Lektionen aus dem heiligen Hain
Nach der Ansprache „Stehen Sie im heiligen Hain!“, die am 6. Mai 2012 anlässlich einer CES-Andacht in Kalifornien gehalten wurde. Den vollständigen Text finden Sie unter cesdevotionals.lds.org.
Ich möchte Sie auffordern, im Geiste und im Herzen stets im heiligen Hain zu stehen und den Wahrheiten treu zu bleiben, deren Offenbarung dort ihren Anfang genommen hat.
Meine Familie und ich wurden 1993, vier Jahre nachdem ich zum Siebziger berufen worden war, in die New-York-Mission Rochester entsandt. Zu dieser Mission gehören die Ortschaften Palmyra (wo Joseph Smith mit seiner Familie in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts wohnte) und Fayette (wo im April 1830 die Kirche gegründet wurde).
Es ist eine malerische Gegend, die sich durch sanfte, bewaldete Hügel, klare Seen und Flüsse und die Herzlichkeit und bunte Vielfalt ihrer Bewohner auszeichnet. Sie ist aber auch aufgrund dessen, was sich dort zugetragen hat, ein heiliger Ort.
In einem Hain mit hohen Buchen, Eichen, Ahornbäumen und weiteren Baumarten, der etwa 400 Meter westlich des Hauses von Joseph und Lucy Mack Smith lag, sah der 14-jährige Joseph Smith in einer Vision Gottvater und seinen Sohn Jesus Christus. Diese göttliche Kundgebung war eine Antwort auf Josephs Gebet, der wissen wollte, welche Religion die wahre sei, und sie läutete die Wiederherstellung des Evangeliums in dieser letzten Evangeliumszeit ein. Aufgrund dieser Kundgebung erhielt dieser Wald einen ehrenvollen Platz in der Geschichte unserer Kirche, und wir würdigen den Ort mit dem Namen „heiliger Hain“.
Meiner Familie und mir ist dieses Waldstück sehr ans Herz gewachsen. Wir haben gespürt, wie heilig es ist. Wir gingen oft dorthin. Jeden Monat, wenn neue Missionare ankamen und diejenigen, die ihre Mission beendeten, abreisten, fuhren wir mit ihnen dorthin.
Wenn ich voller Ehrfurcht im heiligen Hain spazieren ging oder mich dort auf eine der Bänke setzte, dachte ich oft über die vielfältige symbolische Bedeutung von Bäumen, Zweigen, Wurzeln, Samen, Früchten oder Wäldern in den heiligen Schriften nach. Wer die Natur aufmerksam beobachtet, kann aus dem dortigen Ökosystem wichtige Lektionen ziehen. Vier dieser Lektionen möchte ich kurz erläutern.1
1. Bäume wachsen immer zum Licht hin.
Im heiligen Hain haben die Bäume, die am Rande der alten Baumbestände und auch entlang vieler Waldwege wachsen, seitwärts ausgeschlagen, um dem lichtraubenden Laubwerk über sich zu entgehen, und sind erst dann emporgeschossen, um so viel Sonnenlicht wie möglich aufnehmen zu können. Diese verwachsenen Stämme und Zweige stehen in krassem Gegensatz zu den angrenzenden Bäumen, die fast vollkommen gerade emporgewachsen sind. Wie fast jeder lebende Organismus braucht auch ein Baum Licht, um überleben und gedeihen zu können. Er tut, was er kann, um so viel Sonnenlicht wie möglich aufzunehmen und die Photosynthese anzuregen, bei der das Licht in chemische Energie umgewandelt wird.
Im geistigen Bereich ist Licht ein noch wichtigerer Katalysator als in der Natur. Das liegt daran, dass wir ohne Licht geistig nicht wachsen und unser Potenzial als Söhne und Töchter Gottes nicht voll ausschöpfen können.
Finsternis ist das Gegenteil von Licht und steht für die Kräfte in der Welt, die danach trachten, uns von Gott zu trennen und seinen göttlichen Plan für uns zu vereiteln. Meistens üben die Kräfte des Bösen nach Einbruch der Dunkelheit oder an dunklen Orten den größten Einfluss aus. Übertretungen des Gesetzes der Keuschheit, Diebstahl, Verstöße gegen das Wort der Weisheit und anderes, was der Vater im Himmel verboten hat, werden meist im Schutze der Dunkelheit begangen. Selbst wenn man am helllichten Tag etwas Falsches tut, hat man dabei unweigerlich ein düsteres Gefühl.
Zum Glück gibt der Geist Christi „jedem Menschen, der in die Welt kommt, Licht; und der Geist erleuchtet jeden Menschen auf der Welt, der auf die Stimme des Geistes hört.
