Klassiker des Evangeliums
Stärken wir die weniger Aktiven
Aus einer Ansprache bei einer Versammlung für Priestertumsführer am 19. Februar 1969. Der vollständige englische Text steht auch in dem Buch Let Not Your Heart Be Troubled, Boyd K. Packer, 1991, Seite 12ff.
All diejenigen von uns, die in den Gemeinden und Pfählen Verantwortung tragen, müssen den verlorenen Schafen die Tür öffnen, zur Seite treten und sie hereinlassen.
Aktiv sein in der Kirche – die Chance, zu dienen und Zeugnis zu geben – ist wie Medizin. Sie heilt diejenigen, die geistig krank sind. Sie stärkt diejenigen, die geistig schwach sind. Sie ist ein absolut notwendiger Bestandteil, wenn es darum geht, die verlorenen Schafe zu erlösen. Und doch gibt es eine Tendenz, und sie scheint fast vorherbestimmt, denjenigen, die bereits mehr als ausgelastet sind, noch mehr Möglichkeiten zur Weiterentwicklung zu geben. Diese Vorgehensweise, die in unseren Pfählen und Gemeinden zu beobachten ist, hält vielleicht die verlorenen Schafe fern.
Wenn ein Heimlehrer ein verlorenes Schaf in die Versammlungen mitbringt, ist das erst der Anfang des Wiederfindens. Wo kann man den Betreffenden einsetzen, damit er geistig davon profitiert? Tatsächlich gibt es für einen Führer in der Kirche nur wenig Möglichkeiten, jemanden einzusetzen, der noch nicht in allem würdig ist. Leider scheint es so zu sein, dass die wenigen Aufgaben, die ihm gegeben werden können – ein Gebet zu sprechen, kurz Antwort zu geben, Zeugnis zu geben –, fast immer den Aktiven vorbehalten sind: der Pfahlpräsidentschaft, dem Hoherat, der Bischofschaft, dem Patriarchen, den Leitern der Hilfsorganisationen. Ja, manchmal betreiben wir einen großen Aufwand, um Sprecher und Teilnehmer von außerhalb herbeizuschaffen – auf Kosten der geistig Hungernden.
Kürzlich besuchte ich in einer Gemeinde die Abendmahlsversammlung. Eine Schwester, deren Mann in der Kirche nicht aktiv war, war gebeten worden zu singen. Der Mann war aber anwesend. Der Bischof wollte für diesen Anlass etwas ganz Besonderes. Seine erste Ankündigung lautete: „Bruder X, mein Erster Ratgeber, spricht das Anfangsgebet.“ Der Zweite Ratgeber sprach das Schlussgebet.
Wie bedauerlich, dachte ich. Die drei Männer in der Bischofschaft machen sich so viele Sorgen um die geistig Kranken und nehmen dann die Medizin, die diesen Menschen helfen würde – aktiv sein und mitmachen –, vor den Augen der Bedürftigen selbst ein!
Manch einer meint vielleicht: „Wir müssen mit den Schwachen unter uns behutsam umgehen. Es ist besser, wenn man sie nicht bittet, zu beten oder Zeugnis zu geben, denn sonst bekommen sie Angst, schrecken zurück und verlassen uns.“ Das ist ein Gerücht! Ein weit verbreitetes Gerücht, aber dennoch ein Gerücht! Ich habe Bischöfe – hunderte – befragt, ob sie dies aus eigener Erfahrung bestätigen können. Ich erhielt nur sehr wenige Bestätigungen, ja, insgesamt waren es bei all den Bischöfen nur ein, zwei Fälle. Das Risiko ist also sehr gering, wohingegen eine solche Aufforderung dazu führen kann, dass ein verlorenes Schaf wiedergewonnen wird.
Vor ein paar Jahren besuchte ich einen Pfahl, über den ein äußerst tüchtiger und fähiger Mann präsidierte. Jede Einzelheit der Pfahlkonferenz war geplant. Er hatte das Übliche vorgesehen: Gebete von ausgewählten Brüdern aus dem Kreis der Pfahlpräsidentschaft, des Hoherats, der Bischöfe und des Pfahlpatriarchen. Sie waren aber noch nicht informiert worden, also änderten wir den Plan und beauftragten nun nicht mehr diejenigen, denen die Ehre gebührte, sondern diejenigen, die diese Erfahrung brauchten – ganz dringend brauchten.
