Präsident Gordon B. Hinckley
Die Nationen der Erde haben seine Stimme vernommen.
Am 20. August 1935 trafen sich Präsident Heber J. Grant und seine Ratgeber, J. Reuben Clark Jr. und David O. McKay, mit einem außergewöhnlichen jungen Mann, der gerade von einer Mission in England zurückgekommen war. Der junge Mann hatte im Büro der Europäischen Mission in London erfolgreich mit der Presse zusammengearbeitet, zum guten Ruf der Kirche in der Öffentlichkeit beigetragen und an der Erstellung von geeignetem Material für die Missionsarbeit mitgearbeitet. Der Ersten Präsidentschaft war offenbar etwas Außergewöhnliches am 25-jährigen Gordon Hinckley aufgefallen; der für 15 Minuten anberaumte Termin dauerte über eine Stunde. Zwei Tage später bot man ihm an, für die Kirche als Sekretär des gerade gegründeten Komitees für Radio, Öffentlichkeitsarbeit und Missionsliteratur zu arbeiten.
Gordon Bitner Hinckleys Arbeit für den Herrn und seine Kirche hatte gerade erst begonnen. Anfänglich als Angestellter der Kirche, dann als Assistent der Zwölf und als Apostel, als Ratgeber dreier Präsidenten der Kirche und schließlich als Präsident war es sein Bestreben, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage „aus dem Dunkel und aus der Finsternis hervorzubringen“ (LuB 1:30), damit das Licht der „Stadt, die auf einem Berg liegt“ (Matthäus 5:14) vor den Menschen leuchte. Seine Markenzeichen – Optimismus, Mitgefühl, Weisheit und Sinn für Humor – nahm er rund um den Globus mit sich. Präsident Hinckley kam nicht nur mit den Heiligen der Letzten Tage zusammen, sondern auch mit Journalisten, Regierungschefs und Fernsehreportern. Seine Amtszeit als Präsident der Kirche war gekennzeichnet von Offenheit gegenüber den Medien, von einem unvergleichlichen Wachstum der Kirche und unvergleichlichen Fortschritten beim Tempelbau und von Sorge über die Probleme, denen die Menschen überall gegenüberstehen.
Obwohl er so viele Orte bereiste, so viele Menschen traf und der Kirche zu so großer Bekanntheit verhalf, war Präsident Hinckley bemüht, bescheiden und unauffällig zu sein. Er traf Entscheidungen nicht, um andere zu beeindrucken, sondern um den Eingebungen des Geistes zu folgen. Eine ruhige Ehrfurcht vor seinem Vater im Himmel, seinen Vorfahren und den Opfern, die sie gebracht hatten, sowie Achtung vor geistigem und weltlichem Wissen zeichneten den 15. Propheten der wiederhergestellten Kirche aus.
Ein Haus des Lernens
Gordon Bitner Hinckley wurde am 23. Juni 1910 als erster Sohn von Ada, geb. Bitner, und Bryant Stringham Hinckley in eine religiös engagierte und kulturell gebildete Familie hineingeboren. Die Pädagogen lernten sich kennen, als Bryant Präsident des LDS Business College war und Ada Englisch und Steno unterrichtete. Bryants erste Frau, Christine, war gestorben und hatte ihn mit acht Kindern zurückgelassen. Er und Ada bekamen noch fünf Kinder, die mit diesen acht Kindern zusammen aufwuchsen.
Zuhause gab es eine über tausend Bände umfassende Bibliothek mit literarischen, historischen und philosophischen Werken, und so konnte Gordon ein unersättlicher Leser werden. Sein Wissensdurst war nie gestillt, auch nicht, als er erwachsen war.
Aber in seiner Kindheit gab es noch mehr als Bücher und Lernen. Die Familie kaufte eine kleine Farm im damals ländlichen Gebiet von East Millcreek außerhalb von Salt Lake City in der Hoffnung, dass sich dort Gordons schwache körperliche Verfassung verbessern werde. Im Sommer schlief Gordon im Freien unter dem sternenübersäten Landhimmel, er trank frische Kuhmilch und lernte wichtige Lektionen, etwa „die Kunst, im Januar Bäume zu schneiden, damit sie im September schöne Früchte tragen.“1
Liebe, Achtung und der Familienabend trugen zur Einigkeit in der großen Familie bei.
