2010–2019
Dankbar in jeder Lebenslage
April 2014


16:59

Dankbar in jeder Lebenslage

Präsident Dieter F. Uchtdorf

Haben wir nicht Grund, ungeachtet der Umstände, in denen wir uns befinden, voller Dankbarkeit zu sein?

Im Laufe der Jahre durfte ich mit etlichen Menschen zusammenkommen, deren Sorgen offenbar bis in die Tiefen ihrer Seele reichten. In solchen Augenblicken hörte ich meinen geliebten Brüdern und Schwestern zu und trauerte mit ihnen über das, was sie bedrückte. Ich dachte ernsthaft darüber nach, was ich ihnen sagen sollte, und rang um Erkenntnis, wie ich sie in ihren Prüfungen trösten und unterstützen konnte.

Oft liegt der Kummer in etwas begründet, was dem Betreffenden wie ein Ende vorkommt. Manche sehen sich mit dem Ende einer Beziehung konfrontiert, die ihnen viel bedeutet, wenn zum Beispiel ein geliebter Mensch stirbt oder ein Angehöriger sich ihnen entfremdet hat. Andere wähnen sich am Ende ihrer Hoffnungen – der Hoffnung, zu heiraten, Kinder zu bekommen oder mit einer Krankheit fertig zu werden. Wieder andere sehen sich am Ende ihres Glaubens, wenn die verwirrenden und widersprüchlichen Stimmen in der Welt sie dazu verleiten, das, was sie einst als wahr erkannt haben, in Frage zu stellen oder sich gar davon abzuwenden.

Früher oder später erleben wir alle wohl Zeiten, in denen der Grundstoff, aus dem unsere Welt besteht, an den Nähten aufzureißen scheint und wir einsam, enttäuscht und hilflos zurückbleiben.

Das kann jedem passieren. Niemand ist dagegen gefeit.

Wir können dankbar sein

Jeder befindet sich in einer anderen Lebenslage und die einzelnen Umstände sehen bei jedem anders aus. Und doch ist mir bewusst geworden, dass es etwas gibt, was uns die Bitterkeit nehmen kann, die uns überkommen mag. Eines können wir tun, um das Leben angenehmer, erfreulicher, ja, sogar herrlich zu machen.

Wir können dankbar sein!

Der Weisheit der Welt scheint der Rat, dass man Gott dankbar sein soll, wenn einen Kummer bedrückt, zuwiderzulaufen. Doch wer den Krug der Bitterkeit zur Seite stellt und stattdessen den Kelch der Dankbarkeit zur Hand nimmt, kann sich an einem reinigenden Trank erquicken, der ihm Heilung, Frieden und Erkenntnis gibt.

Uns als Nachfolgern Christi ist es geboten, dem Herrn, unserem Gott, in allem zu danken,1 ihm ein Danklied anzustimmen2 und unser Herz von Dank gegen Gott erfüllt sein zu lassen.3

Warum gebietet Gott uns, dankbar zu sein?

All seine Gebote dienen dem Zweck, uns Segnungen zugänglich zu machen. Jedes Gebot bietet uns eine Gelegenheit, unsere Entscheidungsfreiheit auszuüben und Segnungen zu empfangen. Unser liebevoller Vater im Himmel weiß, dass wir zu wahrer Freude und großem Glück finden, wenn wir uns dafür entscheiden, stets dankbar zu sein.

Dankbarkeit für etwas

Da mag nun jemand einwerfen: „Für was soll ich dankbar sein, wenn meine Welt auseinanderbricht?“

Vielleicht ist es der falsche Ansatz, sich einzig und allein zu fragen, für was man dankbar ist. Es ist schwierig, dankbar zu sein, wenn diese Dankbarkeit nur von der Anzahl der Segnungen bestimmt wird, die uns bewusst sind. Gewiss soll man seine Segnungen häufig zählen – und wer es einmal probiert hat, weiß, dass es derer viele gibt –, aber ich glaube nicht, dass der Herr von uns in Zeiten der Prüfung weniger Dankbarkeit erwartet, als wenn wir alles haben und es uns gut geht. Tatsächlich ist in den heiligen Schriften meist nicht von der Dankbarkeit für etwas die Rede, sondern davon, dass man allgemein dankbar ist oder eine dankbare Einstellung hat.

Es ist leicht, für etwas dankbar zu sein, wenn das Leben unseren Wünschen gemäß verläuft. Was aber, wenn das, was wir uns wünschen, außer Reichweite scheint?

Ich möchte Ihnen empfehlen, Dankbarkeit als eine Einstellungssache anzusehen – als eine Lebensanschauung, die von der momentanen Lage unabhängig ist. Mit anderen Worten: Ich wünschte, wir wären weniger darauf bedacht, für etwas dankbar zu sein, als vielmehr darauf, in unserer jeweiligen Lebenslage dankbar zu sein – wie immer sie aussehen mag.

