„Antworten auf Fragen zu sexueller Nötigung“, Liahona, August 2022
Antworten auf Fragen zu sexueller Nötigung
Dank Jesus Christus gibt es Hoffnung und Heilung. Nachfolgend einige Anregungen, wie wir den von sexueller Nötigung Betroffenen helfen können, ohne sie noch mehr zu verletzen.
Sexuelle Nötigung und Gewalt sind ein weitverbreitetes Problem, das unter Gottes Kindern verheerenden Schaden anrichten kann. Genaue weltweite Statistiken über die Häufigkeit sexueller Übergriffe bei Männern und Frauen sind schwer zu finden.1 Aber Schätzungen in den Vereinigten Staaten zufolge sind 44 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer schon einmal sexueller Gewalt zum Opfer gefallen.2
Wenn wir mehr über sexuelle Nötigung in Erfahrung bringen, mit vereinten Kräften den Betroffenen helfen und uns für Achtung anderen gegenüber einsetzen, können wir zum weltweiten Rückgang sexueller Gewalt beitragen.
Was ist sexuelle Nötigung?
Sexuelle Nötigung liegt dann vor, wenn jemand einem anderen ohne dessen Erlaubnis oder Einwilligung unerwünschte sexuelle Handlungen aufdrängt. Ein sexueller Übergriff ist eine schwerwiegende Sünde.3 Der Täter lehnt sich gegen Gott auf, bricht das Gesetz der Keuschheit und behandelt sein Opfer als Objekt seines selbstsüchtigen Verlangens. Er missachtet und verletzt die Entscheidungsfreiheit seines Opfers und nimmt ihm so das Recht, für sich selbst zu handeln und nicht auf sich einwirken zu lassen. Wer jemanden zu sexuellem Körperkontakt zwingt oder ihn dazu drängt, übt damit eine besonders perfide Form von Gewalt aus, die tief in die Privatsphäre eindringt.
Wenn wir an sexuelle Gewalt denken, stellen wir uns oft einen Täter vor, der uns – zum Angriff bereit – in einer dunklen Gasse auflauert. Ein solches Szenario nennt man Vergewaltigung durch einen Unbekannten. Die meisten sexuellen Übergriffe finden jedoch in bestehenden Beziehungen statt, in denen etwa der Ehepartner, ein Angehöriger, der Dating-Partner, ein Freund oder sonst ein Bekannter (auch Frauen können dies sein) das Prinzip der Einwilligung missachtet.4
Leider ist in manchen Kulturkreisen das Prinzip der Einwilligung nicht allgemein etabliert. Auch wenn in den Medien körperliche Intimität dargestellt wird, fällt die Einwilligung oftmals unter den Tisch oder wird fälschlicherweise gar als unnötig oder unerwünscht hingestellt. Eine Missachtung des Prinzips der Einwilligung kann Gott niemals billigen.
Was ist Einwilligung und wann wird sie missachtet?
Einwilligung ist ein Wort, das viel mit Entscheidungsfreiheit zu tun hat. Entscheidungsfreiheit ist die gottgegebene Fähigkeit, für sich selbst zu handeln und nicht auf sich einwirken zu lassen (siehe 2 Nephi 2:14,16,26; Mose 7:32). Wir sind aufgefordert, die Entscheidungsfreiheit anderer zu respektieren und sie nicht durch Zwang, Nötigung oder Gewalt außer Kraft zu setzen (siehe Lehre und Bündnisse 121:39-44; Mose 4:3).
Einwilligung ist ein Begriff, der in vielerlei Rahmen zum Einsatz kommt, zum Beispiel im Rechtswesen, in der Ethik, den Sozialwissenschaften oder in der Medizin. So führt etwa kein Arzt eine Operation an Ihnen durch, ohne zuvor Ihr klares Einverständnis erlangt zu haben.
Was körperliche Zuwendung und sexuelle Intimität angeht, bedeutet Einwilligung, dass jemand, den man berühren, küssen oder mit dem man auf andere Weise intim werden will, sich hierzu aus freien Stücken, ungezwungen und eindeutig bereiterklärt haben muss. Hat der Betreffende nämlich nicht eingewilligt, wird auf ihn eingewirkt.
