Das Sühnopfer – alles für alles
Wenn das „Alles“ des Erretters und unser „Alles“ zusammenkommen, werden nicht nur unsere Sünden vergeben; … wir werden „ihm gleich sein“.
In den letzten Jahren haben wir Heilige der Letzten Tage in höherem Maß vom Erretter, Jesus Christus, gesprochen, gesungen und Zeugnis gegeben. Es freut mich, dass wir mehr Freude daran haben.
Dadurch, dass wir mehr „von Christus [reden]“,1 tritt die Fülle des Evangeliums stärker ans Tageslicht. Beispielsweise erkennen einige unserer Bekannten nicht, in welchem Zusammenhang unsere Lehren über das Sühnopfer mit der Lehre stehen, dass wir dem Vater im Himmel ähnlicher werden. Andere meinen irrtümlicherweise, die Kirche vertrete immer mehr eine schon fast protestantisch anmutende Auffassung vom Zusammenhang zwischen Gnade und Werken. Diese Missverständnisse haben mich dazu bewegt, heute über die einzigartige, wiederhergestellte Lehre vom Sühnopfer zu sprechen.
Der Herr stellte sein Evangelium durch Joseph Smith wieder her, weil es einen Abfall vom Glauben gegeben hatte. Seit dem fünften Jahrhundert lehrt das Christentum, dass der Fall von Adam und Eva ein tragischer Fehler war. Das führte zu dem Glauben, dass die Menschen von Natur aus böse seien. Den Fall und die Natur des Menschen, aber auch den eigentlichen Sinn des Lebens so zu betrachten, ist falsch.
Der Fall war keine Katastrophe. Er war kein Fehler und kein Unfall. Er war ein beabsichtigter Teil des Plans der Errettung. Wir sind Gottes Geistkinder 2 und „unschuldig“3 an Adams Übertretung zur Erde gesandt. Dennoch sieht der Plan des Vaters vor, dass wir – als Preis, um wahre Freude verstehen zu können – in dieser gefallenen Welt der Versuchung und dem Elend ausgesetzt sind. Würden wir das Bittere nicht schmecken, könnten wir das Süße nicht erkennen.4 Wir brauchen die Erziehung und Läuterung im irdischen Dasein als „nächsten Schritt in [der] Entwicklung“, wie unser Vater zu werden.5 Aber Wachstum ist mit Wachstumsbeschwerden verbunden. Es bedeutet auch, dass wir aus unseren Fehlern lernen. Dieser anhaltende Prozess ist durch die Gnade des Erretters möglich, die uns bei und „nach allem, was wir tun können“6 zuteil wird.
Adam und Eva lernten ständig aus ihren oftmals bitteren Erfahrungen. Sie wussten, wie man sich in einer problembeladenen Familie fühlt. Denken Sie an Kain und Abel. Doch durch das Sühnopfer konnten sie aus ihren Erfahrungen lernen, ohne dadurch verdammt zu werden. Das Sühnopfer machte ihre Entscheidungen nicht ungeschehen und versetzte sie nicht zurück in die Unschuld, die sie im Garten von Eden gehabt hatten. So eine Geschichte hätte keine Handlung, und der Charakter würde dabei nicht geformt. Gottes Plan sieht Entwicklung vor – Zeile um Zeile, Schritt für Schritt, Gnade für Gnade.
Wenn es in Ihrem Leben also Probleme gibt, denken Sie nicht, bei Ihnen stimme etwas nicht. Die Auseinandersetzung mit diesen Problemen ist der wahre Sinn des Lebens. Wenn wir Gott näher kommen, zeigt er uns unsere Schwächen und macht uns durch sie klüger und stärker.7 Wenn Sie an sich also mehr Schwächen erkennen, heißt das nicht, dass Sie sich von Gott entfernen, sondern, dass Sie ihm näher kommen.
