Lehr uns Duldsamkeit und Lieb
Intoleranz sät Streit; Toleranz überwindet Streit. Toleranz ist der Schlüssel, der die Tür zu gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Liebe öffnet.
Liebe Brüder und Schwestern, gemeinsam mit meinen Brüdern entbiete ich Ihnen den Ostergruß. Ich bin dankbar für das Sühnopfer Jesu Christi, für sein Beispiel und für seine Lehren, die mich zu meiner heutigen Ansprache motiviert haben.
Ich fühle mich bewegt, über Toleranz zu sprechen - eine Tugend, die in unserer turbulenten Welt dringend gebraucht wird. Wenn wir dieses Thema behandeln, müssen wir uns zunächst klarmachen, daß es zwischen Toleranz und tolerieren einen Unterschied gibt. Die freundliche Toleranz, die Sie einem Menschen entgegenbringen, gibt diesem nicht das Recht, etwas Schlechtes zu tun, und Ihre Toleranz verpflichtet Sie auch nicht, die Missetat des anderen zu tolerieren. Dieser Unterschied ist grundlegend dafür, diese wichtige Tugend zu verstehen.
Als ich vor einigen Monaten am Parlament der Religionen der Welt teilnehmen durfte, war ich sozusagen in einer Werkstatt der Toleranz. Ich sprach dort mit guten Männern und Frauen aus vielen religiösen Gruppierungen. Wieder einmal spürte ich, wie gut es ist, daß wir eine solche ethnische und kulturelle Vielfalt haben, und ich dachte darüber nach, wie wichtig religiöse Freiheit und Toleranz doch sind.
Ich staune, wie inspiriert der Prophet Joseph Smith war, als er den elften Glaubensartikel niederschrieb: „Wir beanspruchen für uns das Recht, Gott den Allmächtigen zu verehren, wie es uns das Gewissen gebietet, und wir gestehen allen Menschen das gleiche Recht zu, mögen sie verehren, wie oder wo oder was sie wollen.”
Dieser noble Ausdruck religiöser Toleranz ist besonders prägnant, sieht man ihn im Licht seiner eigenen Verfolgung. Einmal schrieb er: „Ich werde zur Zeit schlimmer als irgendein Mensch auf Erden verfolgt, und so geht es auch diesem Volk; … alle unsere heiligen Rechte werden vom Pöbel niedergetreten.”1
Joseph Smith wurde unaufhörlich verfolgt und erlitt schließlich den grausamen Märtyrertod - durch die Hand intoleranter Menschen. Sein grausames Schicksal hält uns klar vor Augen, daß wir uns niemals irgendeiner Sünde schuldig machen dürfen, die der Intoleranz entspringt.
Zwei große Gebote, zu lieben
Diesem Propheten wurde die Fülle des Evangeliums offenbart. Er wurde vom auferstandenen Christus unterwiesen, den er verehrte. Er lehrte, was der Herr kundtat, so auch das, was der Herr einem strengen Rechtsgelehrten antwortete, der fragte:
„Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?
Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot.
Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.”2
Daher lauten unsere höchsten Prioritäten im Leben, Gott zu lieben und unseren Nächsten zu lieben. Im weiten Sinn schließt das den Nächsten in unserer Familie ein, sowie in unserem Gemeinwesen, in unserem Staat und in unserer Welt.
Gehorsam gegen das zweite Gebot macht
es leichter, dem ersten Gebot zu gehorchen. „Wenn ihr euren Mitmenschen dient, allein dann dient ihr eurem Gott.”3
Elterliche Liebe
Väter und Mütter können dieses Konzept leicht verstehen. Zur elterlichen Liebe gehört auch Dankbarkeit für einen Dienst, der den Kindern erwiesen wurde, besonders in Notlagen.
Zu meinem Vergnügen bekannte kürzlich eine meiner erwachsenen Töchter, daß sie gemeint hatte, Papas Lieblingstochter zu sein. Zu ihrer Überraschung fand sie später heraus, daß jede ihrer acht Schwestern das von sich selbst auch geglaubt hatte. Erst als sie selbst Mutter waren, stellten sie fest, daß Eltern kaum jemals ein Lieblingskind haben. (Nebenbei: Unser einziger Sohn mußte sich nie fragen, wer wohl unser Lieblingssohn sei.)