Es ist wichtig zu verstehen, dass von Einwilligung nicht die Rede sein kann, wenn
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jemand schläft, bewusstlos ist oder unter Alkohol-, Drogen- oder Medikamenteneinfluss steht
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jemand nicht über ausreichende geistige Fähigkeiten verfügt, um sexuellem Körperkontakt zustimmen zu können
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jemand minderjährig ist
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jemand von seinem Gegenüber ausgetrickst, genötigt oder kontrolliert wird
Es ist auch wichtig zu verstehen, dass fehlende Gegenwehr keine Einwilligung ist. Wenn jemand sich dem Körperkontakt nicht widersetzt oder aufhört, sich zu wehren, heißt das nicht, dass er eingewilligt hat. Psychologen weisen darauf hin, dass plötzliches „Erstarren“ oder Bewegungsunfähigkeit aus Angst häufig die Reaktion auf unerwünschtes Berühren des Körpers sind.5
Darüber hinaus muss die Einwilligung dauerhaft sein. Wenn man ein Mal in eine bestimmte Art körperlicher Intimität eingewilligt hat, heißt das nicht, dass man demselben Verhalten auch künftig zustimmt.
Wie wirkt sich sexuelle Gewalt auf den davon Betroffenen aus?
Wenn jemand durch unerwünschte sexuelle Übergriffe die Grenzen eines anderen überschreitet, kann der davon Betroffene in vielerlei Hinsicht darunter leiden.
„In manchen Fällen von Missbrauch oder Misshandlung wird das Opfer körperlich geschädigt, doch bei jeder Form von Missbrauch oder Misshandlung werden jedenfalls Psyche und Geist in Mitleidenschaft gezogen. Opfer von Missbrauch oder Misshandlung ringen oft mit widersprechenden Gefühlen, Selbstzweifeln, Schuldgefühlen, Scham, Argwohn und Angst. Vielleicht kommen sie sich hilflos, ohnmächtig, einsam oder isoliert vor. Sie zweifeln vielleicht auch an der Liebe des Vaters im Himmel und ihrem eigenen göttlichen Wert.“6
Was soll ich tun, wenn mir sexuelle Gewalt angetan wurde?
Seien Sie gewiss, dass Sie nicht allein sind. Denken Sie daran, dass der Vater im Himmel Sie liebt. Sie können sich jederzeit im Gebet um Trost und Offenbarung von ihm bemühen. Darüber hinaus hat er noch viele weitere Wege bereitet, um Ihnen beizustehen.
Öffnen Sie sich anderen. Sprechen Sie mit Freunden, Angehörigen, Führern der Kirche oder anderen, denen Sie vertrauen und die Ihnen Geborgenheit und Beistand geben können. Möglicherweise finden Sie schneller Frieden und Heilung, wenn Sie mit Menschen Ihres Vertrauens, die Ihre Glaubensansichten teilen, über Ihre Erfahrungen sprechen und sie bitten, Sie auf dem Weg nach vorn zu unterstützen.
Seien Sie sich bewusst, dass die Schuld nicht bei Ihnen liegt. Sie mögen verwirrt oder verängstigt sein oder schämen sich vielleicht. Doch Sie tragen an dem, was der Täter getan hat, keine Schuld.
Suchen Sie sich Hilfe. Ihre Heilung kann sich beschleunigen, wenn Sie weitere Anlaufstellen und Hilfen zurate ziehen:
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medizinische Behandlung in dem Maß, wie Sie es brauchen
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professionelle Beratungsstellen
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Rechtsberater
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Material der Kirche, das unter „Missbrauch und Misshandlung“ auf topics.ChurchofJesusChrist.org zu finden ist
Bemühen Sie sich um Hoffnung und Heilung durch Jesus Christus. Elder Richard G. Scott (1928–2015) vom Kollegium der Zwölf Apostel hat gesagt: „Der Vater [im Himmel hat] einen Weg geschaffen, die Folgen von Taten zu heilen, die das Opfer mittels Gewalt, Machtmissbrauch oder Angst vor einem anderen vorübergehend seiner Entscheidungsfreiheit berauben.“ Er erklärte weiter: „Der Glaube an Jesus Christus und an dessen heilende Macht versetzt das Missbrauchsopfer in die Lage, die schrecklichen Folgen der Missetaten eines anderen zu überwinden.“7 Vielleicht möchten Sie aus dem Leben und den Lehren Jesu Christi mehr in Erfahrung bringen, um zu verstehen, wie er Ihnen bei der Heilung helfen kann.
Auch wenn es ein langer, schwieriger Prozess sein mag, Frieden und Heilung zu finden – Jesus Christus macht es möglich. Er litt „Schmerzen und Bedrängnisse und Versuchungen jeder Art“ und nahm „[unsere] Schwächen auf sich …, auf dass sein Inneres von Barmherzigkeit erfüllt sei …, damit er … wisse, wie er seinem Volk beistehen könne gemäß dessen Schwächen“ (Alma 7:11,12).