Einer der ersten Bekehrten aus Australien hat gesagt: „Mein früheres Leben glich einem Beet voller Unkraut, in dem kaum eine Blume blühte. [Aber] jetzt … ist das Unkraut weg und Blumen blühen auf.“8
Wir wachsen auf zweierlei Weise: Wir entfernen das Schlechte, nämlich das Unkraut, und züchten das Gute, nämlich die Blumen. Für beides schenkt uns der Herr seine Gnade – sofern wir unser Teil tun. Zunächst müssen wir immer wieder das Unkraut der Sünden und falschen Entscheidungen jäten. Es reicht nicht, das Unkraut einfach zu mähen. Reißen Sie es mitsamt der Wurzel aus und üben Sie vollständig Umkehr, um die Bedingungen der Barmherzigkeit zu erfüllen. Doch Vergebung erlangen ist nur ein Teil unseres Wachstums. Wir bezahlen nicht nur eine Schuld. Wir wollen ein celestiales Wesen werden. Haben wir einmal unser Herz gereinigt, müssen wir ständig den Samen göttlicher Eigenschaften säen, pflegen und nähren. Wenn wir uns dann sehr anstrengen und Disziplin üben, um seine Gaben zu empfangen, erblühen „Gnadenblumen“9 – etwa Hoffnung und Sanftmut. Sogar ein Baum des Lebens kann im Garten des Herzens Wurzeln schlagen und so süße Frucht hervorbringen, dass all unsere Lasten „durch die Freude an seinem Sohn“10 leichter werden. Und wenn die Blume der Nächstenliebe hier erblüht, lieben wir unseren Nächsten so, wie Christus es tut.11
Wir brauchen Gnade für beides – um das Unkraut der Sünde zu entfernen und um göttliche Blumen zu züchten. Beides können wir allein nicht vollständig schaffen. Aber die Gnade hat ihren Preis. Sie ist sehr teuer, eigentlich unbezahlbar. Wie viel kostet nun diese Gnade? Reicht es aus, einfach „an Christus zu glauben“? Der Mann, der die wertvolle Perle fand, gab dafür „alles, was er besaß“.12 Wenn wir „alles …, was [der] Vater hat“,13 haben wollen, fordert Gott alles, was wir haben. Für einen solch großen Schatz müssen wir – wie auch immer das bei uns aussehen mag – ein Opfer bringen wie Christus, nämlich alles: „Wie außerordentlich, das weißt du nicht, ja, wie schwer zu ertragen, das weißt du nicht.“14 Paulus sagt: „Wenn wir mit ihm leiden“, sind wir Miterben Christi.15 Sein ganzes Herz – unser ganzes Herz.
Was für eine Perle kann einen solchen Preis wert sein – für ihn und für uns? Diese Erde ist nicht unser Zuhause. Wir sind fort von zu Hause, in der Schule, und versuchen, die Lektionen des „großen Plans des Glücklichseins“16 zu lernen, damit wir zurückkehren können und erkennen, was es bedeutet, dort zu sein. Immer wieder sagt uns der Herr, weshalb der Plan unser und auch sein Opfer wert ist. Eva sprach von der „Freude unserer Erlösung“,17 Jakob vom „Glücklichsein, das für die Heiligen bereitet ist“.18 Zu diesem Plan müssen notwendigerweise viele Dornen und Tränen gehören – seine und unsere. Da wir aber ganz und gar aufeinander angewiesen sind, schenkt das allein uns schon „unfassbare Freude“,19 wenn wir mit ihm eins sind und wir allen Widerstand überwinden.
Das Sühnopfer Christi ist der Dreh- und Angelpunkt des Plans. Ohne sein so teures Opfer könnten wir nicht nach Hause zurück, nicht mit ihm zusammen sein, nicht so sein wie er. Er gab uns alles, was er hatte. „Wie groß ist [daher] seine Freude“,20 wenn nur einer von uns es versteht und wenn wir unseren Blick vom Unkraut abwenden und auf den Sohn richten.
Nur im wiederhergestellten Evangelium ist diese Wahrheit vollständig vorhanden! Doch der Böse veranstaltet gerade eines der größten Tarnmanöver der Geschichte: Er will den Menschen weismachen, dass diese Kirche am wenigsten darüber weiß, wie unsere Beziehung zu Christus wahre Christen aus uns macht – dabei weiß sie jedoch am meisten darüber.
Wenn wir alles geben müssen, was wir haben, reicht es also nicht, wenn wir beinahe alles geben. Wenn wir beinahe die Gebote halten, empfangen wir beinahe die Segnungen. Einige junge Menschen meinen beispielsweise, sie könnten sich im Schlamm der Sünde suhlen und sich dann kurz vor dem Interview für die Mission oder den Tempel unter die Dusche der Umkehr stellen. Manche planen die Umkehr schon ein, wenn sie noch im Begriff sind, eine Übertretung zu begehen. Sie verhöhnen die Gabe der Barmherzigkeit, die bei wahrer Umkehr in Kraft tritt.
Einige wollen sich mit einer Hand am Tempel festhalten und gleichzeitig mit der anderen den Schmutz21 der Welt berühren. Um überleben zu können, müssen wir uns mit beiden Händen am Tempel festhalten. Eine Hand ist nicht einmal beinahe genug.
Der reiche junge Mann hatte fast alles gegeben. Als der Erretter ihm sagte, er müsse seinen gesamten Besitz verkaufen, meinte er nicht nur sein Hab und Gut.22 Wir können das ewige Leben erlangen, wenn wir wollen, aber nur, wenn es nichts gibt, was wir uns noch mehr wünschen.