Und jeder, der auf die Stimme des Geistes hört, kommt hin zu Gott, nämlich dem Vater.“ (LuB 84:46,47.)
Diese Schriftstelle beschreibt sehr schön, dass Gottes Kinder nach Höherem streben und wir alle von Natur aus, wenn wir es nicht unterdrücken, dem gottgegebenen, geistigen Drang nachgeben, auf das Licht zuzugehen – und somit auch auf Gott und seinen Sohn – und ihnen ähnlicher zu werden. Christus sagte über sich selbst: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Johannes 8:12.)
Ich bitte Sie eindringlich, die Finsternis der Sünde in all ihren abscheulichen Formen zu meiden und Ihr Leben mit Geist, Wahrheit und dem Licht unseres Heilands Jesus Christus anzureichern. Sie können sich zum Beispiel Freunde suchen, die anständig sind, und nach inspirierender Musik und Kunst sowie nach Wissen aus den besten Büchern (besonders den heiligen Schriften) streben. Sie können sich um aufrichtige Gebete, ruhige Stunden in der Natur, erbauende Aktivitäten und Gespräche und ein Leben, bei dem Jesus Christus und seine Botschaft von der Nächstenliebe und vom Dienst am Nächsten im Mittelpunkt stehen, bemühen.
2. Um das Maß seiner Erschaffung zu erfüllen, braucht ein Baum Widerstand.
Im Laufe der Jahre hat man bei der Pflege des heiligen Hains eine Vielzahl von Lehrmeinungen aus der Forstwirtschaft befolgt. Einmal wurde eine Versuchsparzelle für ein Verfahren ausgewählt, das man Niederdurchforstung nennt. Die Förster bestimmten die ihrer Meinung nach größten und gesündesten Jungbäume in der Versuchsparzelle und fällten und beschnitten dann die weniger verheißungsvollen Bäume und das Unterholz. Man nahm an, die Auslesebäume würden entlastet und außergewöhnlich gut wachsen, wenn man einen Großteil dessen beseitigt, was ihnen Wasser, Sonnenlicht und die Nährstoffe im Boden streitig macht.
Nach ein paar Jahren stellte sich jedoch heraus, dass genau das Gegenteil eintrat. Sobald die Auslesebäume von der Konkurrenz befreit waren, wurden sie träge. Statt sich dem Licht entgegenzustrecken, wuchsen sie langsamer in die Höhe, bildeten unten viele Zweige, die schließlich nutzlos waren, wenn sich die Baumkrone schloss, und wurden breiter. Kein Baum in der Versuchsparzelle kam an Größe oder Lebenskraft an die Bäume heran, die sich behaupten und Widerstände überwinden mussten, um überleben und gedeihen zu können.
Eine der bedeutenden Lehren im Buch Mormon lautet, dass es in allem einen Gegensatz geben muss (siehe 2 Nephi 2:11). In einer Welt voller Gegensätze kann man sich zwischen Gut und Böse entscheiden und so seine Entscheidungsfreiheit ausüben. Genauso wichtig ist jedoch der Grundsatz, dass es Gegensätzliches geben muss, damit man geistig überhaupt wachsen kann. Wenn Sie diesen Grundsatz verstehen und annehmen, trägt dies entscheidend dazu bei, dass Sie das Leben generell annehmen und glücklich sind. Und es wirkt sich darauf aus, ob Sie den erforderlichen Fortschritt machen und sich weiterentwickeln.
Früher oder später wird jeder einmal mit Widerständen und Unglück konfrontiert. Manches davon ist einfach eine Folge davon, dass wir unser Leben in einer gefallenen Welt zubringen. Solche Gegensätze können durch Naturgewalten, Krankheiten, Versuchungen, Einsamkeit oder körperliche oder geistige Unvollkommenheit entstehen. Manchmal sind Widerstände und Not aber auch die Folge unserer fehlgeleiteten Entscheidungen. Wie dankbar sollten wir doch unserem Heiland für sein Sühnopfer sein, das den Weg dafür bereitet hat, dass alles, was je kaputt gegangen ist, wieder repariert werden kann!
Ich schöpfe viel Trost aus den Worten des Herrn an Joseph Smith im Gefängnis zu Liberty, als dessen Lasten fast unerträglich waren: „Wisse, mein Sohn, dass dies alles dir Erfahrung bringen und dir zum Guten dienen wird.“ (LuB 122:7.)
