2000–2009
Der Zehnte – ein Gebot selbst für die Mittellosen
April 2005


Der Zehnte – ein Gebot selbst für die Mittellosen

Glaubenstreue hat sich schon immer durch aufrichtiges Opfer ausgezeichnet.

In dem zeitlosen Klassiker Eine Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens hofft Bob Cratchit, den Weihnachtstag mit seiner Familie zu verbringen. „,Wenn’s Ihnen recht ist, Sir!‘“, bittet er seinen Arbeitgeber, Mr. Scrooge.

„,Ist mir nicht recht‘, antwortet Scrooge,, und gehört sich nicht. Wenn ich Ihnen dafür eine halbe Krone abzöge, … kämen Sie sich schlecht behandelt vor‘ …

,Und doch fährt Scrooge fort,, halten Sie mich nicht für schlecht behandelt, wenn ich Ihnen für einen ganzen Tag Geld ohne Arbeit verabreiche.‘

Der Schreiber bemerkt, dass dies ja nur einmal im Jahr vorkomme.

,Eine schlechte Ausrede, um einem an jedem 25. Dezember das Geld aus der Tasche zu stehlen!‘, murrt Scrooge.“1

Ihm ist, wie jedem selbstsüchtigen oder „natürlichen Menschen“, kein Opfer jemals recht.

Der natürliche Mensch neigt dazu, nur an sich selbst zu denken – er setzt nicht nur sich selbst an die erste Stelle, sondern es kommt auch nur selten, wenn überhaupt, jemand an der zweiten, und zwar einschließlich Gott. Für den natürlichen Menschen ist Opfern nicht selbstverständlich. Er verspürt einen unstillbaren Hunger nach mehr. Seine sogenannten Bedürfnisse scheinen sein Einkommen stets zu übersteigen, sodass es ihm nie gelingt, einmal „genug“ zu haben – genau wie bei dem Geizhals Scrooge.

Da der natürliche Mensch dazu neigt, alles zu horten oder zu konsumieren, gebot der Herr in seiner Weisheit dem Volk Israel, zu opfern, und zwar nicht die letzten und armseligsten Tiere der Herde, sondern die Erstlinge – nicht das, was nach der Ernte auf den Feldern blieb, sondern die Erstlingsfrüchte (siehe Deuteronomium 26:2, Mosia 2:3, Mose 5:5). Glaubenstreue hat sich schon immer durch aufrichtiges Opfer ausgezeichnet.

Bei denen, die nicht opfern, gibt es zwei Extreme: Eines ist der reiche, gierige Mensch, der nicht opfern will, und das andere Extrem ist der arme, mittellose Mensch, der glaubt, er könne es nicht. Aber kann man den Hungernden bitten, noch weniger zu essen? Gibt es einen so tiefen Grad der Armut, dass kein Opfer erwartet wird, oder eine Familie, die so verarmt ist, dass das Zahlen des Zehnten nicht mehr verlangt werden sollte?

Der Herr benutzt in seinen Belehrungen oft extreme Umstände, um einen Grundsatz zu veranschaulichen. Die Geschichte der Witwe von Sarepta ist ein Beispiel extremer Armut, das er für die Lehre nutzt, dass die Barmherzigkeit das Opfern genauso wenig berauben kann wie die Gerechtigkeit. Der eigentliche Maßstab für ein Opfer besteht weniger darin, was man gibt, um zu opfern, als vielmehr darin, was man opfert, um zu geben (siehe Markus 12:43). Glaube wird weniger geprüft, wenn die Schränke voll sind, sondern vielmehr, wenn sie leer sind. Im entscheidenden Augenblickt formt eine Krise den Charakter nicht – sie offenbart ihn. Die Krise ist der Test.

Die Witwe von Sarepta lebte zur Zeit des Propheten Elija, durch dessen Wort der Herr eine dreieinhalbjährige Dürre über das Land brachte (siehe Lukas 4:25). Die Hungersnot wurde so schlimm, dass viele schließlich dem Tode nah waren. Das sind die Umstände, unter denen die Witwe lebte.

