Wartende auf dem Weg nach Damaskus
Wer eifrig danach strebt, von Christus zu lernen, lernt ihn schließlich kennen.
Eines der denkwürdigsten Ereignisse der Weltgeschichte trug sich auf dem Weg nach Damaskus zu. Sie kennen bestimmt die Geschichte von Saulus, einem jungen Mann, der „versuchte[,] die Kirche zu vernichten; er drang in die Häuser ein [und lieferte die Heiligen] ins Gefängnis ein.“1 Saulus war so feindselig, dass viele Mitglieder der Urkirche nach Jerusalem flohen, in der Hoffnung, seinem Zorn zu entgehen.
Saulus stellte ihnen nach. Doch „als er sich bereits Damaskus näherte, [umstrahlte] ihn plötzlich ein Licht vom Himmel …
Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“2
In diesem Augenblick der Wandlung änderte Saulus sich für immer. Sogar die Welt änderte sich.
Wir wissen, dass Kundgebungen wie diese sich ereignen. Wir bezeugen sogar, dass ein Junge namens Joseph Smith im Jahr 1820 eine vergleichbare Erfahrung mit Gott machte. Wir geben klar und deutlich Zeugnis, dass der Himmel wieder offensteht und dass Gott zu seinen Propheten und Aposteln spricht. Gott hört und erhört die Gebete seiner Kinder.
Dennoch meinen manche, wenn sie nicht etwas Ähnliches erlebten wie Saulus oder Joseph Smith, könnten sie nicht glauben. Sie stehen an den Wassern der Taufe, steigen jedoch nicht hinein. Sie warten an der Schwelle eines Zeugnisses, bringen es jedoch nicht fertig, die Wahrheit anzuerkennen. Statt auf dem Weg eines Jüngers kleine Schritte im Glauben zu gehen, wollen sie durch dramatische Ereignisse zum Glauben gebracht werden.
Sie bringen ihre Tage damit zu, auf dem Weg nach Damaskus zu warten.
Glaube stellt sich Schritt für Schritt ein
Es gibt eine liebe Schwester, die schon ihr Leben lang ein treues Mitglied der Kirche war. Doch privat hatte sie Sorgen. Jahre zuvor war ihre Tochter nach kurzer Krankheit gestorben, und die Wunden aus dieser Tragödie quälten sie noch immer. Sie zerbrach sich den Kopf über die tiefgründigen Fragen, die mit so einem Geschehnis einhergehen. Sie gab offen zu, dass ihr Zeugnis nicht mehr so war wie zuvor. Sie meinte, wenn der Himmel sich ihr nicht kundtäte, könne sie nie wieder glauben.
Und so wurde sie eine Wartende.
Es gibt noch viele andere, die aus verschiedenen Gründen auf dem Weg nach Damaskus warten. Sie schieben es auf, sich voll und ganz als Jünger zu engagieren. Sie hoffen zwar, das Priestertum zu erhalten, zögern aber, sich dieses Vorzugs würdig zu erweisen. Sie wünschen sich, in den Tempel zu gehen, zaudern aber, den letztlich dafür nötigen Glauben aufzubringen. Sie warten und warten, dass Christus zu ihnen gebracht wird wie ein prächtiges Gemälde von Carl Bloch – um ihnen ein für alle Mal ihre Zweifel und Ängste zu nehmen.
Die Wahrheit ist: Wer eifrig danach strebt, von Christus zu lernen, lernt ihn schließlich kennen. Er erhält persönlich ein göttliches Bild von unserem Meister, auch wenn es meist in Form eines Puzzles ist – Stück für Stück. Vielleicht kann man nicht jedes einzelne Teil an sich leicht erkennen; es könnte unklar sein, wie es in das Gesamtbild passt. Doch jedes Teil hilft uns, dieses Gesamtbild ein wenig klarer zu erkennen. Nachdem schließlich genügend Teile zusammengefügt sind, erkennen wir, wie wunderschön alles ist. Wenn wir dann auf unsere Erfahrungen zurückblicken, erkennen wir, dass der Erretter wirklich zu uns gekommen ist – nicht auf einmal, sondern ruhig, sanft, fast unmerklich.
Das können wir erleben, wenn wir im Glauben vorangehen und nicht allzu lange auf dem Weg nach Damaskus warten.
Hören und befolgen
Ich bezeuge Ihnen, dass unser Vater im Himmel seine Kinder liebt. Er liebt uns. Er liebt Sie. Wenn es sein muss, trägt der Herr Sie sogar über Hürden hinweg, wenn Sie mit reuigem Herzen und zerknirschtem Geist seinen Frieden suchen. Oftmals spricht er auf eine Weise zu uns, die wir nur mit dem Herzen hören können. Um seine Stimme besser zu hören, wäre es weise, den weltlichen Lärm in unserem Leben leiser zu stellen. Wenn wir die Eingebungen des Geistes ignorieren oder blockieren, warum auch immer, werden sie schwächer, bis wir sie gar nicht mehr hören können. Lernen wir doch, auf die Eingebungen des Geistes zu hören, und befolgen wir sie dann bereitwillig.
