Die kommende Vollkommenheit
Wir brauchen nicht erschrecken, wenn unsere aufrichtigen Anstrengungen um Vollkommenheit jetzt so mühsam und ohne Ende scheinen. … In ihrer Fülle kann sie nur nach der Auferstehung und nur durch den Herrn kommen.
Wenn ich fragen würde, welches der Gebote des Herrn am schwierigsten zu halten sei, würden viele von uns Matthäus 5:48 zitieren: „Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.‟
Weil jeder von uns von der geistigen wie der zeitlichen Vollkommenheit weit entfernt ist, sorgen wir uns darüber, wie wir die Gebote halten. Wir werden ständig an unsere Unvollkommenheit erinnert. Wir schließen die Autoschlüssel ins Auto ein oder vergessen gar, wo das Auto geparkt ist. Manchmal gehen wir von einem Zimmer ins andere und haben vergessen, warum wir dorthin gegangen sind.
Unsere Unvollkommenheit kann deprimierend sein, wenn wir unser persönliches Verhalten mit den hohen Grundsätzen vergleichen, die der Herr von uns erwartet. Ich fühle mit den gewissenhaften Heiligen, die wegen ihrer Unvollkommenheit deprimiert sind und sich so Lebensfreude rauben lassen.
Wir müssen uns vor Augen halten: Menschen sind, damit sie Freude haben können - und nicht Schuldgefühle.
Wir müssen auch daran denken, daß der Herr keine Gebote gibt, die wir nicht halten können. Manchmal verstehen wir die Gebote aber nicht ganz.
Wir werden die Vollkommenheit besser verstehen, wenn wir sie in zwei Klassen einteilen. Die erste bezieht sich ausschließlich auf dieses Leben - Vollkommenheit in der Sterblichkeit. Die zweite Klasse bezieht sich ausschließlich auf das nächste Leben - unsterbliche oder ewige Vollkommenheit.
Vollkommenheit in der Sterblichkeit
In diesem Leben können bestimmte Handlungen vervollkommnet werden. Ein Baseballspieler kann ein fehlerfreies Spiel spielen. Ein Chirurg kann eine Operation ohne Fehler durchführen. Ein Musiker kann ein Musikstück ohne Fehler spielen. Genausogut kann man Vollkommenheit erreichen im Pünktlichsein, im Zehntenzahlen, im Halten des Wortes der Weisheit, und so weiter. Die ungeheure Anstrengung, die notwendig ist, um solche Selbstbeherrschung zu erreichen, wird mit einer tiefen inneren Befriedigung belohnt. Wichtiger ist jedoch, daß uns die geistigen Ziele, die wir in der Sterblichkeit erreichen, in die Ewigkeit begleiten werden.
Jakobus gab eine praktische Richtschnur, mit der die Vollkommenheit in der Sterblichkeit gemessen werden kann. Er sagte: „Wer sich in seinen Worten nicht verfehlt, ist ein vollkommener Mann.‟
In der Schrift werden Noach, Set und Ijob als vollkommene Männer bezeichnet. Zweifellos trifft diese Beschreibung auch auf eine große Zahl von Heiligen in verschiedenen Evangeliumszeiten zu. Alma sagt: „Es gab viele, überaus viele‟, die vor dem Herrn rein waren.
Das bedeutet nicht, daß diese Menschen fehlerlos waren oder sich nicht verbessern brauchten. Der Prozeß der Vervollkommnung schließt ein, daß Schwierigkeiten überwunden und Schritte der Umkehr gegangen werden müssen, die sehr wehtun können. In der Formung des Charakters nimmt die Züchtigung einen gebührenden Platz ein, denn wir wissen: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er.‟
Vollkommenheit im irdischen Leben kann erreicht werden, wenn wir versuchen, jede uns obliegende Pflicht zu erfüllen, jedes Gesetz zu halten und in unserem Bereich so vollkommen zu sein, wie es unser Vater im Himmel in seinem Bereich ist. Wenn wir unser Bestes geben, wird der Herr uns gemäß unseren Werken und gemäß den Wünschen unseres Herzens segnen.
Ewige Vollkommenheit
Aber Jesus forderte mehr als nur irdische Vollkommenheit. Als er die Worte sprach: „wie … auch euer himmlischer Vater (vollkommen) ist‟, hat er unseren Blick über die Grenzen der Sterblichkeit hinausgerichtet. Unser himmlischer Vater hat ewige Vollkommenheit. Diese Tatsache verdient eine sehr viel breitere Betrachtungsweise.
Kürzlich habe ich die englischen und griechischen Ausgaben des Neuen Testaments studiert und mich darauf konzentriert, wie der Begriff vollkommen und seine Ableitungen benutzt werden. Das gemeinsame Studium beider Sprachen führte zu interessanten Ergebnissen. Das Griechische ist die ursprüngliche Sprache des Neuen Testaments.
In Matthäus 5:48 wurde das Wort vollkommen vom griechischen teleios übersetzt, was „vollendet‟ bedeutet. Teleios ist ein Eigenschaftswort, das vom Hauptwort telos abgeleitet wird. Telos bedeutet „Endzweck‟ oder „Ziel‟.