Der Herr sprach zu Elija: „Mach dich auf, und geh nach Sarepta … Ich habe dort einer Witwe befohlen, dich zu versorgen.“ (1 Könige 17:9.) Es ist interessant, dass Elija erst angewiesen wird, nach Sarepta zu gehen, als die Witwe und ihr Sohn dem Tode nahe sind. In dieser Extremsituation – im Angesicht des Hungertodes – wird ihr Glaube geprüft.

Als er in die Stadt kommt, trifft er sie beim Holzauflesen.

„Er bat sie: Bring mir in einem Gefäß ein wenig Wasser zum Trinken!

Als sie wegging, um es zu holen, rief er ihr nach: Bring mir auch einen Bissen Brot mit!

Doch sie sagte: So wahr der Herr, dein Gott, lebt: Ich habe nichts mehr vorrätig als eine Hand voll Mehl im Topf und ein wenig Öl im Krug. Ich lese hier ein paar Stücke Holz auf und gehe dann heim, um für mich und meinen Sohn etwas zuzubereiten. Das wollen wir noch essen und dann sterben.“ (Vers 10 bis 12.)

Eine Hand voll Mehl war natürlich sehr wenig, vielleicht gerade genug für eine Portion, daher ist Elijas Antwort faszinierend. Da heißt es: „Elija entgegnete ihr: Fürchte dich nicht! Geh heim, und tu, was du gesagt hast. Nur mache zuerst für mich ein kleines Gebäck.“ (Vers 13, Hervorhebung hinzugefügt.)

Klingt das nicht selbstsüchtig, nicht nur nach dem ersten Stück zu fragen, sondern nach dem wahrscheinlich auch einzigen Stück? Haben unsere Eltern uns nicht gelehrt, anderen den Vortritt zu lassen, vor allem ein Herr einer Dame, und erst recht einer hungernden Witwe? Ihre Wahl – essen oder die letzte Mahlzeit opfern und damit den Tod beschleunigen? Sie würde vielleicht das eigene Essen opfern, aber kann sie das Essen opfern, das für ihren hungernden Sohn bestimmt ist?

Elija verstand die Lehre, dass der Segen folgt, wenn der Glaube geprüft wurde (siehe Ether 12:6; LuB 132:5). Er war nicht selbstsüchtig. Als Diener des Herrn war Elija gekommen, um zu geben, nicht um zu nehmen. Die Geschichte geht weiter:

„Nur mache zuerst für mich ein kleines Gebäck [den Erstling!], und bring es zu mir heraus! Danach kannst du für dich und deinen Sohn etwas zubereiten;

Denn so spricht der Herr, der Gott Israels: Der Mehltopf wird nicht leer werden und der Ölkrug nicht versiegen bis zu dem Tag, an dem der Herr wieder Regen auf den Erdboden sendet.

Sie ging und tat, was Elija gesagt hatte. So hatte sie mit ihm und ihrem Sohn viele Tage zu essen.

Der Mehltopf wurde nicht leer und der Ölkrug versiegte nicht, wie der Herr durch Elija versprochen hatte.“ (Vers 13 bis 16; Hervorhebung hinzugefügt.)

Dass der Herr seine Lehren mit extremen Beispielen erläutert, soll auch bewirken, dass Ausflüchte hinfällig werden. Wenn der Herr sogar von der ärmsten Witwe erwartet, dass sie ihr Scherflein beiträgt, was heißt das für alle anderen, denen es nicht recht ist oder für die es nicht leicht ist zu opfern?

Kein Bischof, kein Missionar darf jemals zögern und es darf ihm nicht an Glauben mangeln, die Armen das Gesetz des Zehnten zu lehren. Das Gefühl, sie könnten ihn sich nicht leisten, muss ersetzt werden durch: Sie können es sich nicht leisten, ihn nicht zu zahlen.

