Institut
44 Wie ein Lamm zum Schlachten


„Wie ein Lamm zum Schlachten“, Kapitel 44 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 1, Das Banner der Wahrheit, 1815–1846, 2018

Kapitel 44: „Wie ein Lamm zum Schlachten“

Kapitel 44

Eine Kugel durchschlägt Holz

Wie ein Lamm zum Schlachten

Nachdem Thomas Sharp zu den Waffen gerufen hatte, verbreitete sich die Wut auf die Heiligen in Nauvoo in der ganzen Gegend wie ein Lauffeuer. In den nahegelegenen Orten Warsaw und Carthage scharten sich die Bürger zusammen und protestierten wegen der Zerstörung der Druckerpresse des Expositors. Die Anführer der Städte trommelten in der Umgebung Männer zu dem Zweck zusammen, sich gemeinsam gegen die Heiligen zu erheben.1 Innerhalb von zwei Tagen war in Carthage eine bewaffnete Meute von dreihundert Mann zusammengekommen, die bereit war, nach Nauvoo zu marschieren und die Heiligen auszulöschen.2

Einhundertsechzig Kilometer nordöstlich von Nauvoo wollten Peter Maughan und Jacob Peart in einem Hotel eine Mahlzeit einnehmen. Auf Weisung von Joseph waren sie hergekommen, um sich nach einem Kohlenflöz umzusehen, das die Kirche erwerben konnte. Joseph war überzeugt, dass man gute Gewinne erzielen könnte, wenn man Kohle abbaute und auf der Maid of Iowa, dem Dampfschiff der Kirche, über den Mississippi transportierte.3

Während sie aufs Essen warteten, schlug Peter die Zeitung auf. In einem Artikel wurde behauptet, in einer gewaltigen Schlacht in Nauvoo seien Tausende ums Leben gekommen. Entsetzen und Angst um Mary und die Kinder ergriffen ihn. Er zeigte Jacob den Artikel.

Die beiden Männer nahmen das nächste Flussschiff Richtung Heimat. Etwa fünfzig Kilometer vor Nauvoo erfuhren sie zu ihrer Erleichterung, dass es keine Schlacht gegeben hatte. Allerdings war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis Gewalt ausbrach.4


Der Stadtrat hatte sich zwar gründlich überlegt, ob er die Druckerpresse zerstören solle, aber die Protestwelle, die dem folgte, völlig unterschätzt. William Law war aus der Stadt geflohen, aber einige seine Anhänger drohten nun, den Tempel zu zerstören, Josephs Haus in Brand zu setzen und die Druckerei der Kirche abzureißen.5 Francis Higbee beschuldigte Joseph und die anderen Stadtratsmitglieder, mit der Zerstörung der Druckerpresse zum Krawall angestiftet zu haben. Er schwor, dass in nur zehn Tagen nicht ein einziger Mormone in Nauvoo übrigbleiben werde.6

Am 12. Juni verhaftete ein Beamter aus Carthage Joseph und die anderen Stadtratsmitglieder. Das Stadtgericht von Nauvoo befand die Anklagepunkte für unbegründet und ließ die Männer frei, was Josephs Kritiker noch mehr erzürnte. Am nächsten Tag erfuhr Joseph, dass sich in Carthage dreihundert Männer eingefunden hatten, die bereit waren, nach Nauvoo zu marschieren.7

Joseph und andere hofften, einen weiteren schlimmen Konflikt mit den Nachbarn – wie den in Missouri – verhindern zu können. In Eilbriefen an Gouverneur Ford rechtfertigten sie das Vorgehen des Stadtrats und baten um Hilfe bei etwaigen Angriffen durch den Pöbel.8 Joseph sprach auch zu den Heiligen und ermahnte sie, Ruhe zu bewahren, sich auf die Verteidigung der Stadt vorzubereiten und keinerlei Aufruhr zu veranstalten. Dann rief er die Nauvoo-Legion zusammen. Er setzte das Stadtrecht aus und stellte die Stadt unter Kriegsrecht. Jetzt übernahm die Miliz die Führung.9

