Wie wir allen Menschen dienen können
Elder Uchtdorf fordert uns auf, einander auf ganz normale, natürliche Weise zu dienen. Inwiefern verändert dieser Ansatz die Art und Weise, wie wir unseren Mitmenschen das Evangelium nahebringen?
Im Rahmen unserer Bestrebungen, einander auf edlere und heiligere Weise zu dienen, sagen die Führer der Kirche nun, die Missionsarbeit für die Mitglieder bestehe darin, „[unseren] Mitmenschen [zu dienen], ohne [uns] zu fragen, ob der Name auf [unserer] Liste als betreuender Bruder oder betreuende Schwester steht“1. Dieser Weg ist somit vortrefflicher und geht Hand in Hand mit einem Einstellungswandel. Es ist ein verbesserter Ansatz, der die Art und Weise, wie und aus welcher Motivation heraus wir einander dienen, komplett auf den Kopf zu stellen vermag.
Dieter F. Uchtdorf vom Kollegium der Zwölf Apostel ermuntert uns: „Sprechen Sie auf jede Art und Weise, die Ihnen natürlich und normal erscheint, mit anderen darüber, warum Jesus Christus, sein Evangelium und seine Kirche für Sie wichtig sind. Laden Sie die Menschen ein, zu kommen und zu sehen. Laden Sie sie ein, zu kommen und zu helfen. Es gibt unzählige Möglichkeiten, sich aktiv an unserem Gemeindeleben zu beteiligen.
Beten Sie nicht nur dafür, dass die Missionare die Auserwählten finden. Beten Sie mit ganzem Herzen dafür, dass auch Sie Menschen finden, die kommen und sehen, kommen und helfen und kommen und bleiben.“2
Seinem Nächsten geistlich zu dienen bedeutet, zu einem noch hingebungsvolleren Jünger Jesu Christi zu werden, der so gründlich bekehrt ist, dass er dieselben Empfindungen hegt wie der Erretter und mit den Menschen Mitgefühl hat. Der Herr fordert uns also auf, einen Schritt weiterzugehen und unsere Mitmenschen auf natürliche und normale Weise und aus Liebe heraus zu betreuen. Es geht nicht darum, Betreuungsaufträge abzuhaken. Es geht darum, wie man jemand wird, der wie Jesus Christus für andere da ist.
Lernen, wie man dem einen (auf der Liste) dient
Wir lernen ja erst, wie man ein betreuender Bruder oder eine betreuende Schwester wird. Eine solche Veränderung geht nicht über Nacht, und sehr wahrscheinlich unterlaufen uns dabei auch Fehler. Einer dieser Fehler besteht meines Erachtens darin, einen Betreuungsauftrag lediglich als „künstliche“ oder „aufgezwungene“ Freundschaft abzutun – die ja weder normal noch natürlich ist. Der Herr überträgt uns betreuenden Brüdern und Schwestern jedoch konkrete Aufträge. Auf diese Weise sorgt er dafür, dass niemand übersehen wird.
Wenn die USA von einer Naturkatastrophe betroffen sind, mobilisieren Rotes Kreuz und Nationalgarde ihre freiwilligen Helfer und teilen sie einem bestimmten Gebiet zu, um es möglichst weiträumig abzudecken. Dieser Auftrag, der einem solchen Ehrenamtlichen ja Zeit und Hingabe abverlangt, ändert aber nichts daran, dass der Dienst an sich freiwillig ist. Niemand, der schon selbst eine Katastrophe miterlebt hat, scheint diese Aufgabenzuteilung zu hinterfragen. Die Hilfsempfänger sind ja dankbar, dass jemand zu Hilfe eilt!
Wenn wir heilige Bündnisse schließen und dadurch zu Jüngern Jesu Christi werden, sind wir wie die freiwilligen Helfer von Nationalgarde und Rotem Kreuz: Wir bieten uns an und erhalten einen konkreten Hilfsauftrag.
Solche Aufgaben bieten uns die Möglichkeit, zu lernen und in das Betreuen hineinzuwachsen. Und aus seinen Fehlern lernt man ja bekanntlich. Doch bald schon geht uns der Dienst am Nächsten „in Fleisch und Blut“ über. In ähnlicher Weise haben wir durch Üben schließlich auch laufen, sprechen, Fahrrad fahren, ein Instrument spielen oder eine Sportart ausüben gelernt.
Was bedeutet es, unseren Mitmenschen auf ganz „normale, natürliche Weise“ zu dienen?