So mancher Baum im heiligen Hain beweist, dass wir aus Widerstand Nutzen ziehen können und dass aus äußerster Not oft viel zu gewinnen ist. Diese Bäume mussten sich von verschiedenen Formen des Widerstands oder des Unheils erholen: Blitzeinschläge, heftige Sturmböen, schwere Schneelasten, dicke Eisschichten, Beschädigung durch achtlose Menschen und manchmal die Raumforderungen eines benachbarten Baums machten ihnen zu schaffen. Diese widrigen Umstände haben einige der robustesten und vom Aussehen her interessantesten Bäume im Hain hervorgebracht.
3. Ein Baum wächst am besten im Wald und nicht in der Abgeschiedenheit.
In der Natur ist es eher ungewöhnlich, dass ein Baum alleine steht. Bäume wachsen meist in Gruppen, und mit der Zeit wird aus einer Baumgruppe dann vielleicht ein Wald. Der heilige Hain ist jedoch viel mehr als nur eine Baumgruppe. Er ist ein kompliziertes Ökosystem mit zahlreichen Tier- und Pflanzenarten.
Offensichtlich sind all diese verschiedenen Arten von Wildblumen, Büschen, Sträuchern, Bäumen, Pilzen, Moosen, Vögeln, Nagetieren, Kaninchen, Rehen und übrigen Geschöpfen eng miteinander verflochten. Die Arten wirken aufeinander ein und schaffen Nahrung und Unterschlupf füreinander. Sie bilden ein komplexes, synergistisches Umfeld für die einzelnen Lebenszyklen.
In Gottes Plan für unser Leben ist ein ähnliches Flechtwerk für uns vorgesehen. Wir sollen gemeinsam an unserer Errettung arbeiten, nicht voneinander abgeschieden. Die Kirche baut keine Klausen, sondern Gemeindehäuser.
Seit Anbeginn der Wiederherstellung ist uns geboten, uns in Gemeinschaften zusammenzufinden und dort zu lernen, harmonisch zusammenzuleben und einander beizustehen, indem wir unseren Taufbund halten (siehe Mosia 18:8-10). Als Gottes Kinder können wir in Abgeschiedenheit genauso wenig gedeihen wie ein einzelner Baum. Gesunde Bäume brauchen ein Ökosystem, gesunde Menschen brauchen einander.
Glücklicherweise verspüren wir alle ein Verlangen nach Geselligkeit, Gemeinschaft und treuen Freunden. Als Mitglieder der ewigen Familie Gottes sehnen wir uns nach Erfüllung und Geborgenheit, wie sie nur durch dauerhafte, enge Beziehungen möglich sind. Ohne Frage bieten soziale Netzwerke eine Art von Geselligkeit; sie ersetzen jedoch nicht das aufrichtige, offene, persönliche Gespräch, das für eine echte und dauerhafte Beziehung unabdinglich ist.
Gewiss ist die erste und beste Versuchsanstalt, wo wir lernen, mit anderen auszukommen, unser Zuhause. In der Familie lernen wir, wie wichtig Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit, Versöhnlichkeit und Geduld für eine dauerhafte Beziehung sind.
Zum Glück stellt die inspirierte Organisation der Kirche ebenfalls einen Rahmen dar, in dem wir uns im zwischenmenschlichen Bereich weiterentwickeln können. Durch Berufungen, Versammlungen und Sitzungen, Klassen, Kollegien, Ratsgremien, Veranstaltungen und viele weitere Gelegenheiten entwickeln wir im Umgang miteinander die Eigenschaften und die Sozialkompetenz, die uns auf die Gesellschaftsordnung im Himmel vorbereiten.
Über diese höhere Ordnung sagte der Prophet Joseph Smith: „Und die gleiche gesellschaftliche Beziehung, die unter uns hier vorhanden ist, wird auch dort unter uns vorhanden sein, nur wird sie mit ewiger Herrlichkeit verbunden sein, welcher Herrlichkeit wir uns jetzt noch nicht erfreuen.“ (LuB 130:2.)
4. Ein Baum bezieht Kraft aus den Nährstoffen, die von früheren Baumgenerationen erzeugt wurden.
Bei der Waldpflege gab es einmal eine Zeit, da die Verantwortlichen meinten, der heilige Hain solle gepflegter aussehen. Daraufhin wurden Dienstprojekte ins Leben gerufen, bei denen umgestürzte Bäume, herabgefallene Äste, Gestrüpp, Baumstümpfe und abgefallenes Laub weggeräumt wurden. Bei dieser Behandlung dauerte es nicht lange, bis die Lebenskraft des Hains nachließ. Das Baumwachstum verlangsamte sich, es schossen weniger neue Bäume auf, ein paar Wildblumen- und Pflanzenarten verschwanden, und die Zahl der Vögel und Wildtiere verringerte sich.