Am Nachmittag des 18. Junis kam die Legion vor dem Mansion House zusammen. Joseph, der Befehlshaber der Miliz, stieg in Uniform auf ein Podest und wandte sich von dort aus an die Männer. „Manch einer meint, unsere Feinde würden sich allein mit meiner Vernichtung zufriedengeben“, sagte er. „Aber ich sage euch: Sobald sie mein Blut vergossen haben, werden sie nach dem Blut eines jeden dürsten, in dessen Herz auch nur ein Funke vom Geist der Fülle des Evangeliums wohnt.“

Joseph zückte sein Schwert, erhob es himmelwärts und forderte von den Männern mit Nachdruck, die Freiheiten zu schützen, die ihnen in der Vergangenheit verwehrt worden waren. „Steht ihr mir bis zum Tod bei“, fragte Joseph, „und tretet ihr für die Gesetze unseres Landes ein, selbst wenn es euch das Leben kostet?“

„Ja!“, brüllte die Menge.

„Ich liebe euch von ganzem Herzen!“, sagte er. „Ihr habt mir in schweren Stunden zur Seite gestanden, und ich bin bereit, mein Leben zu geben, damit ihr verschont werdet.“10


Als Gouverneur Thomas Ford von Joseph erfuhr, weshalb der Stadtrat die Presse zerstört hatte, wurde ihm klar, dass die Heiligen in gutem Glauben gehandelt hatten. Es gab in der Tat eine rechtliche Grundlage und Präzedenzfälle, wo etwas zu einem öffentlichen Ärgernis erklärt und zerstört wurde. Allerdings war er mit der Entscheidung des Rates nicht einverstanden und hielt sein Vorgehen nicht für gerechtfertigt. Schließlich war es nicht üblich, eine Zeitung auf rechtlicher Grundlage zu zerstören. So etwas überließ man gewöhnlich einer verbrecherischen Meute, wie es ja auch schon mehr als zehn Jahre zuvor geschehen war, als man in Selbstjustiz die Zeitung der Heiligen im Kreis Jackson zerstört hatte.11

Außerdem legte der Gouverneur großen Wert darauf, dass die in der Verfassung des Staates Illinois verankerte Redefreiheit gewahrt wurde, auch wenn das Vorgehen möglicherweise rechtlich zulässig war. „Ihr Verhalten und die Zerstörung der Druckerpresse war ein schwerer Verstoß gegen die Gesetze und Freiheiten des Volkes“, schrieb er dem Propheten. „Die Zeitung mag beleidigende Lügen verbreitet haben, aber das gibt Ihnen nicht das Recht, sie zu zerstören.“

Der Gouverneur führte ferner an, die Gründungsurkunde der Stadt Nauvoo verleihe den Gerichten dort nicht so viel Vollmacht, wie der Prophet annehme. Er riet ihm und den übrigen Ratsmitgliedern, die der Unruhen wegen angeklagt worden waren, sich zu stellen und sich außerhalb von Nauvoo vor einem Gericht zu verantworten. „Ich will den Frieden unbedingt wahren“, erklärte er. „Selbst ein kleiner Fehltritt kann zum Krieg führen.“ Falls sich die Anführer der Stadt jedoch stellten und sich vor Gericht verantworteten, wolle er sie beschützen, versprach er.12

Joseph wusste, dass es in Carthage von Männern wimmelte, die die Heiligen hassten, und er bezweifelte, dass der Gouverneur sein Versprechen einhalten konnte. Blieb er jedoch in Nauvoo, schürte er nur den Zorn seiner Gegner und lockte den Pöbel in die Stadt, was die Heiligen in Gefahr brachte. Er war immer mehr überzeugt, dass die Heiligen am sichersten waren, wenn sie Nauvoo verließen und in den Westen zogen oder sich Hilfe aus Washington holten.