Gordon empfing als Junge seinen patriarchalischen Segen. Die Worte, er werde „ein mächtiger und tapferer Führer inmitten von Israel werden“, erwiesen sich als prophetisch. „Du wirst immer ein Friedensbote sein; die Nationen der Erde werden deine Stimme hören und durch das Zeugnis, das du geben wirst, die Wahrheit erkennen.“2
Preiset den Mann
Die Jugendzeit brachte dem heranreifenden Gordon Hinckley etliche geistige Erlebnisse, unter anderem ein besonders eindrucksvolles, das er sein Leben lang nicht vergaß. Etwas zögerlich ging Gordon als Diakon zu seiner ersten Pfahl-Priestertumsversammlung, doch er begleitete ja seinen Vater, der als Mitglied der Pfahlpräsidentschaft auf dem Podium saß. Alles Widerstreben verschwand sofort, als die Worte des Anfangslieds in sein Herz drangen: „Preiset den Mann, der einst sprach mit Jehova, der ein Prophet war, von Christus ernannt.“3 Später sagte er darüber: „Etwas ging mit mir vor, als ich diese glaubenstreuen Männer singen hörte. … In mein Herz drang die Erkenntnis, dass der Mann, von dem sie sangen, tatsächlich ein Prophet Gottes war.“4
Freundschaft mit Marjorie
Gordon machte 1928 den Abschluss an der LDS High School und freute sich auf sein Studium an der University of Utah. Außerdem wollte er unbedingt sein Werben um eine junge Frau fortsetzen, die auf der anderen Straßenseite wohnte. Sie kannten einander bereits seit ihrer Kindheit. Die beiden lernten sich bei Aktivitäten in der Gemeinde näher kennen. Obwohl Gordon Hinckley sich selbst als „einen schüchternen und scheuen Jungen mit Sommersprossen im Gesicht und ungeschickt“5 bezeichnete, war er für Marjorie Pay das Wichtigste bei jeder Zusammenkunft. „Er war immer voller Begeisterung“, sagte sie. „Wenn Gordon den Raum betrat, sagten meine Freunde begeistert zu mir: ‚Er ist da!“6
Als er mit dem Studium der englischen Literatur an der University of Utah begann, waren Marjorie und Gordon bereits eng befreundet. Einige seiner Kurse trugen wohl auch zu so manchen Zweifeln bei, die Gordon bereits aufgrund der Weltwirtschaftskrise plagten. „Damals herrschte fürchterliche Hoffnungslosigkeit, und auf dem Universitätsgelände war sie stark zu spüren“, erinnerte er sich. „Ich stellte einiges in Frage, unter anderem vielleicht auch in geringem Maße den Glauben meiner Eltern. Für einen Studenten ist das nicht weiter ungewöhnlich, doch damals unter diesen Umständen war es sehr intensiv. … Mein Zeugnis aus jungen Jahren blieb mir erhalten und wurde zu einem Bollwerk, das mir in den äußerst schwierigen Folgejahren Halt gab“7, sagte er.
„Vergiss dich selbst und mach dich an die Arbeit!“
Etwaige Zweifel während seiner Zeit am College hielten Gordon nicht davon ab, sich voll und ganz in der Kirche einzusetzen. Präsident Hinckley sagte über seine Zeit am College: „Im Herzen fühlte ich so etwas wie Liebe zu Gott und zu seinem großartigen Werk. Dies trug mich durch alle Zweifel und Ängste.“8
Im Juni 1932 schloss er sein Studium an der University of Utah mit dem Bachelor of Arts ab. Gordon ließ sich von der landesweiten Arbeitslosenquote von dreißig Prozent nicht abschrecken und wollte Geld verdienen, um ein hohes Ziel zu erreichen: Er wollte an der Columbia University in New York Journalistik studieren.
In dieser Zeit, als wirtschaftlich alles aussichtslos war, planten nur wenige junge Männer, auf Mission zu gehen, und wenige Familien konnten sich diese Ausgaben auch leisten. So war Gordon überrascht, als sein Bischof ihn fragte, ob er auf Mission gehen wolle. Gordon nahm die Berufung an. Letztlich hatte seine Mutter Ada, die 1930 an Krebs gestorben war, die finanzielle Rücklage für seine Mission geschaffen. Die Familie entdeckte ein Sparkonto, auf das sie das Wechselgeld von ihren Lebensmitteleinkäufen eingezahlt hatte. Das Geld war für die Mission ihrer Söhne bestimmt. So konnte Gordon 1933 nach London abreisen.
