Ihr seid frei
Aus einer Ansprache, die am 19. Oktober 1999 bei einer Andacht an der Brigham-Young-Universität gehalten wurde. Den englischen Text finden Sie in voller Länge unter speeches.byu.edu.
Was Gott verlangt, ist jene Hingabe, die auch Jesus an den Tag gelegt hat.
Präsident Gordon B. Hinckley (1910–2008) nannte das Evangelium „einen Plan der Freiheit, der das Verlangen zügelt und das Verhalten lenkt“.1 Dieser Plan führt uns auf einen Weg, auf dem Erkenntnis und Fähigkeiten, Gnade und Licht immer mehr zunehmen. Er macht uns frei, das zu werden, was in uns steckt und was wir werden sollen. Diese Freiheit wird aber erst dann vollständig, wenn man bereit ist, alle seine Sünden aufzugeben (siehe Alma 22:18), den Eigenwillen, liebgewonnene, doch verkehrte Gewohnheiten, vielleicht sogar manches Gute, was dem im Weg steht, was Gott für wesentlich hält.
Die Stimme des Meisters
Meine Tante Adena Nell Gourley erzählte einmal, was sie vor vielen Jahren mit ihrem Vater – meinem inzwischen verstorbenen Großvater Helge V. Swenson – erlebt hatte, und dieses Erlebnis verdeutlicht, was ich meine. Sie berichtete:
„Meine Tochter und ich waren bei meinen Eltern zu Besuch. Kurz vor Sonnenuntergang fragte uns meine Mutter, ob wir auf der hinteren Veranda zusehen wollten, wie Vater seine [fünf] Schafe rief, um sie für die Nacht in den Stall zu bringen. Vater ist Pfahlpatriarch und … verkörpert alles, was an einem Mann Gottes gütig und sanft und wahr ist. …
Vater stellte sich an den Rand der Weidefläche und rief: ‚Kommt her!‘ Sofort drehten sich fünf Köpfe zu ihm. Die Schafe bissen nicht einmal mehr das Gras ab, das sie gerade zu fassen versucht hatten, sondern rannten los, bis sie bei ihm standen, und er tätschelte jedes am Kopf.
Meine kleine Tochter fragte verwundert: ‚Oma, wie hat Opa das denn geschafft?‘
Meine Mutter antwortete: ‚Die Schafe kennen seine Stimme, und sie lieben ihn.‘ Nun muss ich erwähnen, dass fünf Schafe auf dem Feld waren, fünf Köpfe aufschauten, als mein Vater rief, aber nur vier Schafe zu ihm rannten. Am weitesten entfernt, ganz am anderen Ende der Weide, stand ein großes Mutterschaf, das ihn unverwandt anblickte. Vater rief ihm zu: ‚Komm her!‘ Es machte eine Bewegung auf ihn zu, kam aber nicht. Da ging Vater übers Feld und rief immer wieder: ‚Komm her! Du bist nicht angebunden.‘ Die anderen vier Schafe trotteten hinter ihm her.
Dann erklärte uns Mutter, dass ein Bekannter das Mutterschaf vor ein paar Wochen vorbeigebracht und es Vater mit der Begründung geschenkt hatte, er wolle es nicht länger in seiner Herde haben. Der Mann hatte gesagt, es sei wild und eigensinnig, führe die anderen Schafe immer durch den Zaun und verursache so viel Ärger, dass er es einfach loswerden wolle. Vater nahm das Schaf dankbar entgegen und pflockte es in den folgenden Tagen auf dem Feld an, damit es nicht fortlief. Dann brachte er es geduldig dazu, dass es die anderen Schafe und ihn liebgewann. Als es sich in seiner neuen Umgebung sicherer fühlte, ließ Vater weiterhin einen kurzen Strick um seinen Hals, band es aber nicht mehr fest.