In einem Brief berichtete Joseph dem Gouverneur, dass er die Stadt verlassen wolle. „Bei allem, was heilig ist“, schrieb er, „flehen wir Eure Exzellenz an, die hilflosen Frauen und Kinder vor der Gewalt des Pöbels zu beschützen.“ Falls sich die Heiligen falsch verhalten hatten, so wollten sie nichts unversucht lassen, es wieder in Ordnung zu bringen, versicherte er.13

Am Abend verabschiedete sich Joseph von seiner Familie und stieg dann mit Hyrum, Willard Richards und Porter Rockwell in ein Ruderboot, um den Mississippi zu überqueren. Das Boot war undicht, und während Porter ruderte, mussten die Brüder und Willard mit ihren Stiefeln Wasser ausschöpfen. Erst Stunden später, am Morgen des 23. Junis, erreichten sie das Territorium Iowa. Joseph bat Porter, nach Nauvoo zurückzukehren und für jeden ein Pferd zu holen.14

Er gab ihm auch einen Brief an Emma mit, worin er sie beauftragte, nötigenfalls ihr Land zu verkaufen, damit sie sich, die Kinder und seine Mutter versorgen konnte. „Verzweifle nicht“, sagte er ihr. „Wenn es Gottes Wille für mich ist, werde ich dich wiedersehen.“15

Am gleichen Morgen schickte Emma Hiram Kimball und ihren Neffen Lorenzo Wasson nach Iowa, damit sie Joseph überredeten, nach Hause zu kommen und sich zu stellen. Sie berichteten Joseph, der Gouverneur wolle Nauvoo mit Truppen besetzen, bis er und Hyrum sich auslieferten. Porter kehrte bald mit Reynolds Cahoon zurück und brachte einen Brief von Emma mit, worin sie ihn anflehte, in die Stadt zurückzukehren. Hiram Kimball, Lorenzo und Reynolds nannten Joseph feige, weil er sich davongemacht und dadurch die Heiligen in Nauvoo in Gefahr gebracht hatte.16

„Eher sterbe ich, als mich einen Feigling nennen zu lassen“, meinte Joseph. „Wenn mein Leben meinen Freunden nichts wert ist, dann ist es auch mir nichts wert.“ Er erkannte nun, dass er die Heiligen nicht beschützen konnte, wenn er Nauvoo verließ. Er wusste aber auch nicht, ob er es überleben würde, wenn er nach Carthage ging. „Was mache ich jetzt?“, fragte er Porter.

„Du bist der Älteste von uns, du weißt es am besten“, erwiderte Porter.

„Du bist der Älteste von uns“, wandte sich Joseph hingegen an seinen Bruder. „Was machen wir jetzt?“

„Lass uns zurückkehren“, erwiderte Hyrum. „Wir stellen uns und stehen es durch.“

„Wenn du zurückgehst, gehe ich mit“, entgegnete Joseph. „Aber sie werden uns abschlachten.“

„Ob wir nun leben oder ob wir sterben müssen“, meinte Hyrum, „wir werden unser Schicksal annehmen.“

Joseph dachte kurz darüber nach und bat Reynolds dann, ein Boot zu holen. Sie wollten sich ausliefern.17


Als Joseph am späten Nachmittag heimkam, wurde Emma das Herz schwer. Nun, da sie ihn wiedersah, befürchtete sie, sie habe mit ihrer Bitte, er solle zurückkehren, sein Todesurteil unterzeichnet.18 Joseph wollte den Heiligen gern noch einmal predigen, aber stattdessen blieb er daheim bei seiner Familie. Er und Emma riefen die Kinder zusammen, und er segnete sie.

Früh am nächsten Morgen traten Joseph, Emma und die Kinder hinaus vor die Tür. Er gab allen einen Kuss.19

„Bitte komm zurück“, sagte Emma unter Tränen.

Joseph stieg aufs Pferd und brach mit Hyrum und den anderen Männern nach Carthage auf. „Ich gehe wie ein Lamm zum Schlachten“, stellte er fest. „Aber ich bin so ruhig wie ein Sommermorgen. Mein Gewissen ist frei von Schuld gegenüber Gott und gegenüber allen Menschen.“20

Bei Sonnenaufgang ritten die Reiter den Hügel hinauf zum Tempel, dessen unvollendete Mauern im goldenen Licht der Sonne glänzten. Joseph brachte das Pferd zum Stehen und blickte über die Stadt. „Dies ist der schönste Ort und das beste Volk unter dem Himmel“, sagte er. „Aber es ahnt nur wenig von den Prüfungen, die ihm bevorstehen.“21


