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Nicht Kummer, sondern vor allem Friede und Freude waren spürbar – warum?
In den letzten Lebenstagen meines Mannes und nach seinem Tod fand ich durch Jesus Christus Frieden
Ich ahnte nicht, welche Qualen ich in den fünf Wochen würde durchmachen müssen, in denen ich zusehen musste, wie mein Mann John langsam verhungerte, da er immer weniger zu sich nehmen konnte. Ich ahnte aber auch nicht, wie sehr mein Schmerz gelindert werden würde – durch den Frieden und die Freude, die trotz seines herannahenden Todes in unserer Familie spürbar waren.
Gesundheitliche Probleme und allmählicher Verfall
Über zehn Jahre hinweg hatte die Parkinson-Krankheit John allmählich seiner Beweglichkeit, Artikulationsfähigkeit und Unabhängigkeit beraubt. Traurig musste ich mitansehen, dass nicht nur die Parkinson-Krankheit ständig neue Einschränkungen mit sich brachte, sondern John erlitt zudem zwei Herzinfarkte, musste zwei Operationen an der Rotatorenmanschette über sich ergehen lassen und hatte permanente Schmerzen aufgrund anderer körperlicher Beschwerden. John war zunehmend darauf angewiesen, dass ich ihm zu etwas Bewegung verhalf, ihn fütterte, ankleidete und duschte. Schließlich funktionierten seine Muskeln in Mund und Rachen nicht mehr, und er konnte weder Nahrung noch Flüssigkeit schlucken, ohne daran fast zu ersticken.
Im März teilte uns sein Arzt mit, dass John zwei Möglichkeiten habe. Die erste besagte: John bekäme eine Nahrungssonde, die sein Leben um einige Monate verlängern würde, doch damit wäre John praktisch ans Bett gefesselt. Die zweite war: Weiterhin keine Nahrungssonde, doch John müsse dann die Schwierigkeiten ertragen, die mit seiner Unfähigkeit zur Nahrungsaufnahme einhergehen. Der Arzt sagte: „Es ist Ihr Leben. Sie treffen diese Entscheidung. Was möchten Sie?“ Ruhig und überraschend deutlich antwortete John: „Keine Sonde!“
Als wir die Arztpraxis verließen, standen mir Tränen in den Augen. Ich musste an manches denken, was John vor nicht langer Zeit gesagt und wie er sich verhalten hatte, und mir wurde klar, dass er wohl geahnt hatte, was da auf ihn zukam, und hatte sein Schicksal bereits akzeptiert. Meine Liebe zu John machte es möglich, dass ich seine Entscheidung unterstützen konnte.
Ich glaubte zu wissen, was das bedeutete. In Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung. Genauso wenig ahnte ich allerdings, wie sehr Dankbarkeit meinen Schmerz lindern würde.
Kraft durch Danken
Schon immer hatte John schön gefunden, was in 1 Thessalonicher 5:18 steht: „Dankt für alles.“ Deshalb hatte John beispielsweise vor den Mahlzeiten nie zu jemandem gesagt: „Bitte segne die Speise.“ Stattdessen sagte er immer: „Lasst uns danke sagen.“ John wusste, dass Dankbarkeit für das Glücklichsein ganz entscheidend ist. Er wusste auch, wie der Vers über Dankbarkeit aus dem Brief an die Thessalonicher weitergeht: „Denn das ist der Wille Gottes für euch in Christus Jesus.“
John akzeptierte es, dass der Tod Teil von Gottes Plan ist (siehe Alma 42:8,9) und dass ihm der Tod nun bevorstand. Aber er blieb Christus voller Dankbarkeit treu.
Nachdem wir die Arztpraxis verlassen hatten, beriefen John und ich einen Familienrat ein. Die Familienmitglieder, die weit weg wohnten, schalteten sich per Videokonferenz dazu. Wir begannen mit einem Gebet. Ich hielt Johns Hand, während ich berichtete, wie er sich entschieden hatte und was der Arzt uns über die Auswirkungen gesagt hatte. Ich sprach über den Frieden, den wir beide empfunden hatten, und erinnerte unsere Familie an den Trost, den wir alle seit Monaten verspürt hatten. Uns allen, auch den Enkelkindern, wurde klar, dass ihr Papa und Opa nicht mehr lange zu leben hatte.