Der Präsident legte ein ausführliches Programm für die Hauptversammlungen vor. Er erwähnte aber, dass in einer Versammlung 20 Minuten noch nicht verplant waren. Ich sagte ihm, wir könnten ein paar Mitglieder bitten zu sprechen, die sonst nicht die Gelegenheit hatten und diese Erfahrung brauchten, um gestärkt zu werden. Er kam mit dem Vorschlag, dass er ein paar fähige, bekannte Führungsbeamte anweisen könne, sich auf eine Ansprache vorzubereiten. „Viele Nichtmitglieder werden da sein“, sagte er. „Wir sind es gewohnt, dass die Konferenz immer reibungslos verläuft und die Ansprachen höchsten Ansprüchen gerecht werden. Wir haben sehr fähige Leute im Pfahl. Sie werden einen ausgezeichneten Eindruck machen.“
Im Laufe unseres Gesprächs erwähnte er noch zweimal den Versammlungsablauf und drängte darauf, dass die „besten Redner“ des Pfahles beauftragt würden. „Warum nutzen wir diese Zeit nicht für diejenigen, die es am dringendsten brauchen?“, fragte ich. Er schien enttäuscht: „Nun, Sie sind die Generalautorität.“
Früh am Sonntagmorgen erinnerte er mich daran, dass immer noch Zeit war, jemanden zu beauftragen und somit den besten Eindruck zu machen.
Die Versammlung am Vormittag begann. Der Präsident eröffnete sie mit einer brillanten und mitreißenden Ansprache. Als Nächstes baten wir seinen Zweiten Ratgeber ans Rednerpult. Er war offensichtlich nervös. … (Wir hatten zuvor erwähnt, dass beide Ratgeber wahrscheinlich in der Versammlung am Nachmittag sprechen würden. Es war geplant, dass wir bei ihm zu Hause zu Mittag aßen. Er hatte gewusst, dass er zu Hause seine Notizen noch einmal ansehen konnte, also hatte er sie zu Hause gelassen.)
Da er seine Notizen nicht dabei hatte, gab er Zeugnis. Auf inspirierende Weise berichtete er von einem Erlebnis bei einem Krankensegen, den er in der Woche zuvor gegeben hatte. Ein Bruder, den die Ärzte schon aufgegeben hatten, war durch die Macht des Priestertums aus dem Schatten des Todes gerufen worden. Ich weiß nicht, was in seinen Notizen stand, aber es wäre gewiss nicht so inspirierend gewesen wie sein Zeugnis.
Eine ältere Frau saß in der ersten Reihe, neben ihr ein Mann mit einem wettergegerbten Gesicht. Sie hielten sich an der Hand. Sie passte nicht ganz in die Reihen der modisch gekleideten Versammelten – im Vergleich sah sie eher schlicht aus. Sie sah aus, als ob sie bei dieser Konferenz sprechen sollte, und als sie die Gelegenheit erhielt, berichtete sie von ihrer Mission. Zweiundfünfzig Jahre zuvor war sie aus dem Missionsfeld zurückgekehrt, und seither war sie nie gebeten worden, in der Kirche zu sprechen. Ihr Zeugnis war sehr bewegend und ergreifend.
Weitere Mitglieder wurden gebeten zu sprechen, und gegen Ende der Versammlung schlug der Präsident vor, dass ich die noch verbleibende Zeit übernehmen solle. „Sagen Sie das aufgrund einer Inspiration?“, fragte ich. Er sagte, er denke an den Bürgermeister. (Die Bürger dieser Großstadt hatten ein Mitglied der Kirche zum Bürgermeister gewählt, und er war anwesend.) Als ich dem Pfahlpräsidenten sagte, der Bürgermeister könne ja ein paar Grußworte sagen, flüsterte er, der Mann sei in der Kirche nicht aktiv. Als ich vorschlug, dass er ihn dennoch darum bitten solle, sträubte er sich und sagte direkt, der Mann sei nicht würdig, in dieser Versammlung zu sprechen. Da ich darauf beharrte, rief er den Mann jedoch als nächsten Sprecher auf.