Joseph blieb nicht lange fort. Drei Stunden nachdem er Nauvoo verlassen hatte, begegneten er und seine Freunde Truppen, die auf Befehl des Gouverneurs die Waffen, mit denen der Staat die Nauvoo-Legion ausgerüstet hatte, beschlagnahmen sollten. Joseph beschloss, zurückzureiten und sicherzustellen, dass der Befehl ausgeführt wurde. Er wusste, falls sich die Heiligen zur Wehr setzten, gaben sie dem Pöbel Anlass zum Angriff.22

Zurück in Nauvoo ritt Joseph heim, damit er Emma und die Kinder noch einmal sehen konnte. Erneut verabschiedete er sich und fragte Emma, ob sie ihn begleiten wolle, wenngleich er wusste, dass sie bei den Kindern bleiben musste. Joseph wirkte ernst und nachdenklich. Er sah sein Schicksal schon düster vor sich.23 Bevor er sich auf den Weg machte, bat Emma ihn um einen Segen. Joseph hatte keine Zeit mehr und sagte ihr, sie solle den gewünschten Segen aufschreiben. Er werde ihn dann nach seiner Rückkehr unterschreiben.

Emma schrieb auf, sie wünsche sich als Segen Weisheit vom Vater im Himmel und die Gabe des Erkennens. „Ich wünsche mir den Geist Gottes, um mich zu erkennen und zu verstehen“, schrieb sie. „Ich wünsche mir einen fruchtbaren und aktiven Geist, damit ich die Absichten Gottes verstehen kann.“

Sie bat um Weisheit in der Erziehung der Kinder, auch für das Kind, das im November zur Welt kommen sollte, und schrieb von ihrer Hoffnung auf den immerwährenden Bund der Ehe. „Von ganzem Herzen wünsche ich mir, meinen Mann zu ehren und zu achten“, schrieb sie. „Stets möchte ich sein Vertrauen genießen und einmütig mit ihm handeln, damit mir der Platz, den mir Gott an seiner Seite gegeben hat, erhalten bleibt.“

Schließlich betete Emma um Demut und hoffte, Gott werde sie die Segnungen, die er für die Gehorsamen vorgesehen hatte, genießen lassen. „Welches Los mir im Leben auch beschieden sein mag“, schrieb sie, „ich möche in der Lage sein, die Hand Gottes in allem anzuerkennen.“24


Als die beiden Brüder am 24. Juni, es war ein Montag, kurz vor Mitternacht in Carthage eintrafen, empfing man sie mit Gebrüll und Flüchen. Die Miliz, die die Waffen der Heiligen in Nauvoo beschlagnahmt hatte, geleitete Joseph und Hyrum durch den Tumult auf den Straßen Carthages. Eine weitere Einheit, die sogenannten Carthage Greys, lagerte auf einem Platz in der Nähe des Gasthauses, wo die Brüder die Nacht verbringen sollten.

Als Joseph an den Carthage Greys vorbeikam, schoben und drängelten die Truppen, um einen Blick erhaschen zu können. „Wo ist der verfluchte Prophet?“, brüllte ein Mann. „Macht den Weg frei und lasst uns Joe Smith sehen!“ Die Truppen schrien und grölten und warfen ihre Waffen in die Luft.25

Am nächsten Morgen stellten sich Joseph und seine Freunde einem Constable. Kurz nach neun Uhr schritt Gouverneur Ford mit Joseph und Hyrum zwischen den versammelten Truppen hindurch. Die Miliz und der Pöbel, die sich um sie drängten, blieben ruhig, bis eine Gruppe der Greys erneut zu johlen begann, die Hüte in die Luft warf und die Schwerter zog. Wie schon in der Nacht zuvor brüllten sie die Brüder an und verhöhnten sie.26

Vor Gericht ließ man Joseph und Hyrum vorerst frei, bis ihnen wegen Volksaufruhr der Prozess gemacht werden sollte. Bevor die Brüder jedoch die Stadt verlassen konnten, legten zwei Verbündete von William Law Beschwerde gegen sie ein, weil sie in Nauvoo das Kriegsrecht ausgerufen hatten. Man beschuldigte sie des Hochverrats gegen den Staat Illinois und dessen Einwohner. Da es sich dabei um ein Kapitalverbrechen handelte, war es nicht möglich, dass die Männer gegen Kaution freikamen.

