2003
Mein Geburtstag im Tempel
Februar 2003


Mein Geburtstag im Tempel

Für eine junge Brasilianerin ist der 15. Geburtstag etwas ganz Besonderes. Aber die Geburtstagsfeier von Priscila Vital war noch außergewöhnlicher als die traditionelle Feier mit Tanz – sie durfte nämlich per Boot und Bus zum Tempel fahren.

Im Laufe der Jahre ist Brasilien wegen seiner hervorragenden Fußballmannschaften, seiner weißen Strände und seines tropischen Klimas berühmt geworden. Doch die Kraft hinter dieser pulsierenden, lebendigen Kultur ist wohl auch gleichzeitig ihr größtes Kapital – die herzlichen, fröhlichen Bewohner des Landes. Bei den meisten Unternehmungen geht es darum, Spaß zu haben und mit Freunden und Angehörigen zusammen zu sein. Für jedes brasilianische Mädchen ist die Feier zu seinem 15. Geburtstag eines der wichtigsten Ereignisse im Leben, dem sehnsüchtig entgegengefiebert wird. Manchmal spart eine Familie schon Jahre im Voraus, um für die nun erwachsene Tochter einen ganz besonderen Abend mit Abendessen, Tanzen und Geschenken zu veranstalten.

Priscila Vital aus dem Pfahl Rio Negro in Manaus musste eine schwere Entscheidung treffen, als es darum ging, wie sie ihren 15. Geburtstag feiern wollte. Sie hatte nämlich genau in der Zeit Geburtstag, als sich ihre Mutter, Francilene, auf einer siebzehntägigen Pfahlreise zum Tempel in São Paulo befand. Francilene hatte drei Jahre lang gespart, um – zum ersten Mal – zum Tempel zu fahren, und sie hatte genug Geld zusammen, um Priscila entweder mitzunehmen oder ihr nach ihrer Rückkehr die traditionelle Geburtstagfeier auszurichten. Priscilas Entscheidung wurde noch dadurch erschwert, dass die meisten Verwandten, zu denen sie übrigens ein enges Verhältnis pflegt, anderen Kirchen angehören und sich schon seit Jahren auf diesen Geburtstag gefreut hatten. Sie verstanden natürlich nicht, wie wichtig es ist, in den Tempel zu gehen.

„Alle meine Tanten und Onkel wollten, dass ich zu Hause blieb und meinen Geburtstag feierte, vor allem, weil ich das einzige Mädchen in meiner Familie bin“, erklärt Priscila. „Als ich mich also entschied, zum Tempel zu fahren, war das eine gute Gelegenheit, ihnen zu zeigen, wie wichtig dies für mich ist.“

Priscilas Familie hatte sich 1991 der Kirche angeschlossen, wurde aber kurz nach der Taufe weniger aktiv. Anfang 1998 begann Priscilas Freundin, sich mit der Kirche zu beschäftigen, und bat Priscila, mit ihr zum Seminar zu gehen.

„Ich war in eine andere Kirche gegangen, konnte aber nicht verstehen, was dort gelehrt wurde. Im Seminar ergab alles einen Sinn, und ich konnte das Evangelium verstehen. Schließlich gab der Geist mir Zeugnis, dass Joseph Smith ein Prophet Gottes war. Als ich spürte, dass er ein Prophet gewesen war, war das ein so schönes Gefühl, dass ich weinte“, erzählt Priscila.

Francilene, Priscilas Mutter, begrüßte die jungen Mädchen aus der Gemeinde voller Freude bei sich zu Hause. Sie spornte Priscila an, die von der Kirche veranstalteten Aktivitäten zu besuchen, und begann bald selbst, regelmäßig zur Kirche zu gehen. Heute ist Francilene FHV-Leiterin ihrer Gemeinde.

Ein Zeichen dafür, dass der Glaube wächst

Priscilas Bekehrung zum Evangelium ist eines der vielen Wunder, die sich in Manaus zutragen. Die geschäftige Hafenstadt mit ihren 1,5 Millionen Einwohnern ist das industrielle und kommerzielle Zentrum des Amazonasbeckens. Die ersten Missionare der Kirche kamen vor 23 Jahren in die Stadt im Dschungel. Seitdem wächst die Kirche in Manaus; inzwischen gibt es fünf Pfähle, eine Mission und vierzehntausend Mitglieder.

Ein Zeichen dafür, dass der Glaube bei den Mitgliedern in Manaus wächst, ist die Tatsache, dass jedes Jahr 150 bis 200 Mitglieder aus Manaus gemeinsam auf die Reise zum Tempel in São Paulo gehen, denn dieser Tempel ist von allen in Brasilien am leichtesten zu erreichen. Wegen des dichten Waldes, der die Stadt umgibt, kommt man von Manaus aus nur per Boot oder Flugzeug nach São Paulo. Ein Flugticket ist teuer, deshalb haben die Pfahlpräsidentschaften der Stadt vor acht Jahren angefangen, jedes Jahr eine Reise zu organisieren und für diejenigen, die zum Tempel fahren wollen, Boote und Busse zu chartern. Jeder beteiligt sich an den Kosten und so haben die Mitglieder genug Geld, um mit ihrer Familie zum Tempel zu fahren.