Ein bedeutsames geistiges Erlebnis folgte bald darauf. Präsident Hinckley bezeichnete dies immer als „meinen Tag der Entscheidung. … Alles Gute, was mir seither widerfahren ist, kann ich [darauf] zurückführen.“9 Gordon war entmutigt, weil er das Evangelium Menschen verkündigte, die nicht aufnahmebereit waren. Er klopfte an Türen, die nicht geöffnet wurden, und so schrieb er seinem Vater: „Ich verschwende meine Zeit und dein Geld. Ich sehe keinen Sinn darin, hier zu bleiben.“
Bryant Hinckley, wie immer Pädagoge und weiser Lehrer, schrieb zurück: „Lieber Gordon, ich habe deinen Brief erhalten. … Ich kann dir nur eins raten: Vergiss dich selbst und mach dich an die Arbeit. In Liebe, dein Vater.“ Mit dem Brief in der Hand ging Gordon in seine Wohnung zurück und dachte über die Schriftstelle nach, die er beim Schriftstudium am Morgen gelesen hatte: „Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten“ (Markus 8:35). „Ich kniete nieder“, so erzählte er, „und gelobte dem Herrn, ich würde mich bemühen, mich selbst zu vergessen und an die Arbeit zu gehen.“10
1934 wurde er als Assistent von Elder Joseph F. Merrill vom Kollegium der Zwölf Apostel, dem Präsidenten der Europäischen Mission, berufen. Gordon schrieb Artikel, die im Millenial Star, einer Veröffentlichung der Kirche, und, was für die Missionsarbeit noch bedeutsamer war, in der Zeitschrift London Monthly Pictorial veröffentlicht wurden. Präsident Merrills Vertrauen in den jungen Missionar war so groß, dass er Elder Hinckley beauftragte, mit dem Chef eines großen Verlags zu sprechen, der ein Buch mit Unwahrheiten über die Kirche herausgebracht hatte. Nach diesem Gespräch fügte der Verlag dem Buch noch eine Richtigstellung bei.
Karriere bei den Medien
Da Gordon Hinckley so hervorragend mit der englischen Presse zurechtgekommen war, beauftragte Präsident Merrill ihn, der Ersten Präsidentschaft zu berichten, dass die Europäische Mission mehr und besseres Material für den Missionsdienst brauche. Gordon Hinckley hoffte zwar noch immer, auf die Columbia University zu gehen, aber er konnte seine Talente vor der Ersten Präsidentschaft nicht verbergen. Nachdem er dort vorgesprochen hatte, wurde er Sekretär des Komitees für Radio, Öffentlichkeitsarbeit und Missionsliteratur.
Von 1935 bis 1958 verfasste Gordon Hinckley als Angestellter der Kirche zahlreiche Broschüren über das Evangelium und Bücher für Missionare, produzierte Radioprogramme, betreute die Übersetzer des Buches Mormon aus dem Englischen in andere Sprachen und beaufsichtigte den Ausstellungsstand der Kirche an der Weltausstellung 1939 in San Francisco. Er setzte als Erster audiovisuelle Hilfsmittel in der Missionsarbeit ein, und später nutzte er diese auch für den Tempel und bei Ausstellungen der Kirche. Bei seiner Tätigkeit für die Kirche gab es nur während des Zweiten Weltkriegs eine kurze Unterbrechung, als er in Denver, Colorado, eine leitende Stellung bei der Eisenbahnlinie Denver and Rio Grande Railroad innehatte.
Als Angestellter der Kirche leitete Gordon Hinckley auch das Missionsprogramm während des Koreakriegs und erhielt es aufrecht, außerdem produzierte er den Tempelfilm, der das erste Mal im Bern-Tempel verwendet wurde, dessen Besucher ja aus verschiedenen Sprachgebieten kamen.