Während Mutter uns dies erzählte, waren Vater und seine Schafe schon fast am Feldrand bei dem Nachzügler angekommen, und in der Stille hörten wir ihn noch einmal rufen: ‚Komm her! Du bist nicht mehr angebunden. Du bist frei!‘
Mir traten die Tränen in die Augen, als ich sah, wie sich das Schaf einen Ruck gab und auf Vater zuging. Liebevoll legte er seine Hand auf den Kopf des Schafes und kehrte mit seiner kleinen Herde zu uns zurück.
Ich musste daran denken, wie manche von uns, die wir ja alle Gottes Schafe sind, wegen unserer Sünden in der Welt gebunden und unfrei sind. Ich stand auf der Veranda und dankte im Stillen dem Vater im Himmel, dass es wahre Hirtengehilfen und Lehrer gibt, die uns geduldig, freundlich und bereitwillig Liebe und Gehorsam beibringen und uns Sicherheit und Freiheit in der Herde anbieten, damit wir, selbst wenn wir weit vom sicheren Zufluchtsort entfernt sind, die Stimme des Meisters erkennen, wenn er uns zuruft: ‚Komm her! Jetzt bist du frei!‘“2
Es ist eine faszinierende Einsicht, dass die Freiheit in dem Maße zunimmt, wie wir im Gehorsam vollkommener werden. Präsident Boyd K. Packer vom Kollegium der Zwölf Apostel hat dazu gesagt: „Wir sind nicht gehorsam, weil wir blind sind; wir sind gehorsam, weil wir sehen können.“3
In diesem Leben geht es nicht um die Entscheidung, ob wir uns irgendeiner Macht fügen wollen oder nicht. Es geht um die Entscheidung, wessen Macht wir uns unterordnen wollen: Gottes Macht oder der des Satans. Lehi hat erklärt, darin liege die Entscheidung zwischen Freiheit und Gefangenschaft (siehe 2 Nephi 2:27). Entscheidet man sich nicht für das eine, entscheidet man sich zwangsläufig für das andere.
Wenn wir uns Gott und seinem Recht, über uns zu herrschen und zu regieren, beugen, bringt das weitere Segnungen mit sich. An erster Stelle stehen dabei der Glaube und die Zuversicht, die uns inneren Frieden bringen. Der Herr sagte zu Josua:
„Niemand wird dir Widerstand leisten können, solange du lebst. Wie ich mit Mose war, will ich auch mit dir sein. Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. …
Sei nur mutig und stark und achte genau darauf, dass du ganz nach der Weisung handelst, die mein Knecht Mose dir gegeben hat. Weich nicht nach rechts und nicht nach links davon ab, damit du Erfolg hast in allem, was du unternimmst.“ (Josua 1:5,7.)
„Ich habe die Welt besiegt“
Wenn auch wir darauf achten, „ganz nach der Weisung“ zu handeln, können auch wir darauf vertrauen, dass Gott mit uns ist, wie er mit Mose war. Wie der Psalmist können wir dann sagen: „Ich vertraue auf Gott und fürchte mich nicht. Was können Menschen mir antun?“ (Psalm 56:12.) Hat nicht der Herr verheißen: „In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt“ (Johannes 16:33)?
Vor Jahren führte ich einmal in einem Disziplinarrat den Vorsitz. Der Mann, um dessen Sünden es in diesem Rat ging, saß vor uns und erzählte von sich. Er hatte schwerwiegende Sünden begangen, aber man hatte sich auch auf furchtbare Weise gegen ihn versündigt. Während wir die Angelegenheit erörterten, war ich zutiefst beunruhigt, und ich bat darum, mich zurückziehen zu dürfen, um alleine nachzudenken und zu beten.