Wir müssen also bereitwillig alles geben, denn Gott kann uns nicht gegen unseren Willen und ohne unser uneingeschränktes Zutun wachsen lassen. Selbst wenn wir uns völlig verausgaben, fehlt uns doch die Macht, vollkommen zu werden. Das kann nur Gott hinzufügen. Unser Alles ist aber trotzdem nur beinahe ausreichend, bis es durch das Alles dessen aufgefüllt wird, der der „Vollender des Glaubens“23 ist. Dann ist unser unvollkommenes, aber Gott geweihtes Beinahe ausreichend.
Donna, eine Bekannte von mir, dachte als junges Mädchen, sie würde heiraten und viele Kinder bekommen. Doch diese Segnung blieb aus. Stattdessen diente sie als erwachsene Frau den Mitgliedern ihrer Gemeinde mit grenzenloser Hingabe und war in einem großen Schulbezirk Beraterin für Problemkinder. Sie litt unter Arthrose und machte so manch langen, traurigen Tag durch. Dennoch gab sie Freunden und Angehörigen immer Auftrieb und diese ihr. Als Lehrerin sprach sie einmal über Lehis Traum und sagte mit feinem Humor: „Ich sehe mich in dem Bild auf dem engen und schmalen Pfad, halte mich noch immer an der eisernen Stange fest, bin aber mitten auf dem Pfad vor Erschöpfung zusammengebrochen.“ Kurz vor ihrem Tod sagte Donnas Heimlehrer in einem inspirierten Segen, der Herr nehme ihr Leben an. Donna weinte. Sie hatte nie das Gefühl gehabt, ihr Leben als Alleinstehende sei annehmbar gewesen. Doch der Herr hat gesagt, alle, die „ihre Bündnisse durch Opfer … beachten, … werden von mir angenommen.“24 Ich kann mir vorstellen, wie er auf dem Pfad vom Baum des Lebens zu Donna hingeht, sie voller Freude in seine Arme hebt und nach Hause trägt.
Betrachten wir andere, die sich wie Donna ganz weihen und alles geben, sodass ihr Beinahe schon ausreichend ist:
Viele Missionare in Europa und anderswo, die nie müde werden, trotz ständiger Zurückweisung auf die Menschen zuzugehen.
Die Handkarrenpioniere, die sagten, sie hätten Gott in ihrer äußersten Not kennen gelernt und es sei ihnen eine Ehre gewesen, den Preis dafür zu zahlen.
Ein Vater, der alles in seiner Macht Stehende tat, aber dennoch keinen Einfluss auf die Entscheidungen seiner Tochter hatte; er konnte nur demütig zum Herrn flehen wie Alma für seinen Sohn.
Eine Frau, die ihrem Mann, obwohl er jahrelang Schwäche gezeigt hatte, Mut machte, bis der Same der Umkehr schließlich in seinem Herzen aufging. Sie sagte: „Ich versuchte, ihn so zu betrachten, wie Christus mich wohl betrachten würde.“
Ein Mann, dessen Frau viele Jahre an einer schweren seelischen Störung litt – doch für ihn war es immer „unsere kleine Herausforderung“ und nicht „ihre Krankheit“. Als Ehemann war er bedrängt in all ihren Bedrängnissen,25 so wie Christus bei seinem großen Opfer mit all unseren Bedrängnissen bedrängt war.26
Die Menschen in 3 Nephi 17 hatten Zerstörung, Zweifel und Finsternis überstanden und waren nun bei Jesus am Tempel. Nachdem sie ihm stundenlang staunend zugehört hatten, wurden sie müde und konnten ihn nicht mehr verstehen. Als er sich auf den Weg machen wollte, schauten sie ihn mit Tränen in den Augen an. Sie wünschten sich so sehr, dass er bliebe und die Kranken und die Kinder segnete. Sie verstanden ihn nicht, aber sie wollten dennoch mit ihm zusammen sein – mehr als alles andere. Also blieb er. Ihr Beinahe war ausreichend.
Beinahe ist vor allem dann ausreichend, wenn unser Opfer in gewisser Weise das Opfer des Erretters widerspiegelt, so unvollkommen wir auch sind. Wir können keine wahre Nächstenliebe – die Liebe Christi – spüren, ohne zumindest ein wenig von seinem Leiden für andere zu erfahren, denn Liebe und Leid sind untrennbar verbunden. Wenn wir wirklich mit den Bedrängnissen anderer bedrängt sind, können wir in die „Gemeinschaft mit seinen Leiden“27 eintreten und so Miterben Christi werden.
Mögen wir nicht zurückschrecken, wenn wir feststellen, welch hohen Preis wir paradoxerweise dafür zahlen müssen, das zu bekommen, was letztlich ein Geschenk von ihm ist. Wenn das Alles des Erretters und unser Alles zusammenkommen, werden nicht nur unsere Sünden vergeben; „wir werden ihn sehen, wie er ist“ und wir werden „ihm gleich sein“.28 Ich liebe ihn. Ich möchte bei ihm sein. Im Namen Jesu Christi. Amen.