Auch der Vater im Himmel liebt alle seine Kinder. Petrus lehrte: Gott sieht nicht auf die Person, sondern in jedem Volk ist ihm willkommen, wer ihn fürchtet und wer tut, was recht ist.4
Und doch können seine Kinder so intolerant miteinander umgehen. Benachbarte Fraktionen, seien es Gruppen oder Banden, Schulen oder Staaten, Landkreise oder Länder, entwickeln oft Feindseligkeit. Bei solchen Neigungen frage ich mich: Kann es nicht Grenzen geben, die nicht zu Fronten werden? Können Völker nicht gemeinsam gegen die Übel, die die Menschheit plagen, ankämpfen, statt gegeneinander Krieg zu führen? Traurigerweise lautet die Antwort darauf oftmals nein. Über die Jahre hat Diskriminierung wegen ethnischer oder religiöser Eigenarten zu sinnlosen Gemetzeln, gemeinen Pogromen und zahllosen Grausamkeiten geführt. Das Antlitz der Geschichte ist entstellt von den häßlichen Narben der Intoleranz.
Wie anders wäre doch unsere Welt, wenn alle Eltern sich an die inspirierte Anweisung des Buches Mormon halten würden: „Und ihr werdet nicht zulassen, daß eure Kinder … die Gesetze Gottes übertreten und miteinander kämpfen und streiten …
Ihr werdet sie vielmehr lehren, auf den Wegen der Wahrheit und Ernsthaftigkeit zu wandeln; ihr werdet sie lehren, einander zu lieben und einander zu dienen.”5
Bei solcher Unterweisung würden Kinder und Eltern auf der ganzen Welt gemeinsam singen: „Füll das Herz uns mit Vergebung, lehr uns Duldsamkeit und Lieb.”6 Männer und Frauen würden ihren Nächsten respektieren und auch die Glaubensansichten, die ihm heilig sind. Ethnische Witze und Verunglimpfungen der Kultur würden nicht mehr hingenommen. Die Zunge des Duldsamen ist ohne Falsch.
Unabhängigkeit und Zusammenarbeit
Wir sind zwar um die Tugend Toleranz bemüht, aber andere gute Eigenschaften dürfen darüber nicht zu kurz kommen. Toleranz erfordert nicht, daß man edle Absichten oder individuelle Eigenarten aufgibt. Der Herr hat die Führer der wiederhergestellten Kirche angewiesen, institutionelle Integrität zu schaffen und zu erhalten - damit die Kirche unabhängig stehen kann.7
Gleichzeitig werden die Mitglieder dazu angehalten, gemeinsam mit gleichgesinnten Bürgern Gutes zu tun.8 Wir sind dankbar für die vielen Beispiele heroischen Dienens bei Erdbeben, Fluten, Stürmen oder anderen Katastrophen. Solche gemeinsamen Anstrengungen, dem Nächsten aus einer Notlage zu helfen, durchdringen die Schranken von Religion, Rasse oder Kultur. Solche guten Taten sind Liebe in Aktion!
Die humanitäre Hilfe, die von den Mitgliedern der Kirche geleistet wird, ist umfangreich und multinational und wird im allgemeinen nicht publik gemacht. Und doch fragen sich zweifellos viele Leute, warum wir die unzähligen guten Vorhaben, die uns zu Herzen gehen, nicht in größerem Maße unterstützen.
Natürlich wissen wir, daß unten im Tal Krankenwagen gebraucht werden, aber darüber können wir nicht den dringenderen Bedarf an schützenden Geländern auf den Felsen oben am Berg übersehen. Begrenzte Mittel, die für eine höhere Sache gebraucht werden, können nicht für Hilfsmaßnahmen ausgegeben werden, die doch nur vorübergehende Erleichterung verschaffen.
Der biblische Prophet Nehemia muß wohl eine ähnliche Einstellung zu seiner Berufung gehabt haben. Als er gebeten wurde, einen Teil seiner Aufmerksamkeit von seinem Hauptziel abzuwenden, entgegnete er: „Ich arbeite gerade an einem großen Werk; darum kann ich nicht kommen. Die Arbeit würde stocken, wenn ich sie verließe und zu euch käme.”9
Glücklicherweise haben wir in der Kirche nur selten solche Entscheidungen zu treffen. Wir halten die Nächstenliebe für einen wesentlichen Bestandteil unserer Mission. Und während wir einander dienen, bauen wir weiter an einem Haus der Zuflucht oben auf der Klippe. Solch eine Zuflucht wirkt sich für die ganze Menschheit zum Segen aus. Wir sind nur die Bauarbeiter; der Architekt ist der allmächtige Gott.
