2011
Zwei Pioniere – zwei Jahrhunderte
August 2011


Zwei Pioniere – zwei Jahrhunderte

Ein Junge aus Schottland. Ein Mädchen aus Taiwan. Anderthalb Jahrhunderte voneinander entfernt, aber durch den Glauben verbunden.

Lieber Ebenezer, du kennst mich nicht; wir sind uns nie begegnet.

Am 17. November 1830 wurdest du in Dunblane, Perthshire, in Schottland geboren. Deine Eltern hießen Andrew Bryce und Janet Adams Bryce. Sie nannten dich Ebenezer.

Einhundertdreiundvierzig Jahre später wurde ich in Hualien in Taiwan geboren. Man gab mir den Namen Ji-Jen Hung.

Du hast mit zehn Jahren angefangen, in einer Schiffswerft zu arbeiten. Später wurdest du Lehrling. Du hast dein Handwerk sehr gut beherrscht.

Mit vier Jahren fing ich an, das Einmaleins und die Symbole der chinesischen Lautschrift auswendig zu lernen. Es war nicht leicht, aber ich schaffte es.

Im Frühjahr 1848 wurde dein Interesse an der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage geweckt, obwohl dein Vater, deine Familie und deine Freunde deine Begeisterung nicht teilten. Sie versuchten alles Mögliche, um dich dazu zu überreden, dich von der Kirche loszusagen. Dein Vater schloss sogar deine Kleidung weg, um dich davon abzuhalten, die Versammlungen am Sonntag zu besuchen. Aber dein Glaube war unerschütterlich. Trotz Verfolgung hast du dich weiter vorwärtsgekämpft.

Am 4. Dezember 1986 klopften zwei amerikanische Missionare der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage an unsere Tür. Mein Vater erlaubte den Missionaren zwar, uns regelmäßig zu besuchen, aber an ihrer Botschaft war er eigentlich nie interessiert. Ein paar Monate später ließ er sich von meiner Mutter scheiden und heiratete wieder.

Als mein Vater den Missionaren von unseren zerrütteten Familienverhältnissen erzählte, teilte er ihnen auch mit, dass sie uns nicht mehr besuchen sollten.

Die Missionare ließen ein Buch Mormon da. Auf die Innenseite hatten sie die Adresse der nächsten Gemeinde geschrieben, und darunter stand: „Wir sind als Freunde immer für Sie da. Wenn wir irgendetwas für Ihre Familie tun können, kommen Sie zu dieser Adresse; dort finden Sie uns.“

Es war schwer, den Missionaren an diesem Abend Lebewohl zu sagen. Ich hatte immer gespürt, dass ihre Botschaft etwas Kostbares war.

Meine Stiefmutter zog ein. Sie und mein Vater waren gemein zu mir. Ich hatte es sehr schwer und wurde zu einem zynischen Teenager.

Eines Abends, als ich es nicht länger ertrug, mich von ihnen so grausam behandeln zu lassen, rannte ich voller Angst zur Tür hinaus und versteckte mich in den Reisfeldern. Ich war einsam, niedergeschlagen und ohne jede Hoffnung. Ich wollte fortlaufen, wusste aber nicht, wohin.

Da fiel mir plötzlich ein, was die Missionare bei ihrem letzten Besuch gesagt hatten. „Morgen werde ich mich als Erstes auf den Weg zu meinen Freunden machen“, sagte ich mir und spürte zum ersten Mal seit Jahren inneren Frieden.

Früh am nächsten Morgen sprang ich auf mein Fahrrad und fuhr zum Gemeindehaus, aber die Missionare, die meine Familie Jahre zuvor besucht hatten, waren inzwischen nach Hause zurückgekehrt. Als ich gerade aufgeben wollte, kamen zwei freundliche Damen mit dem bekannten schwarzen Namensschild auf dem Mantel auf mich zu und stellten sich vor.

Lieber Ebenezer, obwohl dein Vater dagegen war, hast du dich im April 1848 taufen lassen; du warst der einzige Bekehrte in deiner Familie.