Die Reise beginnt mit der viertägigen Bootsfahrt nach Porto Velho, einer brasilianischen Stadt an der Grenze zu Peru und Bolivien. Dort steigen die Mitglieder in vorbestellte Busse, die sie in weiteren drei Tagen und Nächten nach São Paulo bringen, wo sie in der Kirche gehörenden Apartments beim São Paulo-Tempel wohnen. Vier Tage lang gehen sie in den Tempel und machen sich dann wieder auf die Reise – diesmal in entgegengesetzter Richtung.

Priscila bereitete sich auf ihre Reise zum Tempel vor, indem sie gemeinsam mit ihrer Mutter Generalkonferenzansprachen über den Tempel studierte, in den Zeitschriften der Kirche las und die heiligen Schriften studierte. Außerdem sammelte sie die Namen von vier Vorfahrengenerationen väterlicherseits, damit sie sich stellvertretend für sie taufen lassen konnte. Priscilas Mutter wiederum stellte die genealogischen Daten von vier Vorfahrengenerationen ihrer Seite zusammen.

Dann verließen 185 Mitglieder Manaus mit dem Boot. Priscila und die übrigen fünf Mädchen, die an der Reise teilnahmen, halfen mit, auf die PV-Kinder aufzupassen, und bereiteten die Mahlzeiten zu. Nachts schliefen sie in Hängematten an Deck, damit es ihnen bei den hohen Dschungeltemperaturen nicht zu heiß wurde.

„Es war so ein geistiges Erlebnis, an der Reise teilzunehmen, denn alle waren aufgeregt und konnten es kaum erwarten, in den Tempel zu gehen“, erzählt Priscila. „Die meisten waren noch nie im Tempel gewesen und deshalb wusste keiner so recht, was sie erwartete. Alle sangen gemeinsam Lieder und lasen in den heiligen Schriften. Wir waren einig.“

Die Busfahrt war der schwierigste Teil der Reise, denn der Bus fuhr drei Tage und Nächte lang durch und sie konnten sich kaum bewegen. Deshalb bekamen viele Reisende schmerzende, geschwollene Beine.

Endlich angekommen

Als sie am Tempel ankamen, ging Priscila sofort zum Taufbecken, um Taufen für die Toten zu vollziehen. Ihre Mutter begab sich in einen anderen Teil des Tempels, um die Begabung zu empfangen. Priscila verbrachte jeden Tag in São Paulo im Tempel, obwohl sie diese Metropole zum ersten Mal in ihrem Leben besuchte.

„Ich habe meinen 15. Geburtstag im Tempel verbracht. Als der für die Totentaufen zuständige Bruder erfuhr, dass ich Geburtstag hatte, sagte er, er habe ein Geschenk für mich“, erzählt Priscila. „Es kommen nämlich so viele Menschen in den Tempel, dass sich die meisten nur für fünf Leute taufen lassen können. Mir aber gab er einen dicken Stapel mit Namen, für die die Taufe vollzogen werden sollte. Er hätte mir kein schöneres Geschenk machen können!“

Priscilas Mutter erzählt von weiteren Veränderungen in Priscilas Leben. „Diese Reise zum Tempel hat sie geistig beeinflusst. Sie war allen übrigen Mitgliedern ein Licht. Am Ende der Reise hatte sich jeder verändert. Während der Busfahrt nach Hause hatten wir das Gefühl, unsere äußere Erscheinung und unser Gesicht hätten sich verändert. Wir waren alle so glücklich.“

Priscilas Beispiel und ihre Bereitschaft, über das Evangelium zu sprechen, haben dazu beigetragen, dass sich viele Verwandte und Freunde der Kirche angeschlossen haben. Ihre Tante, die vor kurzem eine Mission in Recife erfüllt hat, ist ein gutes Beispiel dafür. Derzeit spornt Priscila ihren Vater und ihre beiden Brüder an, sich für den Tempel bereitzumachen, damit sie als Familie gesiegelt werden können. Sie hofft, dass es bald so weit ist.

Priscila betrachtet es nicht als Opfer, dass sie auf die Feier zu ihrem 15. Geburtstag verzichtet hat. „Als es an der Zeit war, nach Hause zu fahren, wollte ich überhaupt nicht weg“, meint Priscila. „Und jetzt spare ich, damit ich so schnell wie möglich wieder zum Tempel fahren kann.“

Kristen Winmill Southwick gehört zur Gemeinde Weston 2 im Pfahl Boston, Massachusetts.