Wie kann ich jemandem helfen, der sexuelle Gewalt erleiden musste?
Was Überlebende sexueller Gewalt durchmachen, kann sich von Fall zu Fall sehr unterscheiden; dennoch können Sie helfen. Nachfolgend sind einige Möglichkeiten aufgeführt.
Hören Sie liebevoll und mitfühlend zu. Bringen Sie dem Betroffenen gegenüber Ihr Mitgefühl und Ihren Wunsch zu helfen zum Ausdruck. Finden Sie heraus, ob akute Gefahr besteht, und helfen Sie bei der Suche nach Sicherheit und Zuflucht.
Stellen Sie den Kontakt zu Anlaufstellen her. Helfen Sie dem Betroffenen, medizinisch versorgt zu werden, professionelle Beratungsstellen oder andere öffentliche Einrichtungen aufzusuchen, beispielsweise ein Krisencenter für Vergewaltigungsopfer, wo Opfern von Gewalt geholfen wird.
Machen Sie dem Betroffenen Mut. Ermutigen Sie ihn, im Falle von Missbrauch oder Misshandlung die zuständigen Behörden einzuschalten. Möglicherweise ist es in Ihrem Land gesetzlich vorgeschrieben, dass Sie die Tätlichkeit oder den Missbrauch melden müssen – insbesondere, wenn Sie in der Kirche ein führendes Amt innehaben. In einigen Ländern hat die Kirche eine vertrauliche Hotline zur Meldung von Missbrauchsfällen eingerichtet, die von den Pfahlpräsidenten und Bischöfen genutzt werden kann, um solche Vorfälle zu melden und dem Überlebenden beizustehen.8
Leisten Sie Beistand. Von Gewalt Betroffene schreiben sich manchmal selbst die Schuld an dem Vorgefallenen oder dem Missbrauch zu. Der Überlebende ist vielleicht der Ansicht, das Gesetz der Keuschheit gebrochen zu haben und umkehren zu müssen. Für den Bischof, die Eltern, Lehrer, Jugendführer und andere ist es daher wichtig, die Anzeichen für einen Übergriff oder Missbrauch zu erkennen. Dann können sie Beistand leisten und die Heilung fördern.
Denken Sie daran, dass die Entscheidungsfreiheit des Überlebenden verletzt wurde. Es ist also keine Umkehr erforderlich. Im Allgemeinen Handbuch heißt es: „Manchmal schämen sich die Opfer oder sie fühlen sich schuldig. Die Opfer haben sich keiner Sünde schuldig gemacht. Die jeweiligen Führer machen die Opfer nicht verantwortlich, sondern helfen ihnen und ihrer Familie, die Liebe Gottes und die Heilung zu erkennen, die durch Jesus Christus und sein Sühnopfer zustande kommt (siehe Alma 15:8; 3 Nephi 17:9).“9
Achten Sie auf die Bedürfnisse des Betroffenen. Überlebende können sich bei Körperkontakt – etwa einem Händedruck oder einer Umarmung – unwohl fühlen. Vielleicht ist es dem Betroffenen unangenehm, mit einem Führungsverantwortlichen allein im Büro zu sein. Er könnte sich auch eingeengt fühlen, wenn der Raum zu klein ist oder Sie zwischen ihm und der Tür sitzen. Wer nach einem traumatischen Erlebnis nach Heilung sucht, für den sind solche einfachen Überlegungen vielleicht schon ein positiver Ausgangspunkt.
Was kann dem Täter angeraten werden?
Der eine oder andere Täter (das kann auch eine Frau sein), der diesen Beitrag liest, erkennt vielleicht, dass er die Entscheidungsfreiheit eines anderen verletzt hat. Er hat möglicherweise Zwang oder Druck ausgeübt, vorsätzlich Grenzen missachtet oder die Wünsche des anderen, was körperliche Intimität angeht, fehlinterpretiert.
Hat jemand eine solche Sünde begangen, gehört für ihn zu den unerlässlichen Schritten, die Verantwortung dafür zu übernehmen, auf seinen Bischof zuzugehen, umzukehren, wenn nötig mit den Behörden zusammenzuarbeiten und professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. „Ihre Taten sind so schwerwiegend, dass Sie sich unter Umständen strafrechtlichen Konsequenzen und kirchlichen Disziplinarmaßnahmen stellen müssen. Umfassende Umkehr führt jedoch zu befreiender Vergebung, einem ruhigen Gewissen und einem neuen Anfang.“10