Missionarische Verpflichtungen
Auf der ganzen Welt arbeiten Heilige der Letzten Tage Seite an Seite mit anderen Menschen - gleich welcher Rasse, welcher Hautfarbe und welchen Bekenntnisses - und hoffen, ein nachahmenswertes Beispiel ab-
zugeben. Der Erretter sagt: „Ich gebe euch das Gebot, daß jeder Mann, ob Ältester, Priester, Lehrer oder auch Mitglied … das vorbereite und ausführe, was ich geboten habe.
Und laßt euer Predigen die warnende Stimme sein - jedermann für seinen Nachbarn - voll Milde und Sanftmut.”10
Dabei müssen wir Toleranz üben. Im Juni 1991 waren wir in diesem Geist der Vorbereitung und mit tiefem Respekt für die Führer anderer Religionsgemeinschaften in Moskau, und Elder Dallin H. Oaks und ich hatten die Gelegenheit, mit dem Patriarchen der russischorthodoxen Kirche zusammenzukommen. Wir wurden von Elder Hans B. Ringger und dem Missionspräsidenten, Gary L. Browning, begleitet. Patriarch Alexe] war so gütig, eine erinnernswerte Stunde mit uns zu verbringen. Uns wurde klar, welch große Schwierigkeiten dieser freundliche Mann und seine Glaubensgenossen viele Jahre lang hatten ertragen müssen. Wir dankten ihm für seine Standhaftigkeit und11
seinen Glauben. Dann versicherten wir ihn unserer guten Absichten und sagten, wie wichtig die Botschaft sei, die die Missionare der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage unter seinen Landsleuten verkündigen würden. Wir versicherten, daß unsere Kirche eine weltweite Kirche sei und daß wir die Gesetze eines jeden Landes achten und befolgen, in dem wir tätig sind.
Denen, die sich für die Fülle des wiederhergestellten Evangeliums interessieren, und zwar ungeachtet ihrer Nationalität und ihrer bisherigen Religion, sagen wir wie Elder Bruce R. McConkie: „Behaltet alle Wahrheit und alles Gute, das ihr habt. Laßt von keinem vernünftigen, guten Grundsatz. Gebt keinen Wertmaßstab aus der Vergangenheit auf, wenn er gut, rechtschaffen und wahr ist. Wir glauben an jede Wahrheit, die in irgendeiner Kirche auf der Welt zu finden ist. Aber wir sagen allen Menschen auch dies: Kommt und nehmt das zusätzliche Licht und die Wahrheit an, die Gott in unseren Tagen wiederhergestellt hat. Je mehr Wahrheit wir besitzen, desto größer ist unsere Freude hier und jetzt; je mehr Wahrheit wir empfangen, desto größer ist unser Lohn in der Ewigkeit. Das ist unsere Einladung an alle Menschen, die guten Willens sind.”12
Wer unter Ihnen ein Zeugnis davon hat, daß das wiederhergestellte Evangelium wahr ist, der hat Gelegenheit, andere an diesem kostbaren Geschenk teilhaben zu lassen. Der Herr erwartet, daß Sie stets bereit (sind), jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die Sie erfüllt.13
Die Taufe überstrahlt die Herkunft
Auf jedem Kontinent und überall auf den Inseln des Meeres sammeln sich die Gläubigen in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Unterschiede in der kulturellen Herkunft, der Sprache, der Abstammung und im Aussehen werden bedeutungslos, wenn die Mitglieder sich im Dienst an ihrem geliebten Erretter verlieren. Was Paulus gesagt hat, ist erfüllt: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt.
Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid, einer’ in Christus Jesus.”14
Nur wenn uns klar ist, daß Gott wirklich unser Vater ist, können wir ganz verstehen, daß alle Menschen Brüder sind. Dieses Verstehen erweckt den Wunsch, statt trennender Mauern Brücken der Zusammenarbeit zu bauen.
Unser Erretter hat verfügt, „sie sollten keinen Streit untereinander haben, sondern sie sollten eines Sinnes vorwärtsblicken, einen Glauben und eine Taufe haben, nachdem sie sich im Herzen in Einigkeit und gegenseitiger Liebe verbunden hätten”.15
Intoleranz sät Streit; Toleranz überwindet Streit. Toleranz ist der Schlüssel, der die Tür zu gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Liebe öffnet.