Joseph und Hyrum wurden im Bezirksgefängnis festgesetzt und über Nacht zusammen in eine Zelle gesperrt. Etliche Freunde blieben bei ihnen, um sie zu schützen und ihnen Gesellschaft zu leisten. In dieser Nacht schrieb Joseph Emma einen Brief mit aufmunternden Neuigkeiten. „Der Gouverneur hat gerade zugestimmt, seine Armee nach Nauvoo einmarschieren zu lassen“, berichtete er. „Ich werde sie begleiten.“27


Am nächsten Tag verlegte man die Gefangenen ins erste Stockwerk des Gefängnisses in einen etwas behaglicheren Raum. Es gab drei große Fenster, ein Bett und eine Holztür mit einem zerbrochenen Riegel. Am Abend las Hyrum aus dem Buch Mormon vor, und Joseph bezeugte den diensthabenden Wachen mit beeindruckenden Worten, dass es wirklich von Gott stammte. Er gab Zeugnis, dass das Evangelium Jesu Christi wiederhergestellt worden war, dass Engel den Menschen auch weiterhin dienten und dass das Reich Gottes erneut auf Erden war.

Nach Sonnenuntergang blieb Willard Richards noch lange auf und schrieb, bis die Kerze heruntergebrannt war. Joseph und Hyrum lagen auf dem Bett und zwei Besucher, Stephen Markham und John Fullmer, auf einer Matratze auf dem Boden. Daneben lagen John Taylor und Dan Jones, ein Schiffsführer aus Wales, der sich erst vor etwas über einem Jahr der Kirche angeschlossen hatte, auf dem harten Boden.28

Irgendwann noch vor Mitternacht vernahmen die Männer vor dem Fenster, neben dem Joseph mit dem Kopf lag, einen Schuss. Der Prophet stand auf und legte sich neben Dan auf den Boden. Ruhig fragte Joseph ihn, ob er Angst habe zu sterben.29

„Ist es denn so weit?“, fragte Dan mit seinem breiten walisischen Akzent. „Da wir mit etwas so Wichtigem befasst sind, glaube ich, so schlimm kann der Tod nicht sein.“

„Vor deinem Tod wirst du noch Wales sehen und die Mission erfüllen, die dir bestimmt ist“, flüsterte Joseph ihm zu.

Gegen Mitternacht wachte Dan auf, als er hörte, wie Truppen am Gefängnis vorbeimarschierten. Er erhob sich und blickte aus dem Fenster. Unten standen etliche Männer. „Wie viele sollen reingehen?“, hörte er jemanden fragen.

Alarmiert weckte Dan leise die anderen Gefangenen. Sie vernahmen Schritte auf der Treppe und warfen sich gegen die Tür. Jemand hob einen Stuhl hoch, um sich damit verteidigen zu können, falls die Männer hereinstürmten. Totenstille umgab sie, während sie den Angriff erwarteten.

„Nun kommt schon!“, rief Joseph schließlich. „Wir sind bereit für euch!“

Durch die Tür konnten Dan und die anderen hören, wie die Männer vor- und zurückschlurften, unentschlossen, ob sie angreifen oder wieder gehen sollten. Der Tumult draußen dauerte bis zum Morgengrauen an, dann schließlich hörten die Gefangenen, dass die Männer sich zurückzogen.30


Am nächsten Tag, es war der 27. Juni 1844, erhielt Emma einen Brief von Joseph, den Willard Richards aufgeschrieben hatte. Gouverneur Ford war mit einem Teil der Miliz unterwegs nach Nauvoo. Doch trotz seines Versprechens brachte er Joseph nicht mit sich. Stattdessen hatte er eine Einheit der Miliz in Carthage aufgelöst und nur eine kleine Truppe der Carthage Greys als Wache beim Gefängnis zurückgelassen, was die Gefangenen im Falle eines Angriffs noch wehrloser machte.31