Ich stand in meinem Büro vor einem Stuhl und flehte den Herrn an, mir begreiflich zu machen, wie jemand einem anderen etwas so Böses antun konnte. Da nahm ich einen unermesslichen Abgrund wahr, der abgedeckt war. Es war kein Bild, eher ein Gefühl. Die Abdeckung wurde an einer Ecke nur einen kurzen Augenblick lang ein wenig angehoben, und ich erahnte in dem Abgrund die Tiefe und Weite des Bösen, das auf der Welt vorhanden ist. Es überstieg meine Vorstellungskraft bei weitem. Ich hatte keine Kraft mehr und sank auf den Stuhl hinter mir. Was ich erlebt hatte, verschlug mir den Atem. Ich weinte still und fragte: „Wie kann man jemals hoffen, solch Böses zu überwinden? Wie kann man etwas so Finsteres und Erdrückendes überleben?“
In diesem Moment kamen mir die Worte in den Sinn: „Habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.“ (Johannes 16:33.) Selten habe ich solchen Frieden verspürt, und das angesichts der Existenz des Bösen. Ich verspürte tiefere Dankbarkeit für das furchtbare Leiden Jesu und hatte eine klarere, ja beängstigende Vorstellung von dem Abgrund dessen, dem er sich stellen musste. Ich verspürte Frieden in dieser Sache. Mir war bewusst, dass der Mann, dessen Fall wir verhandelten, einen Erlöser hatte, dessen Gnade ausreichend war, ihn rein zu machen und auch das Unrecht, das ihm widerfahren war, wiedergutzumachen. Ich wusste, dass dank Jesus Christus das Gute triumphieren wird und dass wir ohne ihn gänzlich verloren wären. Ich verspürte Frieden, wunderbaren Frieden.
Der Prophet Joseph Smith kannte diesen Frieden. Er sagte: „Lasst uns frohgemut alles tun, was in unserer Macht liegt, und dann mögen wir mit größter Zuversicht ruhig stehen, um die Errettung Gottes zu sehen, und dass sein Arm offenbar werde.“ (LuB 123:17.) Denen, die sich Gott unterwerfen, ist verheißen, dass sein Arm – seine Macht – in ihrem Leben offenbar wird. Der Erretter hat gesagt:
„Fürchtet euch nicht, kleine Kinder, denn ihr seid mein, und ich habe die Welt überwunden, und ihr seid von denen, die mein Vater mir gegeben hat, und keiner von denen, die mein Vater mir gegeben hat, wird verlorengehen.“ (LuB 50:41,42.)
Mit dieser Zuversicht zu leben ist ein Segen, der wohl größer ist, als wir es zu schätzen wissen. Wir alle werden früher oder später, in einem Augenblick drohenden Unheils oder zermürbender Verwirrung – wenn wir uns an Gott ausrichten –, voll Überzeugung singen können: „Süß ist der Friede, den das Evangelium bringt.“4
Frieden, Freiheit, Glauben oder sonst eine Gabe von unserem Gott können wir nicht erwarten, wenn wir seine Führung nur halbherzig oder widerwillig annehmen. Geht es nur um ein Ritual und nicht um wahre Rechtschaffenheit, sollten wir keinen Lohn erwarten. Eine halbherzige, distanzierte Gefolgschaft ist für Gott überhaupt keine Gefolgschaft. Wir müssen ihm vollständig, aus ganzem Herzen und bedingungslos ergeben sein. Was Gott erwartet, ist dieselbe Hingabe, die Jesus gezeigt hat, von dem erwartet wurde, dass er einen Kelch trinkt, der so bitter ist, dass es selbst ihn, den großen Schöpfer, bestürzte (siehe Markus 14:33-36; LuB 19:17,18). Doch er trank davon, denn „der Wille des Sohnes [wurde] im Willen des Vaters verschlungen“ (Mosia 15:7).
Ich bezeuge Ihnen, dass wir durch Jesus Christus, den Sohn Gottes, mit Gott eins werden können, wofür Jesus ja gebetet hat (siehe Johannes 17:20-23). Möge Ihre Treue gegenüber dem Vater und dem Sohn auf ewig Ihr Leuchtfeuer sein.