Unser Betreuungsauftrag bereitet uns darauf vor, „unseren Mitmenschen so zu dienen“, wie es normal und natürlich ist. Einander zu dienen erfordert ein bereitwilliges Herz und Augen, die hinschauen und unseren Nächsten auch wirklich sehen – nämlich jeden, den der Herr unseren Lebensweg kreuzen lässt. So gesehen kann „Betreuen“ ganz einfach in einer Einladung bestehen, „zu kommen und zu sehen“ oder „zu kommen und zu helfen“ – auf ganz normale und natürliche Weise.
Der Erretter hat uns das vorgelebt. Als Jesus den Menschen am Tempel im Land Überfluss erschien, sagte er zu ihnen: „Aber jetzt gehe ich zum Vater und auch, um mich den verlorenen Stämmen Israels zu zeigen.“ (3 Nephi 17:4.)
So wie wir hatte der Erretter einen Auftrag und wollte sich dorthin begeben. So geht die Geschichte aber weiter:
„Und es begab sich: Als Jesus so gesprochen hatte, ließ er seine Augen abermals ringsum über die Menge schweifen und sah, dass alle in Tränen waren und ihn unentwegt anblickten, als wollten sie ihn bitten, noch ein wenig länger bei ihnen zu verweilen.
Und er sprach zu ihnen: Siehe, mein Inneres ist von Mitleid für euch erfüllt.“ (3 Nephi 17:5,6; Hervorhebung hinzugefügt.)3
Obwohl er eigentlich gehen wollte, hatte der Erretter Augen, die hinblickten, und ein Herz voller Mitgefühl. Also hielt er inne, um dem Volk zu dienen:
„Habt ihr welche unter euch, die krank sind? Bringt sie her. Habt ihr welche, die lahm sind oder blind oder hinkend oder verkrüppelt oder aussätzig oder die verdorrt sind oder die taub sind oder die in irgendeiner Weise bedrängt sind? Bringt sie her und ich werde sie heilen, denn ich habe Mitleid mit euch; mein Inneres ist von Barmherzigkeit erfüllt.“ (3 Nephi 17:7.)
Nach allem, was wir vom Erretter wissen, war es für ihn ganz natürlich, sich vor seinem nächsten Termin Zeit zu nehmen und die Kranken zu heilen. Einander auf ganz normale, natürliche Weise zu dienen mag für uns nun vielleicht einfach darin bestehen, jemanden zu etwas einzuladen, was man ohnehin schon vorhat. Oder Sie bitten jemanden, Sie zu einer Veranstaltung zu begleiten, an der Sie sowieso teilnehmen wollten.
Sie belegen einen Kurs zur Förderung der Eigenständigkeit? Laden Sie Ihre Nachbarn dazu ein. In Ihrer Gemeinde findet eine Veranstaltung statt? Laden Sie einen Arbeitskollegen ein, Sie zu begleiten. Sie lesen zuhause bereits mit der Familie in den heiligen Schriften oder halten den Evangeliumsabend ab? Laden Sie einen Bekannten dazu ein. Genau das ist mit „kommt und seht“ gemeint. Unser voller Terminkalender muss um keinen einzigen Eintrag erweitert werden. Und wenn die Umstände es nicht zulassen, dass man jemandem einen Besuch abstattet, kann man dem Betreffenden durch eine Textnachricht, eine E-Mail oder einen Anruf etwas Gutes tun.
Der Herr verlässt sich darauf, dass wir unserem Nächsten dienen
Als Präsident M. Russell Ballard mich als Präsidenten des JAE-Pfahls 1 in Provo einsetzte, übertrug er mir eine einfache, aber konkrete Aufgabe: „Such die Führungsverantwortlichen und die Mitglieder zuhause auf!“ Das war alles. Weitere Schulungen oder Aufträge gab es keine.
Wir sprachen uns mit den Bischöfen ab und begannen gleich am Dienstag, zwei Tage nach der Pfahlkonferenz, mit diesem Auftrag. Als wir im Pfahl dienten, machten wir Fehler, verpassten manche Gelegenheit und dachten oft: „Das hätte ich geschickter ausdrücken können“ oder „Ich wünschte, wir hätten die Frage anders gestellt“.
Kevin J. Worthen, Präsident der Brigham-Young-Universität, meint jedoch dazu: „Fehlschläge sind für unseren ewigen Fortschritt – unser Streben nach Vollkommenheit – von entscheidender Bedeutung. Ziehen wir aus den Fehlschlägen die richtigen Lehren, können wir aufgrund des Sühnopfers Nutznießer einer neuen Art des Lernens sein, wodurch Fehlschläge zum integralen Bestandteil unserer Vervollkommnung werden.“4
So erging es auch uns: Wir lernten, wie wir den Führungsverantwortlichen und den Mitgliedern des Pfahls sowie anderen, die wir kennenlernten, dienen sollten. Da wir beim Dienen nicht nachließen, ließ der Herr nach und nach immer mehr Menschen unsere Wege kreuzen.