Der Infinitiv des Verbs ist teleiono und bedeutet „ein entferntes Ziel erreichen, voll entwickelt zu sein, zu vollenden oder etwas zu beenden.‟
Bemerkenswert ist, daß das Wort nicht beinhaltet „frei von Irrtümern‟; es heißt „ein entferntes Ziel erreichen‟. Als die Schreiber des griechischen Neuen Testaments Vollkommenheit als ein Verhalten beschreiben wollten - ein exaktes oder hervorragendes menschliches Bemühen haben sie nicht eine Form des Wortes teleios, sondern andere Begriffe gewählt.
Teleios ist uns nicht ganz fremd. Von diesem Wort stammt die Vorsilbe tele-, die wir heute jeden Tag verwenden. Telefon bedeutet wörtlich „über eine Entfernung miteinander sprechen‟, Television heißt „in die Ferne sehen‟, Teleobjektiv heißt „ein fernes Licht‟, und so weiter.
Mit diesen Hintergrundinformationen möchten wir eine weitere sehr bedeutende Aussage des Herrn betrachten. Kurz vor seiner Kreuzigung sagte er: „am dritten Tag werde ich vollendet sein‟.
Stellen Sie sich das vor! Der Herr - ohne Sünde, ohne Fehler - und nach unseren irdischen Maßstäben schon vollkommen sagt, daß seine eigene Vollkommenheit noch in der Zukunft liegt.
Auf seine Auferstehung würde seine ewige Vollkommenheit folgen und er „alle Macht, im Himmel wie auch auf Erden (empfangen)‟. Die Vollkommenheit, die uns der Herr in Aussicht stellt, ist mehr als nur fehlerfreies Verhalten. Sie ist die ewige Erwartung, die der Herr in seinem großen Bittgebet an den Vater richtete - daß wir vollkommen gemacht und fähig werden, mit ihnen in den Ewigkeiten zu wohnen.
Das gesamte Werk und die Herrlichkeit des Herrn sind die Unsterblichkeit und das ewige Leben jedes Menschen.
Er kam in die Welt, um den Willen seines Vaters zu tun, der ihn gesandt hat.
Seine heilige Verpflichtung wurde schon vor der Schöpfung vorausgesehen und seit Anbeginn der Welt von allen heiligen Propheten vorhergesagt.
Das Sühnopfer Christi erfüllte den lang erhofften Zweck, für den er auf die Erde gekommen war. Seine letzten Worte am Kreuz in Golgota betreffen das Ziel seiner Mission - für alle Menschen zu sühnen. Er sagte: „Es ist vollbracht.‟
Es überrascht uns nicht, daß das griechische Wort, von dem der Begriff „vollbracht‟ abgeleitet wurde, teleios ist.
Das Buch Mormon bestätigt, daß Jesus die ewige Vollkommenheit erst nach seiner Auferstehung erlangte. Das Buch beschreibt den Besuch des auferstandenen Herrn bei den Menschen im alten Amerika. Dort wiederholte er die zuvor zitierte wichtige Weisung, machte aber einen bemerkenswerten Zusatz. Er sagte: „Darum möchte ich, daß ihr vollkommen seiet wie ich oder wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.‟
Dieses Mal bezeichnete er sich, so wie seinen Vater, als eine vollkommene Person. Vor seiner Auferstehung hatte er sich so nicht bezeichnet.
Um die ewige Vollkommenheit erlangen zu können, ist es erforderlich, aufzuerstehen. Unser Körper, der sterblich und vergänglich ist, wird dank des Sühnopfers Jesu Christi unvergänglich werden. Unser Körper, der jetzt Krankheit, Tod und Verwesung unterworfen ist, wird unvergängliche Herrlichkeit erhalten.
Jetzt wird unser Körper durch die Lebenskraft, die im Blut ist, erhalten und wird altern, dann aber wird der Körper durch Geist erhalten, und er wird unveränderlich und über den Tod erhaben.
Die ewige Vollkommenheit ist denjenigen vorbehalten, die alles überwinden und die Fülle des Vaters in seinen ewigen Wohnungen ererben. Vollkommenheit besteht darin, daß man ewiges Leben erreicht, das Leben Gottes.
Die Verordnungen und Bündnisse des Tempels
Die Schrift nennt weitere wichtige Vorbedingungen für die ewige Vollkommenheit und spricht von den Verordnungen und Bündnissen des Tempels.
Kein für sein Tun verantwortlicher Mensch kann ohne die Verordnungen des Tempels die Erhöhung im celestialen Reich erlangen. Die Begabung und die Siegelungen dienen unserer eigenen Vervollkommnung und werden durch unsere Glaubenstreue gesichert.