Dabei fällt mir die alte Geschichte von dem Ober ein, der einen Gast fragt, ob ihm das Essen geschmeckt habe. Der Gast erwidert, es sei zwar alles recht gewesen, aber er hätte doch gerne noch etwas mehr Brot gehabt. Als er am nächsten Tag wiederkommt, hat der Ober die Brotmenge verdoppelt und gibt ihm vier Scheiben statt zwei, aber der Mann ist immer noch unzufrieden. Tags darauf hat der Ober die Menge noch einmal verdoppelt, doch vergebens.

Am vierten Tag ist der Ober fest entschlossen, den Mann zufriedenzustellen. Er nimmt also einen Laib Brot von drei Meter Länge zur Hand, schneidet ihn mittendurch und serviert ihn lächelnd seinem Gast. Der Ober kann es kaum erwarten, wie der Mann darauf reagieren wird.

Nach dem Essen blickt der Mann auf und sagt: „Es war, wie immer, gut. Aber wie ich sehe, sind Sie zu zwei Scheiben Brot zurückgekehrt.“

Dankbarkeit in der jeweiligen Lebenslage

Wir haben die Wahl, liebe Brüder und Schwestern. Es liegt an uns, ob wir unsere Dankbarkeit jedes Mal beschränken, wenn wir meinen, uns seien Segnungen entgangen, oder ob wir uns vornehmen, wie Nephi unentwegt von Herzen dankbar zu sein. Als seine Brüder ihn an dem Schiff festgebunden hatten, das er gebaut hatte, um sie ins verheißene Land zu führen, entzündeten sich seine Fußknöchel und Handgelenke dermaßen, dass sie schließlich „über die Maßen angeschwollen“ waren, und ein heftiges Unwetter drohte, ihn in den Tiefen des Meeres zu verschlingen. „Dennoch“, sagt Nephi, „schaute ich zu meinem Gott auf, und ich pries ihn den ganzen Tag lang; und ich murrte nicht gegen den Herrn wegen meiner Bedrängnisse.“4

Wir können uns vornehmen, wie Ijob zu sein, der offenbar alles gehabt hat und dann alles verlor. Dennoch sagt Ijob: „Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter; nackt kehre ich … zurück. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn.“5

Wir können uns vornehmen, wie die Mormonenpioniere zu sein, die sich ihre dankbare Einstellung auf dem langwierigen und schmerzhaften Weg zum Großen Salzsee bewahrten und sogar noch sangen und tanzten und jubelten, wie gütig ihr Gott war.6 Viele von uns hätten da lieber aufgegeben, gejammert oder sich über die Strapazen der Reise beschwert.

Wir können uns vornehmen, wie der Prophet Joseph Smith zu sein, der als Gefangener im Gefängnis zu Liberty unter beklagenswerten Umständen diese inspirierten Worte niederschrieb: „Vielgeliebte Brüder, lasst uns frohgemut alles tun, was in unserer Macht liegt, und dann mögen wir mit größter Zuversicht ruhig stehen, um die Errettung Gottes zu sehen, und dass sein Arm offenbar werde.“7

Wir können uns vornehmen, dankbar zu sein – komme, was wolle.

Diese Art Dankbarkeit reicht über alles hinaus, was um uns herum geschieht. Sie übersteigt Enttäuschungen, Mutlosigkeit und Verzweiflung. Sie erblüht genauso schön in einer eisigen Winterlandschaft wie im wohlig warmen Sommer.

Wenn wir Gott in unserer jeweiligen Lebenslage dankbar sind, können wir inmitten von Bedrängnissen sanften Frieden verspüren. Auch wenn wir Kummer haben, können wir unser Herz zum Lobgesang erheben. Auch wenn wir Schmerzen haben, können wir uns über das Sühnopfer Christi freuen. Auch wenn uns Sorgen bitterkalt bedrängen, können wir von der wärmenden Nähe des Himmels umfangen werden.

Manchmal glauben wir, die Dankbarkeit stelle sich nach der Beseitigung unserer Probleme ein, doch das ist fürchterlich kurzsichtig! Wie viel entgeht uns im Leben, weil wir auf den Regenbogen warten, anstatt dem Herrn zu danken, dass es Regen gibt?

In schwierigen Zeiten dankbar zu sein, bedeutet ja nicht, dass uns die gegebenen Umstände gefallen. Es bedeutet aber durchaus, dass wir mit gläubigem Auge über die Schwierigkeiten hinausblicken.

Diese Dankbarkeit ist kein Lippenbekenntnis, sondern kommt von Herzen. Sie heilt uns innerlich und erweitert unser Verständnis.

Dankbarkeit als Ausdruck des Glaubens

Dankbarkeit in jeder Lebenslage ist ein Ausdruck unseres Glaubens an Gott. Dazu müssen wir auf Gott vertrauen und auf etwas hoffen, was man vielleicht nicht sieht, was aber wahr ist.8 Mit unserer Dankbarkeit folgen wir dem Beispiel unseres geliebten Erlösers, der gesagt hat: „Nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen.“9

In wahrer Dankbarkeit zeigen sich auch unsere Hoffnung und unser Zeugnis. Sie rührt daher, dass wir die Prüfungen im Leben nicht immer verstehen, aber darauf vertrauen, dass dies eines Tages so sein wird.

