2011
Ich will Sie nicht kennenlernen
Februar 2011


Ich will Sie nicht kennenlernen

Irvin Fager, Utah

Mit einem aufrichtigen Gebet im Herzen und meinem 14-jährigen Heimlehrpartner an meiner Seite klopfte ich an Andys Tür. Dies war unser erster Besuch bei ihm. Wir waren seine neuen Heimlehrer. Wir hatten kurz zuvor den Auftrag angenommen, ihn zu besuchen, obwohl er den Ruf hatte, schwierig zu sein. Die Tür wurde geöffnet, und da stand er, in einen japanischen Kimono gekleidet.

„Ja?“

„Hallo, ich bin Irvin, und das ist mein Heimlehrpartner. Wir sind Ihre Heimlehrer und möchten uns gern mit Ihnen unterhalten.“

Seine Frau saß hinter ihm an einem Tisch, ebenso gekleidet wie er. Sie hatten offensichtlich ein japanisches Abendessen geplant.

„Sie sehen sicher, dass wir gerade zu Abend essen und keine Zeit für Sie haben“, sagte er.

„Vielleicht können wir ein andermal wiederkommen?“, fragte ich.

„Warum?“

„Damit wir Sie kennenlernen“, antwortete ich.

„Warum wollen Sie mich kennenlernen?“, fragte er. „Ich will Sie nicht kennenlernen!“

Wir hätten wohl an dieser Stelle als Heimlehrer aufgeben können, aber wir taten es nicht. Als wir im folgenden Monat wiederkamen, ließ Andy uns sogar herein. Wir setzten uns. An der Wand gegenüber waren leere Bierflaschen aufgereiht, in Form von Oldtimern. Unser Besuch bei Andy dauerte nur kurz, aber wir erfuhren, dass er Oberst der Luftwaffe im Ruhestand war. Auch die folgenden Besuche dauerten nur kurz und brachten wenig Ergebnisse.

An einem Abend, als ich von einer Versammlung in der Kirche nach Hause fuhr, sagte mir eine innere Stimme, ich solle Andy besuchen. „Nein, danke“, dachte ich. „Nicht heute Abend.“

Als ich an einer roten Ampel anhielt, hatte ich wieder das Gefühl, ich solle Andy besuchen. Ich dachte: „Bitte, ich bin heute Abend nicht in Stimmung für Andy.“

Doch kurz bevor ich in unsere Straße einbog, empfing ich ein drittes Mal die Eingebung. Nun gab es keinen Zweifel mehr, was ich tun musste.

Ich fuhr zu seinem Haus und parkte. Ich betete um Führung. Dann ging ich zur Tür und klopfte. Als Andy mich hereinließ, sah ich ein Buch Mormon und genealogische Unterlagen auf dem Tisch liegen. Es herrschte eine andere Atmosphäre, und auch Andy selbst war irgendwie anders. Er sprach sanft und liebevoll über seine Mutter und seine Schwester, die die genealogischen Daten zusammengetragen hatten.

Zum ersten Mal unterhielt er sich ganz offen mit mir. Er erzählte mir von seinen Rückenschmerzen und sagte, er gehe morgen nach Riverside in Kalifornien in eine Klinik der Luftwaffe. Ich fragte ihn, ob er einen Priestertumssegen wolle. Ohne zu zögern antwortete er leise: „Das Angebot nehme ich an.“ Ich rief den Ältestenkollegiumspräsidenten an, der mit mir den Segen gab.

Am nächsten Tag erfuhr Andy von den Ärzten, dass er nicht operierbaren Lungenkrebs hatte. Nachdem Andy dies erfahren hatte, suchte er seinen Bischof auf. Wenige Monate später konnte er nur noch im Bett liegen.

Als ich ihn an einem Abend wieder einmal besuchte, brachte mich seine Frau in sein Zimmer. Dort lag er und war ganz schwach. Ich kniete neben seinem Bett und nahm ihn in die Arme. Ich flüsterte: „Ich hab dich lieb, Andy.“ Er nahm all seine Kraft zusammen und legte mir den Arm um die Schulter, mit großer Anstrengung sagte er mir, dass er mich auch lieb hatte. Zwei Tage später starb er.

Seine Frau lud mich zur Beerdigung ein. Außer den vier Familienangehörigen war ich der Einzige, der daran teilnahm.

Ich bin so dankbar, dass ich auf die Eingebungen des Geistes gehört und Andy besucht habe.