Einmal war ich mit J. B. Haws, einem meiner Ratgeber, in einer Wohnanlage unterwegs, als wir auf dem Parkplatz auf einen jungen Mann stießen. Wir grüßten ihn und fanden bald heraus, dass er im Begriff war, aus unserem Pfahlgebiet fortzuziehen. Im Verlauf unseres kurzen Gesprächs erzählte er uns, er sei ein zurückgekehrter Missionar und grübele über Glaubensfragen nach. Mein Ratgeber ist ein großartiger Lehrer und findet zu den Menschen leicht Zugang. Glaubensfragen zu beantworten war für Bruder Haws ganz natürlich und normal. Als sie sich unterhielten, glomm in den Augen dieses jungen Mannes ein Licht wieder auf, das ihm vielleicht schon einige Zeit gefehlt hatte.
Es war offenkundig, dass sich Bruder Haws für ihn und seine Fragen und Sorgen interessierte. Der junge Mann fasste Vertrauen, weil Bruder Haws Mitgefühl zeigte. Mein Ratgeber war von Liebe erfüllt, und er hatte den Wunsch, diesen jungen Mann zu verstehen, ohne über ihn zu urteilen. Bruder Haws fragte, ob wir ihn nach dem Umzug besuchen dürften. Der junge Mann nickte, wir tauschten unsere Handynummern aus und versprachen ihm, uns wieder zu melden.
Bevor wir weitergingen, erkundigten wir uns, ob wir noch etwas für ihn tun könnten. Er entgegnete: „Dass Sie sich die Zeit genommen und mit mir geredet haben, war so ziemlich das Wichtigste, was Sie heute für mich haben tun können.“ Später am Abend kam mir der Gedanke: „Wenn Bruder Haws und ich nicht zu Betreuungszwecken unterwegs gewesen wären, hätten wir diesen jungen Mann vielleicht nie kennengelernt.“
Es scheint, als hätte der Herr gewusst, dass wir an diesem Abend unterwegs sein würden. Also ließ er diesen jungen Mann unseren Weg kreuzen und vertraute darauf, dass er uns auffallen und wir ihm dienen würden.
Der Herr lässt Menschen in unserem täglichen Leben unseren Weg kreuzen, wenn wir den Wunsch haben, einander zu dienen. Er verlässt sich nämlich darauf, dass wir von unserem Handy aufblicken, uns einen Moment Zeit nehmen, um jemandem ein Lächeln zu schenken oder jemandem eine Frage zu stellen, dem wir vielleicht auf dem Markt, in der Schule, bei der Arbeit, in der Kirche oder sonst wo begegnen.
Dienen wir einander, sind die Folgen erstaunlich
Als ich in 3 Nephi nachforschte, welches Beispiel uns der Erretter gegeben hat, fiel mir auf, dass mit dem Dienst am Nächsten ein wichtiger Grundsatz verknüpft ist. Diese Begebenheit kennen Sie bestimmt:
„Und es begab sich: Als er so geredet hatte, ging die ganze Menge einmütig hin, mit ihren Kranken und ihren Bedrängten und ihren Lahmen und mit ihren Blinden und mit ihren Stummen und mit all denen, die auf irgendeine Weise bedrängt waren; und er heilte sie, jeden Einzelnen, wie sie zu ihm hingebracht wurden.
Und sie alle, sowohl diejenigen, die geheilt worden waren, als auch diejenigen, die heil waren, beugten sich nieder, ihm zu Füßen, und beteten ihn an; und alle, die imstande waren, trotz der Menge heranzukommen, küssten ihm die Füße, sodass sie seine Füße mit ihren Tränen netzten.“ (3 Nephi 17:9,10; Hervorhebung hinzugefügt.)
Beachten Sie, dass hier von betreuenden Brüdern und Schwestern die Rede ist. Sie führten diejenigen, die sie kannten und liebten, näher an Jesus Christus heran und fanden sich ebenfalls zu Füßen des Erretters wieder. Auch sie beugten sich nieder, beteten ihn an und netzten mit ihren Tränen seine Füße.
Wenn wir einander dienen, erleben wir mit, wie Christus seelische, geistige und körperliche Wunden heilt. Laden wir dann unsere Mitmenschen auf ganz normale, natürliche Weise ein, „zu kommen und zu sehen“ und „zu kommen und zu helfen“, erstreckt sich die Heilung auch auf unsere eigenen Wunden.