ernährungsumstellung, ausreichend Schlaf und Bewegung geschaffen werden. In anderen Fällen kann auch eine Therapie oder eine medikamentöse Behandlung unter der Aufsicht einer geschulten Fachkraft erforderlich sein.

Eine unbehandelte psychische oder seelische Krankheit kann zu vermehrter Isolation, Missverständnissen, kaputten Beziehungen, Selbstverletzungen und sogar Selbstmord führen. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, weil sich mein Vater vor vielen Jahren das Leben genommen hat. Sein Tod war für meine Familie und mich schockierend und herzzerreißend. Ich habe viele Jahre gebraucht, meinen Kummer zu verarbeiten, und erst vor kurzem habe ich festgestellt, dass gute Gespräche über das Thema Suizid diesen sogar verhindern können und nicht erst recht dazu führen. Ich habe jetzt mit meinen Kindern ganz offen über den Tod meines Vaters gesprochen und die Heilung erlebt, die der Erretter auf beiden Seiten des Schleiers schenken kann.

Leider distanzieren sich viele, die unter schweren Depressionen leiden, von den anderen Mitgliedern der Kirche, weil sie das Gefühl haben, dass sie nicht den vermeintlichen Erwartungen entsprechen. Wir können sie wissen und spüren lassen, dass sie wirklich zu uns gehören. Es ist wichtig zu erkennen, dass Depressionen keine Folge von Schwäche sind und in der Regel auch keine Folge von Sünde. Sie „gedeihen im Verborgenen, nehmen jedoch angesichts von Mitgefühl ab“. Gemeinsam können wir die Wolken der Isolation und des Stigmas durchbrechen, sodass die Last der Scham weggenommen wird und Wunder der Heilung geschehen können.

Während seines irdischen Wirkens heilte Jesus Christus zwar die Kranken und Bedrängten, doch jeder von ihnen musste Glauben an ihn ausüben und handeln, um Heilung von ihm zu empfangen. Einige legten lange Strecken zurück, andere streckten die Hand aus, um sein Gewand zu berühren, und wieder andere mussten zu ihm gebracht werden, damit sie geheilt werden konnten. Wenn es um Heilung geht, brauchen wir ihn dann nicht alle dringend? „Sind wir nicht alle Bettler?“

Folgen wir dem Weg des Erretters und haben wir mehr Mitgefühl, vermindern wir unsere Neigung zu urteilen und hören wir auf, die Geistigkeit anderer zu inspizieren. Liebevoll zuzuhören ist eine der größten Gaben, die wir anbieten können, und vielleicht können wir mithelfen, die schweren Wolken zu tragen oder anzuheben, die einen unserer Lieben oder unserer Freunde erdrückt, sodass der Betreffende durch unsere Liebe den Heiligen Geist wieder verspüren und das Licht wahrnehmen kann, das von Jesus Christus ausgeht.

Falls Sie beständig von einem „Nebel der Finsternis“ umgeben sind, dann wenden Sie sich dem Vater im Himmel zu. Nichts, was Sie erlebt haben, kann etwas an der ewigen Wahrheit ändern, dass Sie sein Kind sind und dass er Sie liebt. Vergessen Sie nicht, dass Christus Ihr Erretter und Erlöser und Gott Ihr Vater ist. Sie verstehen Sie. Stellen Sie sich vor, dass beide dicht bei Ihnen sind und Ihnen zuhören und ihre Unterstützung anbieten. Sie werden Sie in Ihren Bedrängnissen trösten. Tun Sie alles in Ihrer Macht Stehende und vertrauen Sie auf die sühnende Gnade des Herrn.

Ihre Kämpfe sind zwar nicht das, was Sie ausmacht, aber sie können Sie läutern. Vielleicht sind Sie aufgrund eines Stachels im Fleisch in der Lage, mehr Mitgefühl für andere zu haben. Erzählen Sie Ihre Geschichte, wenn der Heilige Geist es Ihnen eingibt, um den Schwachen beizustehen, die herabgesunkenen Hände emporzuheben und die müden Knie zu stärken.

Denjenigen unter uns, die im Moment zu kämpfen haben oder die jemanden unterstützen, der sich quält, sage ich: Lassen Sie uns bereitwillig die Gebote Gottes halten, damit wir seinen Geist immer bei uns haben können. Tun wir das Kleine und Einfache, das uns geistige Kraft gibt. Präsident Russell M. Nelson hat gesagt: „Nichts öffnet den Himmel schneller als eine Kombination aus vermehrter Reinheit, treuem Gehorsam, ernsthaftem Streben, täglichem Weiden an den Worten von Christus im Buch Mormon und einem regelmäßigen Termin, der für Tempelarbeit und Familienforschung reserviert ist.“

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Heilung durch den Erretter

Denken wir daran, dass unser Erretter, Jesus Christus, „[unsere] Schwächen auf sich [genommen hat], auf dass sein Inneres von Barmherzigkeit erfüllt sei gemäß dem Fleische, damit er … wisse, wie er [uns] beistehen könne gemäß [unseren] Schwächen“. Er kam, „um die zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, … um alle Trauernden zu trösten, [um] den Trauernden … Schmuck zu geben anstelle von Asche, Freudenöl statt Trauer, ein Gewand des Ruhms statt eines verzagten Geistes“.

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Das Zweite Kommen Christi

Ich bezeuge Ihnen, dass der Herr in Schatten und Licht bei uns ist, dass unsere „Bedrängnisse … in der Freude über Christus verschlungen“ sein können und „dass wir durch Gnade errettet werden, nach allem, was wir tun können“. Ich bezeuge, dass Jesus Christus zur Erde zurückkehren wird, „mit Heilung in seinen Flügeln“. Letztlich wird er „alle Tränen von [unseren] Augen abwischen“ und es wird keine Trauer mehr geben. Denn für alle, die „zu Christus [kommen] und … in ihm vollkommen [werden]“, wird die Sonne nicht mehr untergehen und der Mond nicht mehr abnehmen; „denn der Herr ist [unser] ewiges Licht, zu Ende sind [unsere] Tage [der] Trauer“. Im Namen Jesu Christi. Amen.