2019
Entscheidungen treffen: Entscheidungsfreiheit und Offenbarung
April 2019


Entscheidungen treffen: Entscheidungsfreiheit und Offenbarung

Die Verfasserin lebt in Utah.

Wie sehr müssen wir uns bei großen Entscheidungen darauf verlassen, dass Gott uns sagt, was wir tun sollen?

woman standing in front of river

Illustrationen von David Green

Wir alle stehen jeden Tag vor vielen Entscheidungen. Einige davon sind banal, wie etwa: Was soll ich heute anziehen? Was esse ich heute zu Mittag? Brauche ich unbedingt ein neues Handy oder komme ich mit meinem alten noch etwas länger aus? Aber von Zeit zu Zeit stehen wir vor großen Entscheidungen: Soll ich eine Weiterbildung oder ein Aufbaustudium machen? Soll ich diese Stelle annehmen? Soll ich umziehen? Soll ich ein Haus kaufen? Soll ich mit xyz zusammen sein? Soll ich xyz heiraten? Und so weiter.

Wenn wir vor großen Entscheidungen stehen, neigen wir – berechtigterweise – dazu, uns etwas mehr zu Zeit nehmen, bevor wir einen Entschluss fassen. Wir folgen dem Rat, den der Herr Oliver Cowdery in Lehre und Bündnisse 9:8,9 gab:

„Aber siehe, ich sage dir: Du musst es mit deinem Verstand durcharbeiten; dann musst du mich fragen, ob es recht ist, und wenn es recht ist, werde ich machen, dass dein Herz in dir brennt; darum wirst du fühlen, dass es recht ist.

Wenn es aber nicht recht ist, wirst du keine solchen Gefühle haben, sondern du wirst eine Gedankenstarre haben, die dich das vergessen lassen wird, was falsch ist.“

Das ist sicher ein guter Rat, doch wenn es um große Entscheidungen geht, verlassen wir uns manchmal etwas zu sehr auf den Teil, wo Gott uns sagt, was recht ist, und weniger darauf, wo er uns auffordert, es mit unserem Verstand durchzuarbeiten. Wir verlieren uns in der Erwartung, dass Gott unsere Entscheidungen bestätigt, und lassen dadurch wunderbare Gelegenheiten an uns vorbeiziehen. Vielleicht sind wir uns auch der Rolle der Entscheidungsfreiheit bewusst, doch wir scheuen uns davor, eine Entscheidung zu treffen, die uns von unserem festgelegten „Plan“ abbringen könnte. Und wenn wir kein Brennen im Herzen verspüren und keine Stimme aus dem Himmel vernehmen, gehen wir davon aus, dass unsere Entscheidung falsch sein muss. Für viele von uns führt diese nicht weiter in Worte gefasste Spannung zwischen der Entscheidungsfreiheit und persönlicher Offenbarung zu einer wichtigen Frage: Welche Rolle spielt Gott dabei, wenn es darum geht, eine Entscheidung zu treffen?

Gottes Rolle bei der Entscheidungsfindung

Diese Frage wird wohl am ehesten mittels der Geschichte von Jareds Bruder beantwortet. In dieser Geschichte steckt ein interessantes Wachstumsmuster, das uns veranschaulicht, was Gott von uns erwartet, wenn wir Entscheidungen treffen müssen. Nachdem beim Turm zu Babel die Sprachen verwirrt worden sind, bittet Jared seinen Bruder, Gott zu fragen, ob sie das Land verlassen sollen und, falls ja, wohin sie ziehen sollen (siehe Ether 1:36-43). Jareds Bruder fragt den Herrn und dieser führt sie zur Meeresküste. Auf ihrer Reise dorthin spricht der Herr in einer Wolke zu ihnen und führt sie bei jedem Schritt. Schließlich erreichen sie die Küste und bleiben dort vier Jahre lang.

