Was springt für mich dabei heraus?
Unser Kreuz auf uns zu nehmen und dem Erretter nachzufolgen bedeutet, dass wir unsere Selbstsucht überwinden müssen; es ist die Verpflichtung, unserem Nächsten zu dienen.
Ich bete demütig darum, dass der Geist, der heute Morgen bei den anderen Sprechern zugegen war, hier auch verweilt, während ich zu Ihnen spreche.
Vor Jahren arbeitete ich beruflich mit zwei älteren, erfahrenen Kollegen zusammen. Wir waren schon jahrelang befreundet gewesen und es brachte uns allen Nutzen, einander im Beruf zu unterstützen. Eines Tages bat der eine Kollege uns bei einem schwierigen Fall um Hilfe. Nachdem er uns erklärt hatte, worum es ging, stellte der andere Kollege als Erstes die Frage: „Was springt für mich dabei heraus?“ Der Schmerz und die Enttäuschung standen demjenigen, der um unsere Hilfe gebeten hatte, ins Gesicht geschrieben, weil sein guter Freund derart selbstsüchtig reagiert hatte. Das Verhältnis zwischen den beiden war danach nie mehr wie zuvor. Unser eigennütziger Freund hatte immer weniger Erfolg, weil seine Selbstsucht bald seine beträchtlichen Gaben, Talente und Qualitäten überschattete. Es ist bedauerlich, aber ein Fluch der heutigen Welt kommt in der selbstsüchtigen Reaktion zum Ausdruck: „Was springt für mich dabei heraus?“
Während meiner Berufslaufbahn half ich einmal den Erben ehrenwerter Eltern bei der Erbteilung. Das Erbe war nicht groß, doch es war die Frucht vieler Jahre harter Arbeit und Aufopferung. Die Kinder waren alles anständige, gottesfürchtige Menschen, die gelehrt worden waren, nach den errettenden Grundsätzen des Erlösers zu leben. Doch als es darum ging, den Besitz aufzuteilen, entstand ein Streit darüber, wer was bekommen sollte. Obwohl nichts sehr Wertvolles dabei war, worüber es sich zu streiten gelohnt hätte, verursachten Gefühle der Selbstsucht und Habgier zwischen mehreren Angehörigen einen Riss, der nie verheilte und sich bis in die nächste Generation fortsetzte. Wie tragisch, dass die Hinterlassenschaft dieser wundervollen Eltern so zerstörerisch auf die Einigkeit der Familie und auf die Liebe unter ihren Kindern gewirkt hatte. Ich lernte daraus, dass aus Selbstsucht und Habgier Verbitterung und Streit erwachsen, dass andererseits die Bereitschaft zu opfern und zu teilen Frieden und Zufriedenheit bringt.
Bei dem großen Rat im Himmel, als der große Plan der Errettung für die Kinder Gottes vorgelegt wurde, sagte Jesus: „Hier bin ich, sende mich“1, und „Vater, dein Wille geschehe, und dein sei die Herrlichkeit immerdar“.2 So wurde er unser Erretter. Doch der Satan, der als „ein Sohn des Morgens“3 in hohem Ansehen stand, erwiderte, dass er kommen und „die ganze Menschheit erlösen [werde], dass auch nicht eine Seele verloren gehe.“4 Der Satan stellte zwei Bedingungen: Erstens sollte den Menschen die Entscheidungsfreiheit verwehrt werden, und zweitens sollte ihm die Ehre zufallen. Mit anderen Worten, für ihn sollte etwas dabei herausspringen. Und somit wurde er der Vater der Lügen und der Selbstsucht.
Unser Kreuz auf uns zu nehmen und dem Erretter nachzufolgen bedeutet, dass wir unsere Selbstsucht überwinden müssen; es ist die Verpflichtung, unserem Nächsten zu dienen. Selbstsucht ist eine niedrige menschliche Eigenschaft, die gebändigt und überwunden werden muss. Wir quälen unsere Seele, wenn wir mehr auf das bedacht sind, was wir bekommen, als auf das, was wir geben. Oft lernt ein Kleinkind als Erstes das Wort meins. Die Freude am Teilen muss ihm erst beigebracht werden. Ganz sicher ist die Elternschaft eine Schule, in der man lernen kann, Selbstsucht abzulegen. Eine Mutter wandert im Tal des Schattens des Todes, um ihrem Kind das Leben zu schenken. Eltern arbeiten schwer und verzichten auf sehr viel, damit sie ihren Kindern Obdach, Nahrung, Kleidung, Schutz und Bildung zukommen lassen können.