Ein weiteres Haus des Lernens
Gordon Hinckley heiratete seine Nachbarin, Freundin und seinen Schatz, Marjorie Pay, am 29. April 1937 im Salt-Lake-Tempel.
Ihre Familie wurde größer, sie bekamen drei Töchter und zwei Söhne: Kathleen (Barnes Walker), Richard Gordon, Virginia (Pearce), Clark Bryant und Jane (Dudley). Die Familie verbrachte ihren Urlaub überall in den Vereinigten Staaten, las und besprach gute Bücher und erfreute sich humorvoller Gespräche am Esstisch.
Gordons Erziehungsstil spiegelte den seines Vaters wider: ruhig, praktisch orientiert und strengen Disziplinarmaßnahmen eher abgeneigt. Beide Elternteile übten auf die Kinder keinen Druck aus, sich richtig zu verhalten. Als Richard die typischen Fragen und Zweifel eines Teenagers durchlebte, beeindruckte ihn das Vorbild seines Vaters enorm. „Vater war wie ein Anker“, sagte er. „Im Herzen wusste ich, dass er wusste, dass das Evangelium wahr ist. … Gott war für ihn eine wirkliche Person.“11
Das Kollegium der Zwölf Apostel
Zu Gordons Hinckleys Arbeit gehörte, dass er sich regelmäßig mit den führenden Brüdern beriet. Als Präsident McKay ihn am Wochenende der Frühjahrs-Generalkonferenz 1958 in sein Büro bat, nahm Gordon Hinckley an, der Präsident wolle mit ihm über seine Arbeit sprechen. Stattdessen berief Präsident McKay ihn als Generalautorität. Gordon Bitner Hinckley war überrascht und überwältigt, als er am 6. April 1958 als Assistent des Kollegiums der Zwölf Apostel bestätigt wurde.
1960 wurde den Generalautoritäten die Zuständigkeit für weite Gebiete der Welt übertragen, und eines der schwierigsten bekam Elder Hinckley: Asien. Es war ein riesiges Gebiet, und die schwierigen, unterschiedlichen Sprachen stellten eine Herausforderung für die Missionare dar. Politische Unruhen erschwerten die Lage. Elder Hinckley war auf dem ganzen riesigen Kontinent tätig: Er schulte Führungsbeamte vor Ort, machte den Missionaren Mut und suchte auf dem Immobilienmarkt, an dem exorbitante Preise herrschten, Grundstücke für Gemeindehäuser. Die Menschen in Asien wiederum schlossen ihn ins Herz, weil er sich unters Volk mischen wollte, mit öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr und einheimische Speisen aß. Ein Kirchenführer in Japan sagte, Elder Hinckley habe gesprochen und zugehört, als wäre er selbst Asiate.12
Elder Hinckley arbeitete auch nach dem bedeutsamen Samstag, dem 30. September 1961, an dem er als Mitglied des Kollegiums der Zwölf Apostel bestätigt wurde, weiter in Asien. „Das bringt einen wirklich zum Nachdenken“, sagte Präsident Hinckley. „Eine solche Berufung bringt ein gewaltiges Gefühl von Verantwortung und die Pflicht mit sich, vom Herrn Zeugnis zu geben.“13 Die Mitglieder in aller Welt konnten sich bald selbst von Elder Hinckleys typischer Redeweise – geistig, humorvoll und einfühlsam – überzeugen. Seine begeisternden Botschaften überwanden kulturelle Unterschiede und Grenzen. In ihnen waren Kraft, Feingefühl und Selbstironie auf eine Weise vereint, dass Würdenträger und einfache Mitglieder gleichermaßen bewegt waren.
Als Mitglied der Zwölf überwachte Elder Hinckley die Arbeit in Südamerika und danach in Europa. Die Verwaltungsarbeit und häufige Ansprachen nahmen oft weniger Zeit in Anspruch als der Dienst am Nächsten und die humanitäre Hilfe. 1970 beispielsweise – Elder Hinckleys Flugzeug hatte gerade Lima verlassen – erschütterte ein verheerendes Erdbeben das Land. Als er in Chile davon erfuhr, sagte er die geplanten Versammlungen ab und kehrte nach Peru zurück, wo er gemeinsam mit dem Missionspräsidenten die Missionare und Mitglieder ausfindig machte, die Hilfsmaßnahmen koordinierte und in die verwüsteten Dörfer fuhr, um Trost zu spenden.