Am Ende dieser vier Jahre beauftragt Gott Jareds Bruder, Schiffe zu bauen und sich auf die Überquerung des Meeres vorzubereiten. Als Jareds Bruder bewusst wird, dass keine frische Luft in die Schiffe gelangen kann, hält er sich an das Muster, mit dem er bereits vertraut ist: Er wendet sich an Gott und fragt ihn um Rat. Wie erwartet gibt ihm der Herr ausführliche Anweisungen: Er soll auf der Ober- und Unterseite der Schiffe jeweils ein Loch machen. Achtet einmal darauf, nach welchem Muster ihnen bis zu diesem Punkt Offenbarung gegeben worden ist: Gott gibt ihnen einen Plan, dann fragen sie nach, wie sie den Plan umsetzen können, und daraufhin Gott gibt ihnen eine klare und ausführliche Antwort.

Doch nachdem Jareds Bruder die Schiffe mit Löchern versehen hat, stellt er fest, dass in den Schiffen kein Licht ist. Erneut fragt er Gott, was er tun soll. Gott gibt ihm hierauf jedoch keine Antwort, sondern fragt ihn stattdessen: „Was wollt ihr, dass ich tun soll, damit ihr Licht in euren Wasserfahrzeugen habt?“ (Ether 2:23.) Statt ihm wie bisher ausführliche Anweisungen zu geben, wartet der Herr diesmal darauf, dass Jareds Bruder selbst entscheidet, was zu tun ist.

Solch eine Antwort vom Herrn ist wohl am schwersten zu verstehen, wenn man eine Entscheidung treffen muss. Wir haben gelernt, dass wir beten und auf eine Antwort warten sollen – und darum sind wir natürlich beunruhigt, wenn wir keine Antwort erhalten. Wenn wir keine klare Antwort erhalten, fragen wir uns oft, ob wir etwa gerade eine „Gedankenstarre“ erleben, die uns anzeigt, dass unsere Entscheidung falsch ist. Manchmal fragen wir uns, ob wir nicht rechtschaffen genug sind, um die Antwort wahrzunehmen, oder wir sind uns nicht sicher, ob wir „mit wirklichem Vorsatz“ fragen (siehe Moroni 10:4). Es gibt jedoch noch eine dritte Alternative, die gern außer Acht gelassen wird: Vielleicht wartet Gott – wie bei Jareds Bruder – darauf, dass wir unseren eigenen Entschluss fassen.

Eine Entscheidung treffen

Vor kurzem befand ich mich in einer Situation, die mich dazu brachte, meine Ansichten zum Thema Entscheidungsfreiheit und Offenbarung in Frage zu stellen. Gegen Ende meines weiterführenden Studiums fiel es mir schwer, mich für eines von mehreren Stellenangeboten an verschiedenen Standorten zu entscheiden. Wie Jareds Bruder hatte auch ich schon mehrmals erlebt, dass ich von Gott eine klare Antwort erhielt, nachdem ich mich wegen einer wichtigen Entscheidung an ihn gewandt hatte. Ich vertraute auf diese früheren Erfahrungen und bat Gott im Gebet, mir bei der Entscheidung, welche Stelle ich annehmen sollte, zu helfen. Ich trug auch meinen Teil dazu bei, indem ich mich über jedes Stellenangebot näher informierte und mich von vielen Leuten beraten ließ. Doch wie sehr auch betete oder fastete, der Himmel schwieg und ich erhielt keine Antwort.

two different cities

Die Frist, bis wann ich eine Entscheidung treffen musste, rückte immer näher und ich geriet allmählich in Panik. Gerade solch eine Entscheidung sollte dem Herrn doch wichtig sein, warum also antwortete er mir nicht? Vielleicht war es ihm ja egal, für welche Stelle ich mich entschied – aber wohin ich zog, sollte ihm doch wichtig sein, denn zweifellos würde sich das ja immens auf mein Leben auswirken. In der Vergangenheit waren dem Herrn meine Entscheidungen doch immer wichtig gewesen, warum also schien ihn diese nicht zu kümmern?

Aber so sehr ich mich auch bemühte, es kam keine Antwort. Ich fragte mich, ob ich mich so weit von Gott entfernt hatte, dass ich seine Antwort nicht vernehmen konnte. Oder vielleicht konnte ich die Antwort nicht hören, weil ich sie im Unterbewusstsein nicht hören wollte? Am Tag vor Ablauf der Frist war mir klar, dass ich eine Entscheidung treffen musste, also tat ich dies nach bestem Ermessen. Am selben Abend sprach ich ein einfaches Gebet und bat Gott, mir zu sagen, ob mein Entschluss falsch sei. Es kam noch immer keine Antwort, also trat ich die Stelle an.