Zu den ersten Pflichten, durch die ein Bischof den Bedürftigen helfen kann, gehört die Aufforderung, den Zehnten zu zahlen. Wie die Witwe soll eine bedürftige Familie, die vor der Wahl zwischen dem Zehnten und Essen steht, sich für den Zehnten entscheiden. Für das Essen und was sie sonst noch unbedingt braucht, um nicht abhängig zu sein, kann dann der Bischof sorgen.

Im Oktober 1998 verwüstete der Hurricane Mitch weite Teile Mittelamerikas. Präsident Gordon B. Hinckley war um die Opfer dieser Katastrophe sehr besorgt. Viele von ihnen hatten alles verloren – Nahrung, Kleidung und Hausrat. Er besuchte die Heiligen in San Pedro Sula und Tegucigalpa in Honduras und in Managua in Nicaragua. Was der Prophet der Neuzeit in jeder Stadt zu sagen hatte, glich dem, was der Prophet Elija einst liebevoll der hungernden Witwe sagte: Bringt Opfer und befolgt das Gesetz des Zehnten.

Wie kann man jemanden, der so mittellos ist, auffordern zu opfern? Präsident Hinckley wusste, dass die Hilfssendungen mit Lebensmitteln und Kleidung, die die Menschen bekommen hatten, helfen würden, die Krise zu überleben, aber seine Sorge und Zuneigung zu ihnen ging weit darüber hinaus. So wichtig humanitäre Hilfe auch ist – er wusste, dass die wichtigste Hilfe von Gott kommt, nicht von den Menschen. Der Prophet wollte ihnen helfen, die Schleusen des Himmels zu öffnen – so, wie es der Herr im Buch Maleachi verheißt (siehe Maleachi 3:10, Mosia 2:24).

Präsident Hinckley gab ihnen zu verstehen, dass sie immer Essen auf dem Tisch, Kleidung am Leib und ein Dach über dem Kopf haben würden, wenn sie ihren Zehnten zahlten.

Bei einer Mahlzeit ist es viel einfacher, gleich zu Beginn einen Teller mehr hinzustellen, als noch etwas zu essen zu finden für jemanden, der erst kommt, wenn die Mahlzeit vorbei ist und das Essen bereits serviert wurde. Ist es ebenso nicht einfacher, dem Herrn die Erstlinge oder die ersten Früchte zu geben, als zu hoffen, dass genügend für ihn übrig bleibt? Sollte er als Urheber unseres Festmahls nicht der Ehrengast sein, der Erste, der bedient wird?

Meine liebe Mutter, Evelyn Robbins, lehrte mich das Gesetz des Zehnten, als ich vier Jahre alt war. Sie gab mir eine leere Pflasterdose, so eine Dose aus Blech mit einem Schnappverschluss. Sie trug mir auf, meine Zehnten-Pennys darin aufzubewahren und sie dann zum Bischof zu bringen. Ich werde ihr ewig dankbar sein – für diese Pflasterdose und für die Segnungen, die ich durch das Zahlen des Zehnten erhalten habe.

In der Weihnachtsgeschichte ändert sich Mr. Scrooge – er bleibt nicht der Mann, der er war. Ebenso ist dies Evangelium eines der Umkehr. Wenn der Geist uns eingibt, das Gesetz des Opferns besser zu befolgen, sollten wir noch heute anfangen, uns zu ändern.

Ich bin so dankbar für den Erretter, der durch sein Opfer ein vollkommenes Beispiel für Gehorsam war – der „sich selbst als Opfer für Sünde“ darbrachte und, wie Lehi sagt, „die Erstlingsgabe für Gott“ wurde (2 Nephi 2:7,9; Hervorhebung hinzugefügt). Ich gebe Zeugnis von ihm und diesen, seinen Lehren, im Namen Jesu Christi. Amen.

  1. Nach The Annotated Christmas Carol, Hg. Michael Patrick Hearn, 1976, Seite 69