Diese Vorbedingung schließt unsere Vorfahren mit ein. Paulus lehrte, „sie sollten nicht ohne uns vollendet werden.‟
Auch in diesem Vers ist der griechische Begriff, der als „vollendet‟ übersetzt wurde, eine Ableitung des Wortes teleios. In den neuzeitlichen Offenbarungen ist der Herr deutlicher geworden. Sein Prophet schrieb: „Meine sehr geliebten Brüder und Schwestern, laßt mich euch versichern, daß es sich hier um Grundsätze hinsichtlich der Toten und der Lebenden handelt, die man nicht leichthin übergehen kann, da sie ja unsere eigene Errettung betreffen. Denn deren Errettung ist für unsere eigene Errettung notwendig und wesentlich. … Sie (würden)
nicht ohne uns vollkommen gemacht, … und auch wir können ohne unsere Toten nicht vollkommen gemacht werden.‟
Ermutigung durch das Beispiel des Erretters
Unser Aufstieg auf dem Pfad zur Vollkommenheit wird uns durch Ermutigungen aus der Schrift leichter gemacht. Die Schrift verheißt uns, daß wir, wenn wir in allem treu sind, wie die Gottheit werden sollen. Johannes, der geliebte Apostel, schrieb: „Wir heißen Kinder Gottes. Wir wissen, daß wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Jeder, der dies von ihm erhofft, heiligt sich, so wie Er heilig ist.‟
Weitere Ermutigung erhalten wir, wenn wir dem Beispiel Jesu folgen, der gesagt hat: „Seid heilig, denn ich bin heilig.‟ Seine Hoffnung für uns wird ganz deutlich! Er erklärt: „Was für Männer sollt ihr sein? Wahrlich, ich sage euch: So, wie ich bin.‟ Darum zeigen wir unsere Verehrung für Jesus am besten, indem wir ihm nacheifern.
Manche Menschen haben die Nachfolge Christi nicht auf sich genommen, weil ihnen seine Grundsätze unklar oder nicht hoch genug waren. Das Gegenteil ist der Fall. Einige haben seine Lehren beiseite geschoben, weil sie zu genau sind oder so hohe Erwartungen stellen, die nicht zu verwirklichen seien. Solche hohen Grundsätze aber, wenn man sie ernsthaft verfolgt, bringen großen inneren Frieden und unvergleichliche Freude.
Niemand kann sich mit Jesus Christus vergleichen, und es gibt keine Ermahnung, die seiner großen Hoffnung nahekommt: „Darum möchte ich, daß ihr vollkommen seiet wie ich oder wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.‟
Diese göttliche Aufforderung bestätigt die Tatsache, daß wir, als gezeugte Kinder himmlischer Eltern die Möglichkeit bekommen haben, wie unsere himmlische Eltern zu werden, so wie irdische Kinder wie ihre irdischen Eltern werden können.
Der Herr hat seine Kirche wiederhergestellt, um uns bei der Vorbereitung auf die Vollkommenheit zu helfen. Paulus sagte, daß der Herr seiner Kirche Apostel, Propheten und Lehrer gegeben hat, um „die Heiligen für die Erfüllung ihres Dienstes zu rüsten, für den Aufbau des Leibes Christi. So sollen wir alle zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, damit wir zum vollkommenen Menschen werden und Christus in seiner vollendeten Gestalt darstellen.‟
Die vollendete Gestalt, die Paulus in diesem Zitat beschreibt, ist der vollendete Mensch - teleios - die verherrlichte Seele! Moroni lehrte, wie dieses herrliche Ziel erreicht wird. Sein Gebot wird zu allen Zeiten ein Gegenpol zur Niedergeschlagenheit und ein Rezept der Freude sein. Ich wiederhole seine eindringliche Bitte: „Kommt zu Christus, und werdet in ihm vollkommen, und verzichtet auf alles, was ungöttlich ist, … liebt Gott mit aller Macht, ganzem Sinn und aller Kraft … damit ihr … in Christus vollkommen seiet, … heilig, … ohne Makel.‟
Bis dahin, Brüder und Schwestern, laßt uns unser Bestes tun und täglich besser werden. Wenn sich unsere Unvollkommenheiten zeigen, können wir weiter daran arbeiten, sie abzulegen. Wir können unsere eigenen und die Schwächen geliebter Menschen leichter vergeben. Wir können getröstet und nachsichtig sein. Der Herr lehrt: „Ihr seid jetzt noch nicht imstande, die Gegenwart Gottes auszuhalten; … darum bleibt geduldig, bis ihr vollkommen geworden seid.‟
Wir brauchen nicht erschrecken, wenn unsere aufrichtigen Anstrengungen um Vollkommenheit jetzt so mühsam und ohne Ende scheinen. Die Vollkommenheit kommt. In ihrer Fülle kann sie nur nach der Auferstehung und nur durch den Herrn kommen. Die Vollkommenheit erwartet alle diejenigen, die den Herrn lieben und seine Gebote halten. Die Vollkommenheit umfaßt Throne, Reiche, Mächte, Gewalten und Herrschaften. Auf dieses Ziel hin harren wir aus.
Diese ewige Vollkommenheit hält Gott für jeden von uns bereit. Davon gebe ich Zeugnis, im Namen Jesu Christi. Amen.