Einige Monate später zweifelte ich noch immer an meiner Entscheidung, darum bat ich um einen Priestertumssegen, damit ich Gewissheit erlangen konnte. In diesem Segen wurde mir gesagt, dass ich keine Antwort auf mein Gebet erhalten hatte, weil der Herr mit meinem Entschluss zufrieden war. Dieser Segen bekräftigte den Rat, den mein Missionspräsident mir einmal gegeben hatte – dass es nämlich häufig keine Rolle spielt, wofür man sich entscheidet. Gott möchte, dass wir lernen, auf eigenen Füßen zu stehen und unser Leben in die Hand zu nehmen. Mein Missionspräsident erinnerte mich auch daran, dass Gott, unser Vater im Himmel, uns nicht bestraft und uns auch keine verheißenen Gelegenheiten wegnimmt, wenn wir uns aufrichtig anstrengen, um herauszufinden, was wir tun sollen.

Jareds Bruder hätte wahrscheinlich alles Mögliche vorschlagen können, um Licht ins Innere der Schiffe zu bringen, und der Herr wäre damit einverstanden gewesen. Diese Erfahrung diente nicht nur dazu, den Glauben von Jareds Bruder zu stärken, sondern ihm auch beizubringen, wie man eine Entscheidung trifft.

Entscheidungsfreiheit ausüben

different paths

Aus dem Blickwinkel der Ewigkeit ist es für unser persönliches Wachstum wesentlich, dass wir unsere Entscheidungsfreiheit ausüben. Ohne sie könnten wir nicht die Entscheidungen treffen, durch die wir unser volles Potenzial erreichen können. Wachstum geschieht – wie alles andere im Evangelium auch – „Zeile um Zeile …, Weisung um Weisung“ (2 Nephi 28:30). Gott möchte, dass wir ein vorbereitetes Volk sind und nicht etwa ein verängstigtes Volk. Er erwartet, dass wir unsere Entscheidungsfreiheit dazu nutzen, unser Leben so gut wie möglich in die Hand zu nehmen.

Sobald wir das Gleichgewicht zwischen Entscheidungsfreiheit und Offenbarung finden, können wir wahres geistiges Wachstum erfahren. So erging es auch Jareds Bruder. Nachdem er gründlich nachgedacht hatte, schmolz er aus einem Felsen 16 Steine und bat Gott, diese zu berühren und zum Leuchten zu bringen (siehe Ether 3:1-5). Diesmal sollte sich mit der Antwort Gottes alles ändern: Statt die Stimme Gottes in einer Wolke zu vernehmen, sah Jareds Bruder den Herrn. Er erschien ihm nicht nur persönlich, sondern zeigte ihm auch von der Welt und allem, was noch bevorstand, unglaubliche Visionen (siehe Ether 3:6-26). Vielleicht wäre Jareds Bruder in geistiger Hinsicht nicht auf diese Vision vorbereitet gewesen, hätte er nicht zuvor das persönliche Wachstum erlebt, das auf seinem selbst gefassten Entschluss beruhte.

Natürlich sollten wir, wenn wir Entscheidungen treffen müssen, Almas Rat befolgen und uns in allem, was wir tun, mit dem Herrn beraten (siehe Alma 37:37). Wenn der Herr möchte, dass wir eine bestimmte Entscheidung treffen, wird er uns dies mitteilen und uns helfen, sodass wir uns selbst nicht in die Irre führen. Wir müssen aber auch bereit sein, zur Tat zu schreiten und im Glauben voranzugehen – ob eine Antwort nun kommt oder nicht. Solange wir unsere Bündnisse halten und dem Evangelium Jesu Christi treu bleiben, können wir zuversichtlich sein, was unsere rechtschaffenen Entscheidungen angeht, und wir können darauf vertrauen, dass der Herr mit unseren Bemühungen zufrieden ist.