Dennoch wollte Joseph, dass die Heiligen den Gouverneur herzlich empfingen und keinen Alarm schlugen. „Es besteht keine Gefahr, dass ein Ausrottungsbefehl ausgeführt wird“, stand in dem Brief. „Aber Vorsicht schadet nicht.“32

Unter dem Brief stand noch ein Nachtrag in Josephs eigener Handschrift. „Ich habe mich ganz und gar mit meinem Los abgefunden, denn ich weiß, dass ich keine Schuld auf mich geladen und das Beste getan habe, was getan werden konnte“, erklärte er. Er bat sie, den Kindern und seinen Freunden auszurichten, dass er sie liebhabe. „Was den Hochverrat betrifft, so weiß ich, dass ich keinen begangen habe“, fügte er hinzu, „und man kann mir auch nicht den Hauch von irgendetwas in dieser Art beweisen.“ Daher solle sie keine Angst haben, dass ihm und Hyrum etwas zustoßen werde. „Gott segne euch alle“, schrieb er zum Schluss.33

Später am Tag erreichte Gouverneur Ford Nauvoo und sprach zu den Heiligen. Er gab ihnen die Schuld an der Krise und drohte, sie für die Folgen verantwortlich zu machen. „Die Zerstörung der Druckerpresse des Expositor und die Ausrufung des Kriegsrechts waren ein schweres Verbrechen“, erklärte er. „Zur Wiedergutmachung werden ernste Maßnahmen erforderlich sein. Machen Sie sich also auf einiges gefasst.“34

Er warnte sie, dass man im Falle einer Rebellion die Stadt in Schutt und Asche legen und deren Einwohner auslöschen werde. „Verlassen Sie sich darauf“, versicherte er. „Beim geringsten Fehlverhalten der Bürger dieser Stadt wird die Fackel, die schon entzündet ist, angelegt.“35

Die Rede empörte die Heiligen, aber da Joseph sie darum gebeten hatte, den Frieden zu wahren, gelobten sie, sich die Warnung des Gouverneurs zu Herzen zu nehmen und die Gesetze des Bundesstaates einzuhalten. Zufrieden beendete der Gouverneur seine Rede und ließ seine Truppen die Hauptstraße hinuntermarschieren. Dabei zogen die Soldaten ihre Schwerter und schwangen sie drohend.36


Im Gefängnis zu Carthage verstrich die Zeit an diesem Nachmittag nur zäh. Es war ein heißer Sommertag, und die Männer hatten ihre Mäntel abgelegt und die Fenster geöffnet, damit frische Luft hereinkam. Draußen bewachten acht Männer von den Carthage Greys das Gefängnis, die übrige Miliz lagerte in der Nähe. Eine weitere Wache saß direkt vor der Tür.37

Stephen Markham, Dan Jones und andere erledigten Aufträge für Joseph. Von den Männern, die dort die Nacht verbracht hatten, waren nur Willard Richards und John Taylor bei Joseph und Hyrum geblieben. Früher am Tag hatten Besucher für den Fall, dass man die Gefangenen angriff, zwei Waffen ins Gefängnis geschmuggelt – einen Revolver mit sechs Schuss und eine Pistole mit nur einem Schuss. Außerdem hatte Stephen einen stabilen Gehstock zurückgelassen, den er den „Halunkenschläger“ nannte.38

Zum Zeitvertreib und um die Atmosphäre aufzulockern, sang John ein britisches Kirchenlied, das neuerdings unter den Heiligen sehr beliebt war. Darin ging es um einen ärmlichen Fremden in Not, der sich schließlich als der Erretter entpuppte:

Und plötzlich sah ich die Gestalt

sich lösen aus des Wandrers Kleid:

Ich sah an seiner Hände Mal,

der Heiland stand an meiner Seit.

Er sprach und rief beim Namen mich:

„Du schämtest niemals meiner dich!

Du wirktest dir dein Ehrenkleid

zu meiner ewgen Herrlichkeit.“

Als John fertig war, bat Hyrum ihn, das Lied abermals anzustimmen.39

Um vier Uhr nachmittags lösten neue Wachen die alten ab. Joseph verwickelte eine Wache an der Tür in ein Gespräch, während sich Hyrum und Willard leise unterhielten. Nach einer Stunde kam der Constable ins Zimmer. Er fragte die Gefangenen, ob sie lieber in eine sicherere Zelle verlegt werden wollten, falls jemand sie angreife.