Wir dankten Gott dafür, dass er uns alle wissen ließ, dass die Zeit mit John nur noch kurz war, und dass wir uns seelisch darauf einstellen durften. Einige Wochen vor dem Tag des Abschieds fragte unser Sohn Spencer seinen Vater, was er im Hinblick auf das Sterben empfinde. John antwortete: „Ich habe ein gutes Leben geführt, und das versuche ich weiterhin. Ich bin für mein Leben dankbar! Solange Carma Lee an meiner Seite ist, bin ich zwar nicht aufs Sterben erpicht, aber ich habe auch keine Angst davor.“ John war vorbereitet, und deshalb verspürte er Frieden (siehe Lehre und Bündnisse 38:30).
Vorbereitung auf den Abschied
Als wir beim Familienrat saßen, tat uns das Herz weh und manch eine Träne floss, aber wir spürten auch Frieden. Wir fragten John, ob er noch irgendwelche letzten Wünsche hätte. Er sah uns liebevoll an, und die Sehnsucht stand ihm ins Gesicht geschrieben. Und obwohl er seit Wochen nur im Flüsterton sprechen konnte, sagte er deutlich das Wort: „Tempel.“ Seine Söhne erklärten sofort: „Das bekommen wir hin, Paps!“
Zum Schluss unseres Familienrats gaben diejenigen Söhne, die persönlich anwesend waren, sowohl John als auch mir einen Priestertumssegen. Als sie mir die Hände auflegten, wurde ich von Dankbarkeit erfüllt. Ich spürte Wärme, wie bei einer liebevollen Umarmung. Ich wusste, dass Gott uns helfen würde, die vor uns liegenden Herausforderungen zu meistern. Er würde den Kummer lindern und uns helfen, Freude zu finden.
Und genau das geschah! Bald besuchten wir wieder den Tempel, und unsere Söhne halfen John in der Endowment-Session. Ich war so dankbar! Der Heilige Geist erfüllte unser Herz.
Auch als sich Johns Zustand weiter verschlechterte, hielten wir beide daran fest, jeden Tag mit einem Gebet der Dankbarkeit zu beginnen und zu beenden. Dabei stellten wir fest, dass weder wir noch unsere Kinder und Enkel von Kummer überwältigt waren. Jeder konnte den Opa und Papa noch umarmen und Liebe und Dankbarkeit bekunden. Es gab Momente voller Freude. Ins Herz unserer Nachkommen und anderer Besucher kehrte Friede ein, der sie stärkte und weniger traurig stimmte.
Doch trotz des Friedens, der zuhause herrschte, war es herzzerreißend mitanzusehen, wie sich die Gesundheit meines einst lebenssprühenden, aktiven Mannes verschlechterte und er innerhalb eines Monats über 20 Kilo an Gewicht verlor. Spätabends am 21. April lag John im Bett. Seine Kinder und ich waren um ihn versammelt. Wir spürten, dass sein Geist jeden Moment seinen Körper verlassen würde. Ich lag neben ihm, hielt seine Hand und flüsterte ihm Worte der Liebe und Dankbarkeit für unser Leben zu. Ich dankte ihm für das inspirierende Beispiel, das er gegeben hatte, als er sich in seinen Bedrängnissen gläubig und dankbar dem Herrn zugewandt hatte. Ich gab ihm einen Kuss. Nur wenige Sekunden später ging er von uns.
Innerer Frieden und Freude
Nachdem man Johns Leichnam abgeholt hatte, saßen wir als Familie bei uns zusammen. Tränen flossen, als wir unsere Dankbarkeit darüber zum Ausdruck brachten, dass Johns Leiden auf der Erde nun zu Ende war. Worte der Dankbarkeit sprudelten aus mir heraus, als ich an die liebevolle Barmherzigkeit dachte, die der Vater im Himmel uns auf so vielfache Weise hatte zuteilwerden lassen (siehe 1 Nephi 1:20). Gott hatte mir die Fähigkeit geschenkt, dass ich John zuhause pflegen konnte, obwohl ich selbst körperliche Probleme hatte (die kurz nach Johns Tod sogar mehrere Operationen erforderlich machten).