Die Risiken grenzenloser Toleranz
Nun möchte ich eine wichtige Warnung anbringen. Man kann irrtümlicherweise annehmen, daß, wenn ein wenig von etwas gut ist, eine Menge davon noch besser sein muß. Falsch! Eine Überdosis eines Medikaments, das man eigentlich braucht, kann giftig sein. Grenzenlose Barmherzigkeit würde der Gerechtigkeit zuwiderlaufen. So kann auch Toleranz, die keine Grenze hat, zu rückgratloser Freizügigkeit führen.
Der Herr hat Linien gezogen, die die annehmbaren Grenzen der Toleranz bestimmen. Es ist gefährlich, diese gottgegebenen Grenzen zu mißachten. Gerade so, wie Eltern ihre kleinen Kinder lehren, nicht loszulaufen und auf der Straße zu spielen, so hat der Erretter uns gelehrt, daß wir das Böse nicht tolerieren müssen. „Jesus ging in den Tempel und … stieß die Tische der Geldwechsler um.”16 Der Herr liebt zwar den Sünder, aber er hat gesagt, er könne „nicht mit der geringsten Billigung auf Sünde blicken”.17 Im Brief an die Galater nennt Paulus einige dieser Sünden. Auf seiner Liste stehen „Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben, Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, … Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid und Mißgunst, Trink- und Eßgelage und ähnliches mehr”.18
Der Liste des Paulus möchte ich noch hinzufügen: Bigotterie, Heuchelei und Vorurteile. Diese wurden auch von den frühen Führern der Kirche im Jahre 1834 verdammt, die vorhersahen, daß die Kirche sich dereinst „unter den finsteren Blicken von Frömmlern und der bösen Nachrede von Heuchlern”19 erheben werde. Der Prophet Joseph Smith betete darum, daß die „Vorurteile vor der Wahrheit zurückweichen” mögen.20 Haß führt zu Streit21 und untergräbt die Würde erwachsener Männer und Frauen in unserem aufgeklärten Zeitalter.
Die Liste des Paulus enthält den Begriff „Unsittlichkeit”. Als Mitgliedern der Kirche, der die heiligen Tempel anvertraut sind, ist uns geboten worden, daß „nichts Unreines in (sein) Haus eingelassen werde, es zu verunreinigen”.22
Dieser Auftrag erfordert große Standhaftigkeit wie auch Liebe. In früheren Tagen waren die Jünger des Herrn fest und wollten lieber den Tod erleiden als Sünden begehen.23 In den Letzten Tagen sind die hingebungsvollen Jünger des Herrn ebenso fest. Wahre Liebe für den Sünder kann mutige Konfrontation nötig machen - nicht aber Duldung! Wahre Liebe fördert kein selbstzerstörerisches Verhalten.
Toleranz und gegenseitige Achtung
Unsere Verpflichtung dem Herrn gegenüber läßt uns Sünde verabscheuen und doch sein Gebot befolgen, unseren Nächsten zu lieben. Zusammen leben wir auf dieser Erde, und wir müssen sie pflegen, uns untertan machen und einander daran teilhaben lassen, und zwar mit Dankbarkeit.24 Jeder von uns kann dazu beitragen, das Leben auf dieser Welt schöner zu machen. Vor nicht langer Zeit gaben die Erste Präsidentschaft und die Zwölf eine öffentliche Stellungnahme heraus, aus der ich zitiere: Es ist ein Unrecht, wenn irgend jemand oder irgendeine Gruppe einem Menschen aufgrund der traurigen, abscheulichen Theorie rassischer oder kultureller Überlegenheit seine unveräußerliche Menschenwürde abspricht.
„Wir rufen alle Menschen in aller Welt auf, sich von neuem solch altbewährten Idealen wie Toleranz und gegenseitiger Achtung zu verpflichten. Wir glauben aufrichtig daran, daß wir, wenn wir einander voll Rücksichtnahme und Anteilnahme anerkennen, feststellen, daß wir alle friedlich zusammenleben können, auch wenn zwischen uns große Unterschiede bestehen.”25
Was da verkündet wurde, bestätigt in unserer Zeit, das Eintreten des Propheten Joseph Smith für die Toleranz. Gemeinsam dürfen wir dem folgen. Wir stehen zusammen, intolerant gegen Übertretung, doch tolerant gegen den Nächsten mit all den Unterschieden, die ihm heilig sind. Unsere geliebten Brüder und Schwestern auf der ganzen Welt sind alle Kinder Gottes. Er ist unser Vater. Sein Sohn, Jesus, ist der Christus. Seine Kirche ist in diesen Letzten Tagen auf Erden wiederhergestellt worden, damit alle Kinder Gottes gesegnet werden. Das bezeuge ich im Namen Jesu Christi. Amen.