Als Generalautorität gehörte Elder Hinckley zahlreichen Komitees an, unter anderem dem allgemeinen Priestertumskomitee, dem Korrelationskomitee und dem Budgetierungs- und Bewilligungskomitee der Kirche. Aber seine größten Leistungen erbrachte er – erwartungsgemäß – in der Öffentlichkeitsarbeit mit der Presse und für die Allgemeinheit. Er entwickelte weiterhin Material über die Kirche und verwendete dabei verschiedene Medien, außerdem suchte er immer nach besseren Möglichkeiten, mit Hilfe der Technik mit den Heiligen der Letzten Tage in der ganzen Welt in Verbindung zu treten. Bei schwierigen Fragen wurde Elder Hinckley gebeten, die Position der Kirche den Medien gegenüber zu vertreten. „Bruder Hinckley … freute sich eigentlich über schwierige Aufträge und scheute nicht davor zurück, sich mit Gegnern der Kirche auseinanderzusetzen“14, erklärte Präsident Thomas S. Monson.
Die Erste Präsidentschaft
Elder Hinckley diente als Mitglied des Kollegiums der Zwölf Apostel unter vier Präsidenten: David O. McKay, Joseph Fielding Smith, Harold B. Lee und Spencer W. Kimball. Am 23. Juli 1981 wurde er als dritter Ratgeber von Präsident Kimball eingesetzt. Dieser war krank, und auch seine Ratgeber, Marion G. Romney und N. Eldon Tanner, waren in schlechter Verfassung. Gordon B. Hinckley verblieb von nun an in der Ersten Präsidentschaft. Er war Ratgeber von Spencer W. Kimball, Ezra Taft Benson und dann von Howard W. Hunter. Er übernahm mehrere Aufgabenbereiche, wenn sich der Gesundheitszustand dieser Präsidenten verschlechterte, und führte die Arbeit der Kirche auf ihre Weisung hin weiter.
Er schrieb später darüber: „Manchmal machte mir diese Last beinahe Angst. … Ich weiß noch, wie ich einmal vor dem Herrn niederkniete und ihn mitten in [einer] äußerst schwierigen Lage um Hilfe bat. Und da kamen mir diese tröstlichen Worte in den Sinn: ‚[Sei] ruhig und [wisse], dass ich Gott bin (LuB 101:16).“15
In seine Zeit als Ratgeber fallen bedeutsame Ereignisse und Änderungen in der Kirche. Unter anderem wurde 1989 die Zuweisung der allgemeinen Zehnten- und Opfergelder eingeführt, um die örtlichen Einheiten der Kirche zu unterstützen, und 1991 wurden die Missionarsbeiträge vereinheitlicht. Außerdem suchte er persönlich Baugrundstücke aus, beaufsichtigte die Planung und weihte in den Achtzigerjahren zwanzig Tempel.
Es war für Präsident Hinckley nicht immer leicht, sich mit weltlichen Angelegenheiten zu befassen. Geschickt formulierte er den Standpunkt der Kirche zu allem – von der gleichgeschlechtlichen Ehe über Glücksspiel bis hin zum Disziplinarrat der Kirche. Außerdem erstellte er weiterhin Material zur Erbauung, beaufsichtigte Anfang der Neunzigerjahre die Produktion neuer Filme für den Tempel und konzipierte die Geschichte für Das Vermächtnis, ein Filmepos, in dem die Geschichte der Mormonenpioniere dargestellt wird.
Als Präsident Bensons Gesundheitszustand sich Anfang der Neunzigerjahre allmählich verschlechterte, teilten sich Präsident Hinckley und Präsident Thomas S. Monson die täglich anfallenden Aufgaben der Ersten Präsidentschaft, bis Präsident Benson 1994 verstarb. Gemeinsam unterstützten die beiden Ratgeber Howard W. Hunter in dessen Amtszeit als 14. Präsident der Kirche, bis dieser am 3. März 1995 verstarb.