Als wir miteinander redeten, erhielt ich Trost und dankte Gott für die ewigen Verheißungen, die mit unseren Tempelbündnissen verbunden sind (siehe Lehre und Bündnisse 132:19,20). Ich erzählte meinen Kindern, dass ich das Gefühl hatte, Johnny würde mich umarmen und dadurch meine Dankesworte bestätigen. Was für eine Freude war da in mir! Ich rief meiner Familie die Worte von Präsident Russell M. Nelson vom November 2020 in Erinnerung: „Dankbarkeit erspart uns vielleicht nicht Traurigkeit, Wut oder Schmerz, aber sie kann uns helfen, hoffnungsvoll nach vorne zu schauen.“1
Plötzlich spürte ich eine himmlische Umarmung, die so stark war, dass sie mich mit Ehrfurcht erfüllte. Ich hatte auch das Gefühl, dass es John gut ging und er glücklich war und dass ich das auch sein sollte. In diesem Moment versprach ich mir selbst – und meinem lieben Ehemann –, dass mir das gelingen wird.
Die Wochen vergingen, und ich stellte erstaunt fest, dass ich vor allem Frieden und Freude in mir spürte und keinen Kummer. Ich fragte mich, warum das wohl so sei. Eines Tages beschloss ich, die Aussagen unserer Propheten und Apostel zu durchforschen, die sich auf Trauer und Dankbarkeit beziehen. Sie bestätigten, was ich bereits festgestellt hatte: dass ich durch die tröstende Kraft Jesu Christi und sein Sühnopfer und auch durch meine Dankbarkeit gestärkt worden war.
Der Titel eines Artikels von Präsident Thomas S. Monson (1927–2018), abgedruckt 2005 im Liahona, hat mich sehr angesprochen: „Dankbarkeit kann viel bewirken“. Darin sagt Präsident Monson:
„Gott in seiner unendlichen Barmherzigkeit lässt die Trauernden nicht mit ihren Fragen allein. Er hat uns die Wahrheit geschenkt. Er zieht uns zu sich, streckt uns die Arme entgegen und umarmt uns. Jesus verheißt dem, der trauert: ,Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, ich komme zu euch.‘ [Johannes 14:18.]“2
Mir wurde klar, dass ich Gottes Trost und Umarmung erfahren hatte. Wie viel hatte dies bei mir bewirkt! Ich war dadurch in der Lage, jeden Morgen Johns Bild anzuschauen und zu lächeln, während ich ihm und Gott „Danke!“ sagte.
Elder Dieter F. Uchtdorf vom Kollegium der Zwölf Apostel hat genau das beschrieben, was ich erlebt habe: „Wenn wir Gott in unserer jeweiligen Lebenslage dankbar sind, können wir inmitten von Bedrängnissen sanften Frieden verspüren. Auch wenn wir Kummer haben, können wir unser Herz zum Lobgesang erheben. Auch wenn wir Schmerzen haben, können wir uns über das Sühnopfer Christi freuen. Auch wenn uns Sorgen bitterkalt bedrängen, können wir von der wärmenden Nähe des Himmels umfangen werden.“3
Diese Segnungen habe ich innerhalb weniger Minuten nach Johns Tod und seither verspürt. Ich bin dankbar für den Frieden in mir und dafür, dass ich immer wieder die Umarmung Gottes spüre. Diese Gefühle möchte ich niemals missen! Also bin ich weiterhin jeden Tag aufs Neue dankbar – für heilige Erfahrungen, für Erkenntnisse durch das Evangelium, die mich Jesus Christus näherbringen, für den stärkenden Trost, den der Erretter und sein Sühnopfer ermöglichen, für die Perspektive der Ewigkeit und die Hoffnung, die Ewigkeit mit meinem Johnny zu verbringen.