„Nach dem Abendessen gehen wir“, erwiderte Joseph. Als der Constable ging, wandte sich Joseph an Willard. „Kommst du mit uns“, fragte er, „wenn wir dorthin gehen?“

„Denkst du, ich lasse euch jetzt im Stich?“, lautete Willards Antwort. „Wenn sie dich wegen Hochverrats zum Tode durch den Strang verurteilen, lasse ich mich an deiner Stelle hängen, und du kommst frei.“

„Auf keinen Fall“, erwiderte Joseph.

„Doch, verlass dich darauf“, beharrte Willard.40


Ein paar Minuten später vernahmen die Gefangenen vor der Tür Geräusche, dann fielen drei oder vier Schüsse. Willard schaute durchs offene Fenster und entdeckte unten hundert Männer, die ihr Gesicht mit Schlamm und Schießpulver geschwärzt hatten und den Eingang stürmten. Joseph ergriff eine der Pistolen, Hyrum die andere. John und Willard nahmen Gehstöcke und hielten sie wie Knüppel hoch. Dann warfen sich alle vier gegen die Tür, während der Pöbel nach oben eilte und versuchte, mit Gewalt ins Zimmer zu gelangen.41

Von der Treppe aus schoss der Pöbel auf die Tür. Joseph, John und Willard sprangen zur Seite, als eine Kugel das Holz durchschlug. Sie traf Hyrum im Gesicht. Er drehte sich um und stolperte in den Raum. Eine weitere Kugel traf ihn unten am Rücken. Er feuerte seine Pistole ab und fiel zu Boden.42

„Bruder Hyrum!“, schrie Joseph. Seinen Revolver mit sechs Schuss in der Hand, öffnete er die Tür einen Spalt breit und feuerte einen Schuss ab. Ein weiterer Kugelhagel ergoss sich in den Raum. Joseph schoss wahllos auf die Meute, während John mit dem Stock die Gewehrläufe und Bajonette niederschlug, die durch den Eingang gestoßen wurden.43

Nach zwei oder drei Ladehemmungen an Josephs Revolver rannte John zum Fenster, um auf die niedrige Fensterbank zu klettern. Eine Flintenkugel zischte durch den Raum und traf ihn am Bein, woraufhin er das Gleichgewicht verlor. Starr krachte er gegen die Fensterbank und zertrümmerte dabei seine Taschenuhr, die um sechzehn Minuten nach fünf stehenblieb.

„Ich bin getroffen!“, rief er.

John schleppte sich über den Boden und wälzte sich unter das Bett, während der Pöbel immer neue Schüsse abgab. Eine Kugel traf ihn in der Hüfte und riss ein Stück Fleisch heraus. Zwei weitere Kugeln schlugen ihm ins Handgelenk und in den Knochen oberhalb des Knies.44

Auf der anderen Seite des Raumes pressten sich Joseph und Willard mit aller Kraft gegen die Tür. Willard schlug weiterhin die Gewehrläufe und Bajonette zur Seite. Plötzlich ließ Joseph den Revolver fallen und hastete zum Fenster. Als er auf die Fensterbank sprang, trafen ihn zwei Kugeln am Rücken. Eine weitere kam durchs Fenster und durchbohrte ihn unterm Herzen.

„O Herr, mein Gott!“, rief er. Er taumelte nach vorne und stürzte dann kopfüber durchs Fenster.

Willard stürmte durch den Raum und streckte den Kopf hinaus, während weitere Bleikugeln an ihm vorbeipfiffen. Unten drängte sich die Meute um Josephs blutüberströmten Körper. Der Prophet lag auf seiner linken Seite neben einem Steinbrunnen. Willard wandte den Blick nicht ab und hoffte auf ein Lebenszeichen von seinem Freund. Die Sekunden verstrichen, aber es regte sich nichts.

Joseph Smith, der Prophet und Seher des Herrn, war tot.45