Ich habe erfahren, dass Selbstsucht mehr mit unserem Verhältnis zu unserem Besitz zu tun hat als mit dessen Größe. Der Dichter Wordsworth hat gesagt: „Wir hängen zu sehr an der Welt – früh und spät. Unsere Kraft verschwenden wir durch Kauf und Erwerb.“5 Ein armer Mann kann selbstsüchtig und ein reicher Mann großzügig sein,6 aber jemand, der einzig darauf aus ist, Besitz zusammenzuraffen, wird nur schwerlich Frieden im Leben finden.
Elder William R. Bradford hat einmal gesagt: „Von allen Einflüssen, die den Menschen dazu bewegen, das Falsche zu wählen, ist die Selbstsucht zweifellos die größte. Wo Selbstsucht herrscht, ist der Geist des Herrn nicht zugegen. Talente werden nicht für andere eingesetzt, die Nöte der Armen werden nicht gestillt, die Schwachen werden nicht gestärkt, die Unwissenden werden nicht unterwiesen und die Verlorengegangenen werden nicht wiedergefunden.“7
Neulich sprach ich mit einem Bekannten, der äußerst großzügig von seiner Habe spendet. Ich bat ihn, zu beschreiben, was er als Folge seiner Großzügigkeit schon empfunden hatte. Er sprach von der Freude und dem Glück, das man im Herzen spürt, wenn man jemandem gibt, der weniger hat. Er sagte, dass ihm eigentlich nichts gehöre, denn alles komme vom Herrn, und wir sind nur die Verwalter dessen, was er uns gegeben hat. Dies sagte auch der Herr zum Propheten Joseph Smith: „Dies alles ist mein, und ihr seid meine Treuhänder.“8
Manchmal vergessen wir jedoch leicht, dass „dem Herrn die Erde [gehört] und was sie erfüllt“.9 Im Buch Lukas warnt uns der Erretter: „Gebt Acht, hütet euch vor jeder Art von Habgier. Denn der Sinn des Lebens besteht nicht darin, dass ein Mensch aufgrund seines großen Vermögens im Überfluss lebt.
Und er erzählte ihnen folgendes Beispiel: Auf den Feldern eines reichen Mannes stand eine gute Ernte.
Da überlegte er hin und her: Was soll ich tun? Ich weiß nicht, wo ich meine Ernte unterbringen soll.
Schließlich sagte er: So will ich es machen: Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen; dort werde ich mein ganzes Getreide und meine Vorräte unterbringen.
Dann kann ich zu mir selber sagen: Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink, und freu dich deines Lebens!
Da sprach Gott zu ihm: Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?
So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott nicht reich ist.“10
Vor einigen Jahren erzählte Elder ElRay L. Christiansen von einem entfernten skandinavischen Verwandten, der sich der Kirche angeschlossen hatte. Er war ziemlich wohlhabend und verkaufte seine Ländereien und Besitztümer in Dänemark, um mit seiner Familie nach Utah zu ziehen. Eine Zeit lang kam er seinen Aufgaben in der Kirche gut nach, und er hatte finanziellen Erfolg. Er ließ sich jedoch von seinem Besitz schließlich so sehr in Anspruch nehmen, dass er vergaß, warum er nach Amerika gekommen war. Der Bischof besuchte ihn und flehte ihn an, wieder aktiv zu werden. Die Jahre vergingen. Einige Brüder der Kirche besuchten ihn und sagten: „Nun, Lars, der Herr war gut zu dir, als du in Dänemark warst. Er ist gut zu dir gewesen, seit du hierher gekommen bist. … Wir denken, jetzt, wo du langsam älter wirst, wäre es gut für dich, einen Teil deiner Zeit für die Belange der Kirche aufzuwenden. Schließlich kannst du all diese Dinge nicht mitnehmen, wenn du von uns gehst.“
Aufgerüttelt von dieser Bemerkung antwortete der Mann: „Nun, dann bleibe ich eben hier.“11 Doch er musste gehen! Und das muss auch jeder von uns!
