Erinnerungen von Oma
Warum war Mari mit Oma nicht einfach geduldiger gewesen?
Mari verdrehte die Augen. Schon wieder erzählte Oma die gleiche Geschichte!
Oma war vor ein paar Monaten bei ihnen eingezogen. Mari hatte sie sehr lieb, aber manchmal war es anstrengend, Zeit mit ihr zu verbringen. Sie erzählte einfach immer wieder die gleichen Geschichten. Manchmal begann sie von vorn, obwohl die Geschichte noch gar nicht fertig war.
Mari seufzte. „Oma“, sagte sie, „das hast du mir schon erzählt.“
Oma sah zu Boden. „Ach, hab ich?“
„Ja“, sagte Mari. „Gerade erst vor ein paar Minuten.“
„Das weiß ich gar nicht mehr“, sagte Oma. Sie wirkte traurig und verwirrt. Dann stand sie auf und ging zurück in ihr Zimmer.
Mari tat es leid, dass Oma ihretwegen traurig war. Seit Opas Tod war Oma einfach immer vergesslicher geworden. Einmal hatte sie vergessen, den Herd auszuschalten, woraufhin es in ihrer Küche gebrannt hatte. Deswegen hatten Mama und Papa sie zu sich geholt.
Mari ging zu Papa in die Küche. „Ich hab Oma wirklich lieb, aber immer die gleichen Geschichten … Ich kann das nicht mehr hören. Wie kann sie vergessen, dass sie mir ein- und dieselbe Geschichte schon fünfzig Millionen Mal erzählt hat!“
Papa lächelte. „Fünfzig Millionen Mal ist wohl etwas übertrieben. Aber ja, es ist nicht leicht. Oma hat eine Krankheit in ihrem Gehirn, deshalb ist sie so vergesslich. Wenn sie aber ihre Geschichten erzählt, vergisst sie nicht, wer sie selbst ist.“
Mari ließ den Kopf hängen. Warum war sie mit Oma nicht einfach geduldiger gewesen? Oma war immer liebevoll zu ihr gewesen. Sie sagte immer „meine Mari“. Mari musste daran denken, wie sie mit Oma im Garten Blumen gepflanzt und Unkraut gejätet hatte.
Sie klopfte an Omas Zimmertür.
„Herein“, sagte Oma.
Mari öffnete die Tür. Oma saß auf einem Stuhl. Auf ihrem Schoß lagen die geöffneten heiligen Schriften.
„Oma, wie haben du und Opa eigentlich die Kirche kennengelernt?“, fragte Mari.
Oma hob den Kopf. „Du möchtest, dass ich von Opa und mir erzähle?“, fragte sie mit hoffnungsvoller Stimme.
Mari setzte sich neben Oma. „Ja! Ich möchte alles wissen!“ Mari ergriff Omas Hand. „Du bist ein ganz besonderer Mensch für mich, Oma. Das wirst du immer sein!“
Oma lächelte, lehnte sich zurück und begann mit ihrer Geschichte.
Mari hatte die Geschichte schon oft gehört, aber diesmal war sie weder genervt noch ungeduldig, ganz im Gegenteil: Sie spürte Liebe und Erstaunen. Sie wusste, dass sich ihre Großeltern unter großen Opfern in Deutschland der Kirche angeschlossen hatten. Sie waren weit weggezogen, damit sie in der Nähe anderer Mitglieder leben konnten.
Als Omas Geschichte zu Ende war, lächelte sie. „Du bist ein gutes Mädchen, meine Mari“, sagte sie.
Mari umarmte ihre Oma. „Danke, Oma. Ich hab dich lieb!“