Unser Sinn für Dankbarkeit wird unter allen Umständen von den vielen, heiligen Wahrheiten gestützt, die wir zweifellos erkannt haben: dass unser Vater seinen Kindern den großen Plan des Glücklichseins gegeben hat, dass wir dank des Sühnopfers seines Sohnes, Jesus Christus, für immer mit unseren Lieben weiterleben können, dass wir einst einen herrlichen, vollkommenen und unsterblichen Körper haben werden, frei von Krankheiten und Behinderungen, und dass an die Stelle der Tränen, die wir aus Traurigkeit oder angesichts von Verlusten vergießen, eine Fülle der Freude und des Glücks treten wird, „in reichem, vollem, gehäuftem, überfließendem Maß“10.

Es muss diese Art Zeugnis gewesen sein, die die Apostel des Erlösers verändert hat: Aus ängstlichen, zweifelnden Männern wurden furchtlose, fröhliche Sendboten des Meisters. In den Stunden nach der Kreuzigung verzehrten sie sich vor Verzweiflung und Gram, außerstande zu begreifen, was sich gerade zugetragen hatte. Doch dann änderte sich alles mit einem Schlag. Der Herr erschien ihnen und erklärte: „Seht meine Hände und meine Füße an: Ich bin es selbst.“11

Als die Apostel den auferstandenen Christus erkannten – als sie die herrliche Auferstehung ihres geliebten Erlösers miterlebten –, wurden sie zu anderen Männern. Nichts konnte sie davon abhalten, ihre Mission zu erfüllen. Mutig und entschlossen nahmen sie die Qualen, Erniedrigungen und selbst den Tod an, der sie wegen ihres Zeugnisses ereilen sollte.12 Sie ließen sich nicht davon abschrecken, ihren Herrn zu preisen und ihm zu dienen. Durch sie veränderte sich das Leben der Menschen. Sie veränderten die Welt.

Wir müssen nicht wie die Apostel den Erlöser sehen, aber wir müssen dieselbe Veränderung erleben. Unser Zeugnis von Christus, das wir dem Heiligen Geist verdanken, kann uns helfen, über jedes enttäuschende Ende im Erdenleben hinauszublicken und die strahlende Zukunft zu sehen, die der Erretter uns bereitet hat.

Wir sind für ein Ende nicht erschaffen

Ist es angesichts unseres Wissens um unsere ewige Bestimmung verwunderlich, dass uns jedes bittere Ende im Leben unerträglich ist? Irgendetwas in uns scheint sich gegen jedes Ende zu sträuben.

Woran liegt das? Daran, dass wir aus dem Stoff sind, aus dem die Ewigkeit ist. Wir sind ewige Wesen, Kinder des Allmächtigen Gottes, dessen Name Endlos13 ist und der uns ewige Segnungen ohne Zahl verheißt. Wir sind nicht für ein Ende bestimmt.

Je mehr wir über das Evangelium Jesu Christi erfahren, desto mehr wird uns bewusst, dass jedes Ende hier auf Erden gar kein Ende ist. Es gibt lediglich Unterbrechungen – einen vorübergehenden Stopp, der uns eines Tages im Vergleich mit der ewigen Freude, die die Glaubenstreuen erwartet, geringfügig erscheinen wird.

Wie dankbar bin ich meinem Vater im Himmel, dass es in seinem Plan kein echtes Ende gibt, sondern nur immerwährende Anfänge.

Wer dankbar ist, wird verherrlicht werden

Brüder und Schwestern, haben wir nicht Grund, ungeachtet der Umstände, in denen wir uns befinden, voller Dankbarkeit zu sein?

Brauchen wir noch bessere Gründe, damit unser „Herz von Dank erfüllt [ist] gegen Gott“14?

„Haben wir also nicht großen Grund, uns zu freuen?“15

Was für ein Segen für uns, wenn wir Gottes Meisterhand in dem wunderbaren Webteppich des Lebens erkennen. Dankbarkeit gegenüber unserem Vater im Himmel erweitert unser Wahrnehmungsvermögen und klärt unseren Blick. Sie regt zu Bescheidenheit an und stärkt das Einfühlungsvermögen gegenüber unseren Mitmenschen und allem, was Gott erschaffen hat. Sie löst alle christlichen Eigenschaften aus! Ein dankbares Herz ist die Mutter aller Tugenden.16

Der Herr hat uns verheißen: „Wer alles mit Dankbarkeit empfängt, der wird herrlich gemacht werden; und die Dinge dieser Erde werden ihm hinzugefügt werden, selbst hundertfältig, ja, mehr.“17

Mögen wir „in Danksagung leben“18 – vor allem, wenn wir vor einem der scheinbar unerklärlichen Enden stehen, die zum Erdenleben dazugehören. Mögen wir unserer Seele gestatten, sich dankbar unserem barmherzigen Vater im Himmel zuzuwenden. Mögen wir stets und immerzu unsere Stimme erheben und in Wort und Tat unserem Vater im Himmel und seinem geliebten Sohn Jesus Christus unsere Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Darum bete ich, und ich lasse Ihnen mein Zeugnis und meinen Segen im Namen unseres Meisters, Jesus Christus. Amen.