Der Vater des Bürgermeisters war in dieser Region ein Pionier der Kirche gewesen. Er war Bischof in einer der Gemeinden gewesen, und nun war einer seiner Söhne Bischof – ein Zwillingsbruder des Bürgermeisters, soweit ich weiß. Der Bürgermeister war das verlorene Schaf. Er kam ans Rednerpult und sprach, zu meiner Überraschung, voll Bitterkeit und Feindseligkeit. Er begann in etwa so: „Ich weiß nicht, warum Sie mich zum Sprechen aufgerufen haben. Ich weiß nicht, warum ich heute in der Kirche bin. Ich gehöre hier nicht hin. Ich habe nie dazugepasst. Ich bin mit der Art und Weise, wie manches in der Kirche gehandhabt wird, nicht einverstanden.“
Ich gestehe, dass ich mir langsam Sorgen machte, doch dann hielt er inne und schlug die Augen nieder. Von dem Moment an schaute er bis zum Ende seiner Ansprache nicht mehr auf. Nach kurzem Zögern fuhr er fort: „Jetzt kann ich es Ihnen auch sagen. Ich habe vor sechs Wochen mit dem Rauchen aufgehört.“ Dann schüttelte er die Faust über dem Kopf in Richtung Zuhörer und sagte: „Wenn irgendjemand von Ihnen meint, das sei leicht, dann haben Sie nie die Hölle erlebt, die ich in den letzten Wochen durchgemacht habe.“
Dann schmolz sein Stolz dahin. „Ich weiß, dass das Evangelium wahr ist“, sagte er. „Ich habe immer gewusst, dass es wahr ist. Das habe ich als kleiner Junge von meiner Mutter gelernt.
Ich weiß, dass es nicht die Kirche ist, die nicht in Ordnung ist“, gestand er. „Ich bin es, der nicht in Ordnung ist, und auch das habe ich immer gewusst.“
Dann sprach er vielleicht für alle verlorenen Schafe, als er bat: „Ich weiß, dass ich es bin, der falsch liegt. Und ich möchte zurückkommen. Ich habe versucht, zurückzukommen, aber Sie haben mich nicht gelassen!“
Natürlich wollte man ihn zurückhaben, aber irgendwie hatte man ihn das nicht wissen lassen. Nach der Versammlung kamen viele Menschen nach vorn – nicht zu uns, sondern zu ihm und sagten: „Willkommen zuhause!“
Nach der Konferenz, auf dem Weg zum Flughafen, sagte der Pfahlpräsident zu mir: „Ich habe heute etwas gelernt.“
Ich hoffte, richtig zu liegen, und sagte: „Hätten wir nach Ihrem Plan gehandelt, hätten Sie den Vater dieses Mannes aufgerufen, nicht wahr, oder vielleicht den Bruder, den Bischof?“
Er nickte und meinte: „Jeder von ihnen hätte, wenn man ihm 5 Minuten gegeben hätte, eine bewegende 15- oder 20-minütige Predigt gehalten, die allen gefallen hätte. Aber wir hätten kein verlorenes Schaf wiedergewonnen.“
All diejenigen von uns, die in den Gemeinden und Pfählen Verantwortung tragen, müssen den verlorenen Schafen die Tür öffnen, zur Seite treten und sie hereinlassen. Wir müssen lernen, den Eingang nicht zu blockieren. Es ist ein schmaler Weg. Manchmal stellen wir uns ganz unbeholfen an, indem wir versuchen, sie durch das Tor zu ziehen, das wir selbst blockieren. Nur wenn wir vorhaben, sie aufzubauen, sie vor uns gehen zu lassen, wenn wir sie auf einer höheren Ebene als uns selbst sehen können, haben wir die Einstellung, die ein Zeugnis wachsen lassen kann.
Ich frage mich, ob der Herr genau das meinte, als er sagte: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken.“ (Matthäus 9:12.)
Ich trete nicht dafür ein, die Maßstäbe zu senken. Im Gegenteil. Auf hohe Maßstäbe werden mehr verlorene Schafe reagieren als auf niedrige. Disziplinierung im geistigen Bereich hat therapeutischen Wert.
Auch Zurechtweisung ist eine Form der Liebe, ein Ausdruck davon. Sie ist notwendig und hat starken Einfluss auf das Leben der Menschen.
Wenn ein Kleinkind am Rand der Straße spielt, fahren wir vorsichtig an ihm vorbei. Nur wenige werden anhalten und es in Sicherheit bringen und, wenn notwendig, zurechtweisen. Es sei denn, es handelt sich um unser eigenes Kind oder Enkelkind. Wenn wir sie genügend lieben, dann handeln wir so. Auf Zurechtweisung zu verzichten, wenn sie zu geistigem Wachstum beitragen würde, zeugt von mangelnder Liebe und Sorge.
Im geistigen Bereich trägt Zurechtweisung – in einer liebevollen Atmosphäre, bestätigt durch ein Zeugnis – dazu bei, Seelen zu erlösen.