Manch einer wird so leicht von dem besessen, was er besitzt, und verliert die ewige Perspektive. Als Abraham Ägypten verließ, ging sein Neffe Lot mit ihm nach Bet-El. Abraham und Lot besaßen beide Viehherden und Zelte. „Das Land war aber zu klein, als dass sich beide nebeneinander hätten ansiedeln können; denn ihr Besitz war zu groß und so konnten sie sich nicht miteinander niederlassen.“12 Nach einigen Streitigkeiten zwischen den Hirten Abrahams und Lots schlug Abraham dem Lot vor: „Zwischen mir und dir, zwischen meinen und deinen Hirten soll es keinen Streit geben; wir sind doch Brüder. …
Wenn du nach links willst, gehe ich nach rechts; wenn du nach rechts willst, gehe ich nach links.“13
Lot achtete auf das, was für ihn dabei heraussprang. Er blickte über die fruchtbare Jordanebene und entschied sich für das Land, das nahe bei der weltlich gesinnten Stadt Sodom lag.14 Abraham gab sich damit zufrieden, seine Herden in das karge Land Kanaan überzusiedeln, und dort häufte er sogar noch mehr Reichtum an.
An Abraham denken wir jedoch hauptsächlich in seiner Eigenschaft als einer der Patriarchen des Bundesvolkes des Herrn. Einen der frühesten Verweise auf das Zahlen des Zehnten finden wir bei Abraham, der den Zehnten von allem, was er besaß, an Melchisedek zahlte.15 Abraham genoss das Vertrauen des Herrn, der ihm die Intelligenzen der vorirdischen Welt, die Wahl des Erlösers und die Schöpfung zeigte.16 Abraham ist auch bekannt dafür, dass er bereit war, seinen Sohn Isaak zu opfern. Diese gewaltige Tat des Glaubens steht symbolisch für die höchste selbstlose Tat in der Geschichte, als der Erretter nämlich sein Leben für einen jeden von uns hingab, um für unsere Sünden zu sühnen.
Vor einigen Jahren „kaufte sich ein koreanischer Junge von seinem wöchentlichen Taschengeld Zeitungen. Dann verkaufte er sie mit ein paar Freunden auf den Straßen von Seoul, um Geld für einen Mitschüler zu sammeln, der nicht genug Geld besaß, um weiterhin zur Schule gehen zu können. Der junge Mann gab jenem Jungen außerdem jeden Tag von seinem Schulbrot ab, damit er nicht hungern musste. Warum tat er das alles? Weil er die Geschichte vom barmherzigen Samariter17 gelesen hatte und es ihm nicht ausreichte, nur zu wissen, was jener getan hatte. Er wollte wissen, was man verspürt, wenn man selbst ein barmherziger Samariter ist. … Erst nachdem sein Vater vorsichtig nachfragte, was er da tue,18 gab er zu: ‚Aber Vater, jedes Mal, wenn ich meinem Freund helfe, fühle ich, wie ich dem barmherzigen Samariter ähnlicher werde. Außerdem möchte ich meinen Klassenkameraden, denen es nicht so gut geht wie mir, helfen. Was ich tue, ist nicht besonders viel. Ich habe darüber in meinem Seminarleitfaden gelesen und dabei das Gefühl gehabt, dass ich es tun solle.‘“19 Der Junge fragte nicht erst: „Was springt für mich dabei heraus?“ Er verschwendete keinen Gedanken an Lohn oder Anerkennung.
Als am 11. September 2001 die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York City von Linienflugzeugen getroffen worden waren, die von Terroristen gesteuert wurden, kamen beim Einsturz der beiden Türme tausende Menschen ums Leben. In Zusammenhang mit dieser Tragödie erzählt man sich unzählige Geschichten von mutigen, selbstlosen Taten. Ein sehr ergreifender Bericht erschien in der Washington Post über den heldenhaften Oberst i. R. Cyril „Rick“ Rescorla, der als Vizepräsident für Unternehmensschutz bei der Morgan-Stanley-Dean-Witter-Bank arbeitete.