Unser verehrter Prophet, Thomas S. Monson, ist uns in dieser Hinsicht ein Vorbild. Es gibt zahlreiche Begebenheiten, bei denen er auf die Einflüsterungen des Geistes gehört hat. Elder Jeffrey R. Holland hat eines dieser Beispiele erzählt.
Als Präsident Monson einmal einen Auftrag in Louisiana hatte, fragte ihn ein Pfahlpräsident, ob er Zeit hätte, ein zehnjähriges Mädchen namens Christal zu besuchen, das Krebs im Endstadium hatte. Christals Familie hatte gebetet, dass Präsident Monson kommen möge. Doch sie wohnten weit weg, und der Terminplan war so eng, dass keine Zeit dafür war. So bat Präsident Monson stattdessen darum, dass alle, die bei der Pfahlkonferenz ein Gebet sprachen, auch für Christal beten mögen. Gewiss würden der Herr und die Familie das verstehen.
In der Versammlung am Samstag, als Präsident Monson aufstand, um zu sprechen, flüsterte ihm der Geist zu: „Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes.“3
„Seine Notizen verschwammen ihm vor den Augen. Er bemühte sich, beim vorgesehenen Thema der Versammlung zu bleiben, doch der Name und das Bild des kleinen Mädchens gingen ihm nicht aus dem Sinn.“4
Da hörte er auf den Geist und stellte seinen Terminplan um. Früh am nächsten Morgen ließ Präsident Monson die neunundneunzig zurück und fuhr kilometerweit, um am Krankenbett der einen zu sein.
Als er ankam, „blickte er auf ein Kind herab, das zu krank war, um aufzustehen, und zu schwach, um zu sprechen. Infolge der Krankheit war sie erblindet. Tief bewegt von diesem Anblick und vom Geist des Herrn nahm Bruder Monson die zarte Hand des Kindes in seine eigene. ‚Christal‘, flüsterte er,, ich bin da.‘
Mit großer Anstrengung antwortete sie flüsternd:, Bruder Monson, ich wusste, Sie würden kommen.‘“5
Meine lieben Brüder und Schwestern, bemühen wir uns doch, denen zuzugehören, bei denen der Herr sich darauf verlassen kann, dass sie seine Einflüsterungen hören, und die dann, wie Saulus auf seinem Weg nach Damaskus, den Herrn fragen, was sie tun sollen.6
Dienen
Ein weiterer Grund, weshalb wir die Stimme des Herrn in unserem Leben manchmal nicht erkennen, ist, dass die Offenbarungen des Geistes vielleicht nicht unmittelbar als Antwort auf unsere Gebete kommen.
Der Vater im Himmel erwartet von uns, dass wir eine Sache zuerst durcharbeiten und dann um Führung beten, wenn wir bei Fragen und Sorgen in unserem Leben Antworten suchen. Wir haben die Zusicherung des himmlischen Vaters, dass er unsere Gebete hört und darauf Antwort gibt. Die Antwort kann durch kluge Hinweise guter Freunde oder Angehöriger kommen, durch die heiligen Schriften oder die Worte der Propheten.
Meine Erfahrung ist, dass einige der machtvollsten Eingebungen, die wir erhalten, nicht nur uns selbst, sondern auch anderen zugutekommen. Wenn wir nur an uns selbst denken, entgehen uns möglicherweise manche der beeindruckendsten geistigen Erlebnisse und der tiefgründigsten Offenbarungen unseres Lebens.
Präsident Spencer W. Kimball bezog sich auf diesen Gedanken, als er sagte: „Gott sieht uns, und er wacht über uns. Was wir brauchen, gibt er uns aber normalerweise durch andere Menschen. Es ist also sehr wichtig, dass wir einander … dienen.“7 Brüder und Schwestern, jeder von uns hat sich durch Bündnisse verpflichtet, auf die Bedürfnisse anderer zu achten und so zu dienen, wie der Heiland es tat – indem wir auf unsere Mitmenschen zugehen, ihnen ein Segen sind und sie aufrichten.
Oftmals werden unsere Gebete nicht erhört, solange wir noch auf den Knien sind, sondern wenn wir wieder auf den Beinen sind und dem Herrn und unseren Mitmenschen dienen. Wenn wir selbstlos dienen und uns weihen, wird unser Geist geläutert, uns fallen geistig die Schuppen von den Augen, und die Fenster des Himmels öffnen sich uns. Wenn wir zur Antwort auf das Gebet eines anderen werden, finden wir oftmals die Antwort auf unser eigenes.
Die Botschaft verbreiten
Es kommt vor, dass der Herr uns etwas offenbart, was nur für uns bestimmt ist. Dennoch betraut er in sehr, sehr vielen Fällen diejenigen mit einem Zeugnis von der Wahrheit, die es an andere weitergeben werden. Das trifft auf jeden Propheten seit den Tagen Adams zu. Ja, der Herr erwartet von den Mitgliedern seiner Kirche sogar, „allezeit [ihren] Mund auf[zu]tun und [sein] Evangelium mit dem Ton der Freude [zu] verkünden.“8
Das ist nicht immer leicht. Manche würden lieber einen Handkarren über die Prärie ziehen, als mit ihren Freunden oder Arbeitskollegen über Glauben und Religion zu sprechen. Sie machen sich Sorgen, wie sie selbst wahrgenommen werden oder wie es ihre Beziehungen beeinträchtigen könnte. Das muss nicht so sein, denn wir haben eine frohe Botschaft zu verkünden, eine Botschaft der Freude!
