Violet braucht Hilfe
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Markus 12:31)
Wie sollte Emma nett sein, wo doch Violet immer so gemein zu ihr war?
Emma umklammerte ihren Schulrucksack, als sie das neue Klassenzimmer betrat. Es war der erste Schultag. Sie trug ihre Lieblingskleidung, und Mama hatte ihr für die Pause etwas zum Naschen mitgegeben: Zookekse.
„Es wird ein guter Tag“, dachte Emma bei sich. „Solange …“
Emma blieb stehen und starrte auf die andere Seite des Klassenzimmers. Da stand sie. Violet.
Letztes Jahr hatte Violet in jeder Pause das Klettergerüst besetzt. Sie hatte sich über Emma lustig gemacht. Sie hatte ihr sogar die beste Freundin ausgespannt!
Violet sah Emma und streckte die Zunge heraus. Emma starrte zurück und umklammerte den Rucksack noch fester. Violet war das ganze letzte Jahr unfreundlich zu ihr gewesen, und dieses Jahr würde es wohl nicht anders werden.
„Ich begrüße euch im neuen Schuljahr!“, sagte ihre Lehrerin, Frau Caldwell. „Zuerst legen wir die Sitzordnung fest.“
Die Tische waren in Zweierreihen aufgestellt. Frau Caldwell fuhr mit dem Finger über die Klassenliste; dann zeigte sie auf zwei Tische hinten im Klassenzimmer. „Emma, du sitzt dort hinten.“
Emma setzte sich an einen der hinteren Tische. Sie hoffte, Liselle werde neben ihr sitzen. Oder Jaime. Oder …
„Violet.“
Emma schreckte auf. Hatte sie das richtig verstanden?
Ja. Frau Caldwell zeigte immer noch auf den Tisch neben Emma. „Du sitzt neben Emma, Violet“, sagte sie.
Violet runzelte die Stirn und trottete auf Emma zu. Emma legte den Kopf auf den Tisch und starrte die Wand an. Das würde wohl ein langes Schuljahr werden!
Im Matheunterricht schrieb Frau Caldwell einige Aufgaben an die Tafel. „Rechnet die Aufgaben allein oder mit eurem Sitznachbarn aus“, trug sie den Schülern auf.
Emma beugte sich rasch über ihr Blatt Papier und tat so, als sei sie sehr beschäftigt. Die Aufgaben waren nicht schwer. Mit Violet wollte sie nichts zu tun haben. Sie hatte sie den ganzen Morgen noch kein einziges Mal angeschaut.
Etwas stupste sie an der Schulter. Es fühlte sich an wie ein Bleistift. Emma ignorierte es.
Noch ein Stupser. Violet stupste sie! Emma rechnete stur weiter ihre Aufgaben.
Der dritte Stupser war so fest, dass es richtig weh tat. Emma spürte, wie Wut in ihr hochstieg. Sollte es etwa das ganze Jahr so weitergehen? Sie überlegte, ob sie sich melden und der Lehrerin Bescheid sagen sollte. Vielleicht reichte es aber auch, Violet böse anzuschauen.
Da hörte Emma ein Schniefen. Weinte da jemand? Wieder ein Stupser mit dem Bleistift. Sie schaute hinüber und sah, das Violet sie anstarrte. Sie hielt den Bleistift in der Hand und hatte Tränen in den Augen. Ihr Blatt Papier war vom Radieren ganz verschmiert.
Violet drehte den Bleistift in den Fingern. „Kannst du mir helfen?“, fragte sie leise.
Emma sah sie eine Minute lang sprachlos an. Violet wollte, dass sie ihr half? Nachdem sie immer so gemein zu ihr gewesen war? Emma schaute wieder auf ihr eigenes Blatt. Sollte Violet doch die Aufgaben alleine lösen! Sie verdiente es nicht, dass Emma ihr half, auch wenn sie …
ihre Sitznachbarin war.
Emma blickte still nach vorn. Sie hörte Violet leise schluchzen. In den Schriften heißt es ja, wir sollen unseren Nächsten lieben – aber bei Violet war das doch etwas anderes! Bloß weil sie ihre Sitznachbarin war …
Emma arbeitete weiter an ihren Aufgaben. Dann hielt sie inne. Vielleicht war es bei Violet doch nichts anderes! Wenn es in den Schriften heißt, man solle seinen Nächsten lieben, waren damit vielleicht doch alle gemeint. Auch die Gemeinen. Auch wenn es schwer war.
Emma seufzte und legte langsam den Bleistift ab. Sie drehte sich zu Violet um und versuchte zu lächeln. „Kann ich dir helfen?“, fragte sie.
Violet nickte und wischte mit der Hand die Tränen fort.
Emma lehnte sich zu Violet hinüber und half ihr bei der ersten Aufgabe. Sie merkte, dass sich ein gutes Gefühl in ihr ausbreitete. Sie fragte sich, ob Violet wohl Zookekse mochte.