Rick war ein sehr erfahrener Soldat und hatte bei vielen militärischen Einsätzen die Leitung gehabt. Er befand sich gerade in seinem Büro, als „das erste Flugzeug um 8.48 Uhr in den Nordturm einschlug … Er nahm einen Anruf aus dem 71. Stock entgegen, der ihn über die Feuerkugel im World Trade Center informierte. Unverzüglich gab er den Befehl zur Evakuation aller 2700 Angestellten im Bau 2“ und 1000 weiterer im Bau 5. Mit seinem Megaphon eilte er die Stockwerke hinauf, arbeitete sich durch einen Engpass im 44. Stock und ging bis in das 72. Geschoss. Auf jedem Stockwerk half er, die Menschen zu evakuieren. Ein Freund sah Rick, wie er die Menschen im Treppenschacht im 10. Stock beruhigte, und rief ihm zu: „Rick, du musst zusehen, dass du auch herauskommst!“
„Sobald ich sicher bin, dass alle anderen draußen sind“, antwortete er.
„Er war überhaupt nicht verunsichert. Er stellte das Leben seiner Kollegen vor sein eigenes.“ Er rief die Zentrale an, um Bescheid zu sagen, dass er zurück nach oben gehe, um Nachzügler zu suchen.
Seine Frau hatte mit angesehen, wie der Jet von United Airlines in den Turm einschlug. „Nach einer Weile klingelte bei ihr das Telefon. Es war Rick.
‚Ich möchte nicht, dass du weinst‘, sagte er. ‚Ich muss jetzt meine Leute evakuieren.‘
Sie schluchzte weiter.
‚Wenn mir etwas geschieht, sollst du wissen, dass du mein Leben warst.‘
Die Leitung war tot.“ Rick schaffte es nicht mehr nach draußen.
„Morgan Stanley verlor am 11. September nur sechs seiner 2700 Angestellten im Südturm – ein einzigartiges Wunder inmitten des Massakers. Firmensprecher sagen, dass Rescorla das größte Verdienst dafür zukommt. Er entwarf den Evakuierungsplan. Er brachte seine Kollegen in Sicherheit. Und dann ging er offensichtlich zurück in das Inferno, um nach Nachzüglern zu suchen. Nach dem Bombenanschlag auf das World Trade Center im Jahre 1993 war er als Letzter aus dem Südturm herausgekommen, und ohne Zweifel wäre er wohl diesmal wieder der Letzte gewesen, wenn der Wolkenkratzer nicht vorher eingestürzt wäre.“
Inmitten des schrecklichen Blutbads am 11. September 2001 achtete Rick nicht darauf, was für ihn dabei herausspringen könnte; stattdessen dachte er selbstlos an andere und an die Gefahr, in der sie schwebten. Rick Rescorla war der „richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit“. Rick, „ein 62 Jahre alter Koloss von einem Mann, hatte gelassen sein Leben für andere [geopfert].“20 So sprach der Erlöser: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“21
Viele von uns bringen ihre Selbstlosigkeit freilich nicht auf solch dramatische Weise zum Ausdruck, doch kann Selbstlosigkeit für einen jeden von uns bedeuten, die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, um jemandem einen Dienst zu erweisen. Fast jeder Tag bringt uns Gelegenheiten, an anderen selbstlos zu handeln. Die Möglichkeiten, so zu handeln, sind unbegrenzt und können auch einfach in einem freundlichen Wort, einer helfenden Hand oder einem gütigen Lächeln bestehen.
Der Erretter sagt uns: „Wer sein Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.“22 Es ist eine der Ungereimtheiten des Lebens, dass jemand, der an alles mit einer „Was-springt-für-mich-dabei-heraus-Einstellung“ herangeht, vielleicht Geld, Besitz und Land gewinnt, doch am Ende die Erfüllung und das Glück verliert, die dem zuteil werden, der seine Talente und Gaben großzügig für andere einsetzt.
Ich möchte bezeugen, dass der größte und erfüllendste Dienst, den wir leisten können, der Dienst für den Meister ist. Von allen Beschäftigungen, denen ich in meinem Leben nachgegangen bin, war keine so lohnend oder befriedigend wie die Erfüllung einer Berufung zum Dienen in der Kirche. Jede war anders. Jede hat mir unterschiedliche Segnungen gebracht. Die größte Erfüllung im Leben finden wir, wenn wir anderen dienen und uns nicht davon beherrschen lassen, was dabei für uns herausspringt. Davon lege ich Zeugnis ab im Namen Jesu Christi. Amen.