Vor Jahren lebten und arbeiteten meine Familie und ich unter Menschen, von denen kaum einer unseres Glaubens war. Wenn man uns fragte, wie unser Wochenende war, versuchten wir, die üblichen Themen – wie Sportveranstaltungen, Kino oder das Wetter – auszulassen und über religiöse Erlebnisse zu sprechen, die wir am Wochenende als Familie hatten; was zum Beispiel ein Jugendlicher über die Grundsätze in der Broschüre Für eine starke Jugend gesagt hatte oder wie uns die Worte eines jungen Mannes bewegt hatten, der auf Mission ging, oder wie das Evangelium und die Kirche uns als Familie geholfen hatten, bestimmte Schwierigkeiten zu überwinden. Wir versuchten, nicht zu predigen oder überheblich zu sein. Meiner Frau Harriet gelang es immer besonders gut, etwas Inspirierendes, Erbauliches oder Humorvolles zu finden, worüber wir berichten konnten. Das führte oftmals zu tieferen Gesprächen. Interessanterweise bekamen wir oft, wenn wir uns mit Freunden darüber austauschten, wie wir so manches im Leben bewältigen, zu hören: „Ihr habt es leicht, ihr habt ja eure Kirche.“
Mit all den verbindenden Medien und der Fülle an mehr oder weniger nützlichen Geräten, die uns zur Verfügung stehen, ist es leichter denn je, die frohe Botschaft des Evangeliums zu verbreiten, und die Auswirkungen reichen viel weiter. Ich befürchte fast, dass manch einer, der gerade zuhört, bereits eine SMS ungefähr folgenden Inhalts verschickt hat: „Jetzt redet er schon zehn Minuten, und noch immer kein Gleichnis zum Thema Luftfahrt!“ Meine lieben jungen Freunde, vielleicht bedeutet der Aufruf des Herrn, „den Mund aufzutun“9 in heutiger Zeit auch, „die Hände zu gebrauchen“ und das Evangelium über Blogs und SMS in aller Welt zu verbreiten! Doch denkt bitte daran: alles am rechten Ort und zur rechten Zeit.
Brüder und Schwestern, mithilfe der Segnungen moderner Technik können wir die Dankbarkeit und die Freude, die Gottes großartiger Plan für seine Kinder in uns auslöst, auf eine Weise zeigen, die nicht nur am Arbeitsplatz, sondern in der ganzen Welt verstanden wird. Manchmal kann ein einziger Satz, mit dem man Zeugnis gibt, etwas anstoßen, was sich für alle Ewigkeit auf das Leben eines anderen auswirkt.
Am wirkungsvollsten ist es, das Evangelium durch unser Beispiel zu verkünden. Wenn wir nach unserem Glauben leben, wird das den Menschen auffallen. Wenn unser Leben dasselbe ausstrahlt wie der Gesichtsausdruck Jesu Christi10, wenn wir uns freuen und mit der Welt im Reinen sind, wollen die Menschen wissen, wieso. Eine der berühmtesten Predigten, die jemals über Missionsarbeit gehalten wurden, besteht aus einem einfachen Gedanken, der Franz von Assisi zugeschrieben wird: „Predige das Evangelium jederzeit, und wenn nötig, mit Worten.“11 Gelegenheiten dazu umgeben uns überall. Verpassen Sie sie nicht, weil sie zu lange auf dem Weg nach Damaskus warten.
Unser Weg nach Damaskus
Ich bezeuge, dass der Herr heutzutage zu seinen Propheten und Aposteln spricht. Er spricht auch zu allen, die mit aufrichtigem Herzen und wirklichem Vorsatz zu ihm kommen.12
Zweifeln Sie nicht. Denken Sie daran: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“13 Gott liebt Sie. Er hört Ihre Gebete. Er spricht zu seinen Kindern und spendet denen Trost, Frieden und Verständnis, die ihn suchen und ehren, indem sie auf seinem Weg wandeln. Ich gebe das heilige Zeugnis, dass die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage auf dem richtigen Weg ist. Wir haben einen lebenden Propheten. Diese Kirche wird von dem geführt, dessen Namen wir tragen, nämlich vom Erretter Jesus Christus.
Brüder und Schwestern, liebe Freunde, lassen Sie uns auf unserem Weg nach Damaskus nicht zu lange warten. Lassen Sie uns lieber tapfer vorangehen, voller Glauben, Hoffnung und Nächstenliebe, und uns wird das Licht geschenkt werden, das wir auf dem Weg eines wahren Jüngers alle suchen. Darum bete ich, und ich gebe Ihnen meinen Segen im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.