Später wurde der Hain, auf eine Empfehlung hin, so natürlich wie möglich belassen. Umgestürzte Bäume und abgefallene Äste ließ man liegen, damit sie verrotten und den Boden anreichern konnten. Das Laub blieb dort liegen, wo es herabgefallen war. Die Besucher wurden gebeten, auf den gekennzeichneten Wegen zu bleiben, um Störungen im Hain und eine Verdichtung des Bodens zu vermeiden. Es war beachtlich, wie sich der Hain innerhalb weniger Jahre neu belebte und erneuerte. Heute ist er in einem relativ naturbelassenen Zustand – mit üppiger Vegetation und einer Fülle an Tieren.
Die Lektion aus dieser Erfahrung liegt mir sehr am Herzen. Sieben Jahre lang durfte ich als Geschichtsschreiber und Berichtführer der Kirche tätig sein. Warum wird dem Verfassen, Sammeln, Bewahren und Weitergeben der Geschichte in der Kirche Jesu Christi ein so hoher Stellenwert eingeräumt? Warum ist es für uns so wichtig, dass wir der vergangenen Generationen gedenken und von ihnen Kraft schöpfen? (Siehe LuB 21:1; 69:3,8.)
Ich meine, dass man unmöglich voll und ganz in der Gegenwart leben und schon gar nicht auf künftige Ziele zugehen kann, wenn man keine Grundlage in der Vergangenheit hat. Wenn wir diesen Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen können, wird uns die Definition von Wahrheit, wie sie Joseph Smith vom Herrn offenbart wurde, noch klarer: „Wahrheit ist Kenntnis von etwas, wie es ist und wie es war und wie es kommen wird.“ (LuB 93:24.)
Was wir über die Vergangenheit wissen, weil Berichte geführt wurden, und was wir über die Zukunft wissen, weil es heilige Schriften und die Aussagen lebender Propheten gibt, stellt für uns den Zusammenhang her, der es uns erlaubt, unsere Entscheidungsfreiheit weise zu gebrauchen.
Es ist wichtig, dass wir uns mit der Geschichte der Kirche vertraut machen, besonders mit den Ereignissen, die zu ihrer Gründung führten. Diese Ereignisse – Joseph Smiths erste Vision, das Hervorkommen des Buches Mormon, das Erscheinen von Engeln wie Johannes der Täufer, Petrus, Jakobus, Johannes, Elija, Elias und weiteren – sind voller grundlegender Wahrheiten, auf denen die Wiederherstellung beruht.
In unserem technischen Zeitalter mit seiner Informationsflut – worunter sich auch Kritisches zu Vorgängen und Gestalten aus der Geschichte der Kirche findet – werden leider einige Mitglieder in ihrem Glauben erschüttert und stellen ihre langjährige Überzeugung in Frage. Den Zweifelnden wende ich mich mit Liebe und mit Verständnis zu, und ich versichere ihnen: Wenn sie die Grundsätze des Evangeliums befolgen und sich gebeterfüllt mit der Geschichte der Kirche auseinandersetzen – gut genug, um sich ein umfassendes, nicht nur ein bruchstückhaftes, unvollständiges Bild zu machen –, dann wird der Heilige Geist ihren Glauben an die zentralen Ereignisse in der Geschichte der Kirche stärken, indem er ihnen friedevolle Gedanken eingibt. So kann ihre Überzeugung von der Geschichte der wiederhergestellten Kirche gefestigt werden.
Zum Abschluss
Im Laufe unserer Mission in und um Palmyra ging ich manchmal allein in den heiligen Hain und stellte mich voller Ehrfurcht neben meinen liebsten „Zeugenbaum“ – einen von drei Bäumen, die schon dort gestanden hatten, als Joseph Smith die erste Vision empfing. Ich stellte mir vor, wie dieser Baum, wenn er sprechen könnte, mir erzählen würde, was er an jenem Frühlingstag im Jahre 1820 erlebt hat. Aber der Baum brauchte es mir gar nicht zu erzählen. Ich wusste es ja bereits.
Durch geistige Erfahrungen und Empfindungen, die mich seit meiner Jugend bis in die jetzige Stunde begleiten, habe ich Gewissheit erlangt, dass Gott, unser Vater, lebt. Ich weiß auch, dass sein Sohn Jesus Christus der Erretter und Erlöser der ganzen Menschheit ist. Ich weiß, dass diese zwei verherrlichten Wesen Joseph Smith erschienen sind.
Diese herrlichen Wahrheiten haben im heiligen Hain ihren Anfang genommen. Ich möchte Sie auffordern, im Geiste und im Herzen stets an diesem heiligen Ort zu stehen und den Wahrheiten treu zu bleiben, die Gott dort zu offenbaren begonnen hat.