Präsident Hinckley war von Ehrfurcht ergriffen, als es so weit war, dass nun er den Mantel der Vollmacht tragen sollte. „Ich hatte keine Ahnung, wie überwältigend sich das anfühlt“16, sagte er später. Eines Tages ging er frühmorgens allein in den vierten Stock des Salt-Lake-Tempels. Nachdem er in den Schriften gelesen hatte, betrachtete er aufmerksam die Gemälde in dem Raum, auf denen das Leben des Erlösers dargestellt war. „Insbesondere beeindruckte mich das Gemälde mit der Kreuzigung“, schrieb er. „Ich dachte intensiv über den Preis nach, den der Erretter für meine Erlösung gezahlt hatte. Ich dachte über die überwältigende Aufgabe nach, sein Prophet auf Erden zu sein. Ich fühlte mich sehr klein und weinte, weil ich mich unzulänglich fühlte.“ Und doch verließ er an diesem Tag den Tempel mit der machtvollen Bestätigung, dass „der Herr seinen Willen in Bezug auf seine Sache und sein Reich ausführen wird“.17
Präsident Gordon B. Hinckley wurde am 12. März 1995 als 15. Präsident der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage mit Thomas S. Monson als Erstem und James E. Faust als Zweitem Ratgeber eingesetzt. Sie dienten zusammen über zwölf Jahre lang, bis Präsident Faust im August 2007 starb. Präsident Henry B. Eyring wurde anlässlich der Generalkonferenz am 6. Oktober 2007 als Zweiter Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft bestätigt.
Öffnung zur Welt
Präsident Hinckleys Offenheit den Medien gegenüber diente dem Zweck, für den er gearbeitet hatte, seit er 1935 eine Stelle in der Kirche angenommen hatte. Nun konnte er seine Mission, nämlich die Kirche „aus der Finsternis“ (LuB 1:30) hervorzubringen, verwirklichen. Und dies erreichte er wirklich: Er zeigte der Welt, dass die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage keine kleine, provinzielle Sekte aus dem Westen Amerikas ist.
Als Präsident traf er auch weiterhin mit führenden Politikern und Meinungsbildnern aus aller Welt zusammen. Im November 1995 überreichten Präsident Hinckley und Elder Neal A. Maxwell vom Kollegium der Zwölf Apostel dem US-Präsidenten Bill Clinton und dessen Vizepräsidenten Al Gore ein Exemplar der Proklamation über die Familie, als man im Weißen Haus zusammenkam, um zu erörtern, wie die Familie gestärkt werden kann. Als Präsident Hinckley später im landesweiten Fernsehen in der Sendung 60 Minutes von Reporter Mike Wallace interviewt wurde, hörten Millionen Amerikaner, wie ein lebender Prophet von der ersten Vision Zeugnis gab, das Priestertum erklärte und weitere Grundsätze des Evangeliums erörterte. In all den Jahren sprach er immer wieder zu zahlreichen Gruppen aus Wirtschaft, Politik und Kultur, unter anderem der National Association for the Advancement of Colored People (Nationale Gesellschaft zur Förderung Farbiger), der General Society of Mayflower Descendants (Verein der Nachkommen der Mayflower-Passagiere) und der U.S. Conference of Mayors (Bürgermeisterkonferenz der Vereinigten Staaten). Einige Male war er in der Kabelfernsehshow Larry King Live zu Gast.
Präsident Hinckley begann das 21. Jahrhundert, indem er als erster Präsident der Kirche vor dem amerikanischen Presseclub in Washington D.C. sprach und dabei Fragen aus allen Bereichen – von Genealogie bis zu humanitären Hilfsmaßnahmen – beantwortete. Als Präsident der Kirche verfasste er auch etliche Bücher. Das erste Buch, Standing for Something: 10 Neglected Virtues That Will Heal Our Hearts and Homes (Für etwas einstehen: zehn vernachlässigte Tugenden, die unser Herz und unsere Familie heilen), wurde Anfang 2000 veröffentlicht. Auf der Bestsellerliste von Publishers Weekly gehörte es zu den zehn erfolgreichsten Büchern in der Sparte Religion. An seinem 94. Geburtstag im Jahr 2004 wurde Präsident Hinckley vom amerikanischen Präsidenten George W. Bush die Freiheitsmedaille überreicht.