Einen Monat nachdem ich die Missionarinnen kennengelernt hatte, ließ ich mich im November 1988 taufen; ich war die erste Bekehrte in meiner Familie.

Mein Vater und meine Stiefmutter erschwerten es mir aber, die Kirche zu besuchen.

Als ich einmal von einer Aktivität der Jungen Damen nach Hause gekommen war, stampfte mein Vater ins Wohnzimmer, verfluchte mich, holte sich meine heiligen Schriften und zerriss sie in Stücke. Weiße Papierfetzen schwebten durch die Luft und ließen sich dann sanft auf dem Boden nieder, und auch meine Tränen kullerten auf den Boden.

Es war wie ein Alptraum, von dem es kein Erwachen gab.

Als ich 21 wurde, brachte ich meinen innigen Wunsch zum Ausdruck, eine Vollzeitmission zu erfüllen. Die Reaktion meines Vaters war, dass er mich hinauswarf. Am chinesischen Neujahrsabend, wenn die meisten Menschen nach Hause gehen, um mit ihren Angehörigen zusammen zu sein, wurde ich aus dem Haus gejagt.

Lieber Ebenezer, als du die Verfolgung seitens deiner Familie und deiner Freunde nicht mehr ertragen konntest, hast du dich entschieden, von Schottland nach Amerika auszuwandern, um dich den Heiligen der Letzten Tage anzuschließen und über die Prärie nach Utah zu ziehen. Dein Vater war außer sich vor Wut. Er gebot dir, zu bleiben, aber du warst fest entschlossen. An dem Tag, als du an Bord des Schiffes gingst, hast du ihn zum letzten Mal gesehen.

Das Leben als 17-jähriger Einwanderer war für dich nicht leicht, Ebenezer, aber du bist damit klargekommen. Dein Können als Zimmermann, Schlosser und Schiffsbauer wurde sofort genutzt. Du wurdest berufen, in Pine Valley in Utah ein Gemeindehaus zu bauen. Obwohl du noch nie ein Gemeindehaus gebaut hattest, hast du nicht gezögert, die Berufung anzunehmen. Dieses Gebäude ist heute das älteste Gemeindehaus der Kirche, das noch genutzt wird.

Später hast du das majestätische natürliche Amphitheater entdeckt, das heute deinen Namen trägt: Bryce Canyon National Park.

Am 4. Juni 1994 begann ich meinen Dienst als Missionarin in der Taiwan-Mission Taichung. Ich steckte ein schwarzes Namensschild an meinen Mantel, wie die Missionare, die so viele Jahre zuvor meine Familie besucht hatten. Es stimmte mich demütig. Ich fühlte mich geehrt und reich gesegnet.

Nach meiner Mission wanderte ich nach Utah aus. Dort lernte ich meinen zukünftigen Ehemann kennen. Wir heirateten im Tempel für Zeit und alle Ewigkeit. Durch die Abstammungslinie meines Mannes wurde ich mit dir verbunden.

Lieber Ebenezer, du kennst mich nicht. Wir sind uns nie begegnet. Aber ich habe viel über dich gehört. Deine Füße haben nie aufgehört vorwärtszugehen. Deine Hände haben nie aufgehört zu arbeiten. Dein Herz hat nie aufgehört zu glauben. Du hast nie aufgehört zu dienen. Nach all diesen Jahren gibt mir dein Beispiel, deine Glaubenstreue immer noch Auftrieb. Danke, lieber Ebenezer. Ich danke dir!

Ebenezer Bryce half mit, das Gemeindehaus in Pine Valley (unten) zu bauen, das 1868 fertiggestellt wurde. Er entdeckte auch den Canyon, der heute nach ihm benannt ist: der Bryce Canyon National Park (rechts) im Süden Utahs.

Foto der Verfasserin von Derek Israelson; Abdruck des Fotos von Ebenezer Bryce mit freundlicher Genehmigung der Utah State Historical Society; Foto vom Bryce Canyon © Rubberball Productions