Inmitten der Heiligen
Präsident Hinckley legte großen Wert darauf, mit den Heiligen der Letzten Tage in aller Welt zusammenzukommen. „Ich bin entschlossen, solange ich noch Kraft habe, zu den Menschen in diesem Land und in anderen Ländern hinauszugehen“, sagte er bei der Frühjahrs-Generalkonferenz 1996. „Ich möchte mich unter den Menschen aufhalten, die ich liebe.“18 Kurz nachdem er 1995 als Präsident bestätigt wurde, machte er sich auf den Weg zu den Britischen Inseln – und das war erst der Anfang. 1996 besuchte er die Mitglieder in 22 Ländern in Mittel- und Südamerika, Europa, Asien und 13 US-Bundesstaaten. Er war der erste Präsident der Kirche, der das chinesische Festland aufsuchte.
Dieses Tempo behielt er auch in den folgenden Jahren bei. Im Januar 2000 legte er beispielsweise in zehn Tagen 37 000 Kilometer zurück und kam im Pazifikraum mit Mitgliedern in Kiribati, Australien, Indonesien, Singapur und Guam zusammen. 2004 weihte er den Accra-Tempel in Ghana, besuchte die Heiligen in Kap Verde und bereiste Europa. Bis zum Jahr 2005 war Präsident Hinckley mehr als anderthalb Millionen Kilometer als Prophet des Herrn gereist. Allein in diesem Jahr war er in Russland, Südkorea, Taiwan, Hongkong, Nigeria und weiteren Ländern gewesen.
Unter der Leitung von Präsident Hinckley kümmerte sich die Kirche auch um die Bedürftigen in aller Welt. 1996 beispielsweise verteilte das humanitäre Hilfsprogramm der Kirche in 58 Ländern Kleidung für 8,7 Millionen Menschen, in 70 Ländern 450 Tonnen medizinischen Bedarf und Schulmaterial und in dem von Hunger geplagten Nordkorea Nahrungsmittel, Medikamente und Agrarprodukte im Wert von 3,1 Millionen US-Dollar.19 Im März 2000 kündigte Präsident Hinckley die Einrichtung des Ständigen Ausbildungsfonds an. Der Fonds vergibt Darlehen, die es jungen Heiligen der Letzten Tage in der ganzen Welt ermöglichen, die für eine bessere Arbeit erforderliche Ausbildung und Schulung zu erhalten. In den Jahren 2004 und 2005 leistete die Kirche den Opfern des Tsunamis in Südostasien, des Hurrikans Katrina und zahlreicher weiterer Naturkatastrophen in verschiedenen Ländern immense Hilfe.
Gebäude für die Zukunft
Die Errichtung heiliger Gebäude spielte in der Amtszeit von Präsident Hinckley eine große Rolle. Im Juli 1997 sprach der Prophet das Weihungsgebet beim ersten Spatenstich für das neue Konferenzzentrum in Salt Lake City. Im April 2000 fand eine bemerkenswerte Generalkonferenz in dem riesigen Gebäude statt, das etwa 21 000 Menschen Platz bietet. Viele hatten bis dahin die Reise nach Salt Lake City gescheut – aus Angst, im Tabernakel keinen Sitzplatz zu bekommen. „Auf diesen Tag habe ich fast 50 Jahre lang gewartet, seit dem Tag, an dem ich mich der Kirche angeschlossen habe“,20 sagte ein 72-jähriger Konferenzbesucher aus Samoa.
Im Oktober 1997 kündigte Präsident Hinckley an, dass die Kirche von nun an in Gebieten mit wenigen Mitgliedern kleine Tempel bauen werde. Das Ergebnis dieses Vorhabens war eine noch nie dagewesene Zunahme an Tempeln. Während seiner Amtszeit wurden über 70 Tempel in 21 Ländern gebaut. Im Oktober 2005 nahm Präsident Hinckley den ersten Spatenstich für den Bau des im Zentrum von Salt Lake City gelegenen Historischen Archivs der Kirche vor. Es entspricht dem neuesten Stand der Technik und soll bis Mitte 2009 fertiggestellt sein.
Präsident Hinckley Bemühungen, die Kirche voranzubringen, erstreckten sich auch auf die Nutzung des Internets. Nachdem sich die Kirche im Internet mit der Seite LDS.org etabliert hatte, richtete sie 1999 eine Webseite für Genealogie ein, FamilySearch.org. Die Resonanz bei den Interessierten in aller Welt war überwältigend. 2001 wurde Mormon.org erstellt, um Fragen zu Lehren der Kirche zu beantworten. Weitere Angebote im Internet folgten. Sie sollten den Mitgliedern und Andersgläubigen weiterhelfen – etwa die Seite JosephSmith.net.
Eine ewige Partnerschaft
Am 29. April 2003 feierte Präsident Hinckley ein besonderes privates Ereignis: seinen 66. Hochzeitstag. In Anbetracht seiner eigenen Ehe kam er zu dem Schluss: „Würde der Mann weniger an sich und mehr an seine Frau denken, hätten wir in der Kirche und in der ganzen Welt glücklichere Familien.“21
Schwester Hinckley starb weniger als ein Jahr danach an Altersschwäche, und zwar am 6. April 2004. Tausende Heilige wohnten ihrer Beerdigung bei, und noch mehr verfolgten den Gottesdienst im Fernsehen. Ihr Sohn Clark Hinckley las aus einem Brief vor, den sein Vater seiner Frau geschrieben hatte: „Wenn dereinst die Hand des Todes einen von uns beiden sanft berührt, werden zwar gewiss Tränen fließen, aber es wird auch die stille und sichere Gewissheit geben, dass wir einander wiedersehen und auf ewig zusammen sein werden.“
Wie ein Heiliger der Letzten Tage sein soll
Präsident Hinckley lebte, um zu dienen und Opfer zu bringen. Er lebte für seine Familie und für die Mitglieder der Kirche, an die er sich in seinen Ansprachen und auf Reisen wandte. Zu diesen Mitgliedern sagte er anlässlich der Herbst-Generalkonferenz 2006: „Im vorigen Juni habe ich meinen 96. Geburtstag gefeiert. Ich habe von etlichen Seiten erfahren, dass beträchtliche Spekulationen über meinen Gesundheitszustand angestellt werden. Ich möchte die Dinge richtigstellen. Wenn ich es noch ein paar Monate länger aushalte, werde ich bis zu einem höheren Alter im Amt gewesen sein als jeder frühere Präsident. Ich sage das nicht, um zu prahlen, sondern vielmehr aus Dankbarkeit.“ Dem fügte er die folgende, für ihn charakteristische Bemerkung hinzu: „Der Herr hat mir gestattet, weiterzuleben, und ich weiß nicht, wie lange noch. Wie lange es aber auch sein mag – ich werde weiterhin mein Bestes geben, um meine Pflicht zu erfüllen.“22
Im August 2005 forderte Präsident Hinckley die Mitglieder der Kirche auf, dem Erlöser näherzukommen und bis Jahresende das Buch Mormon vollständig durchzulesen. Im Jahr 2005 gab es bereits die Feierlichkeiten zum Gedenken an die Geburt des Propheten Joseph Smith vor 200 Jahren, und nun kam für die Mitglieder, die der Aufforderung nachkamen, noch ein besonderes Erlebnis hinzu. Das Ergebnis war, dass mehr Mitglieder das Buch Mormon lasen als je zuvor.
Präsident Hinckley ermahnte die Heiligen der Letzten Tage oft auf seine freundliche und sanfte Art, ein gutes Vorbild zu sein. „Seien wir gute Menschen“, sagte er uns in einer Ansprache bei der Frühjahrs-Generalkonferenz 2001. „Seien wir freundliche Menschen. Seien wir gute Nachbarn. Seien wir so, wie die Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage sein sollten.“23
Wir wollten dies tun, weil wir gesehen haben, wie er um andere besorgt war, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihren Glaubensansichten. Wir haben gesehen, wie er sich um die Neubekehrten sorgte. Wir haben gesehen, wie er dank seiner Bildung und Geistigkeit eindrucksvoll sprach, weise Entscheidungen traf und der Welt ein Beispiel für einen gläubigen Menschen gab. Wir haben gehört, wie er über sich selbst gelacht und wahre Demut gezeigt hat, er hat sein Leben sozusagen sowohl beherrscht als auch kraftvoll gelebt. Vor allem aber hat uns der unvergessliche 15. Prophet der Letzten Tage, Gordon Bitner Hinckley, dazu gebracht, Jesus Christus besser zu verstehen und mehr zu lieben.