Es geht darum, wohin ich gehe, und nicht darum, woher ich komme
Die Verfasserin lebt in Utah.
Mein Lebensweg ist mehr als einmal vom engen und schmalen Weg abgewichen, aber durch das alles habe ich erkannt, dass die Macht des Erretters und seines Sühnopfers etwas Reales ist.
Mein Lebensweg ist nicht ganz so verlaufen, wie ich angenommen hatte.
Als ich 18 war, ging ich davon aus, dass ich eine Vollzeitmission erfülle, bald danach heirate und mit 25 zum ersten Mal Vater werde. Jetzt bin ich 32 Jahre alt. Ich war nicht auf Mission und einen Großteil meines Erwachsenenlebens war ich in der Kirche nicht aktiv. Ich habe geheiratet, wurde geschieden und heiratete ein weiteres Mal.
Weil mein Lebensweg mehr als einmal vom engen und schmalen Weg abgewichen ist, hatte ich manchmal das Gefühl, ich passe nicht in die Kirche. Aber inzwischen weiß ich, dass auch ich dort meinen Platz habe. Meine Erfahrungen haben mich gelehrt, dass die Macht des Erretters und seines Sühnopfers etwas Reales ist und dass es nicht darum geht, wo ich gewesen bin, sondern um die Richtung, die ich jetzt eingeschlagen habe.
Ich habe meine Glaubensvorstellungen anfangs wohl deswegen hinterfragt, weil ich mir nicht sicher war, ob mein Zeugnis stark genug für eine Mission sei. Ich weiß noch, dass ich mich etwa zu der Zeit, als ich mit der Schule fertig wurde, gefragt habe: Was, wenn mein Zeugnis gar nicht ganz meines ist? Was, wenn ich mich zu sehr auf das Zeugnis anderer stütze?
Das hat mich verunsichert. Ich wollte gern auf Mission gehen, aber ich fragte mich, ob die geistigen Erlebnisse, die ich bis dahin gemacht hatte, wohl ausreichten, um mich zu dem zu machen, was ich für einen guten Missionar hielt – also jemand, der genug geistige Kraft hat und genug über das Evangelium weiß, um andere unterweisen zu können.
Rückblickend weiß ich, dass ich mich damals an Gott hätte wenden sollen, damit er mir hilft, den Rat aus Lehre und Bündnisse 124:97 zu beherzigen: „Er soll demütig vor mir sein …, dann wird er von meinem Geist empfangen, ja, dem Tröster, der ihm von allem kundtun wird, ob es wahr ist, und ihm zur selben Stunde eingeben wird, was er sagen soll.“
Aber anstatt Gott zu fragen, ging ich in die Irre, weil ich meinen geistigen Stand mit dem anderer verglich und Angst hatte, meine Unzulänglichkeiten könnten jemanden davon abhalten, das Evangelium anzunehmen.
So ganz auf mich allein gestellt, versuchte ich als junger Erwachsener herauszubekommen, woran ich eigentlich glaube. Ich merkte dabei nicht, dass manche meiner Entscheidungen, die ich als Einzelfall ohne Folgen für mein eigentliches Wesen abtat, Schaden anrichten könnten. Ich zog mich allmählich von denen zurück, die ich liebte, weil ich wusste, sie wären von meinen Entscheidungen enttäuscht. Stattdessen umgab ich mich mit Leuten, denen es im Grunde genommen gleichgültig war, was ich tat. Einmal probierte ich aus reiner Neugierde ein alkoholisches Getränk. Das Trinken wurde etwas ganz Normales. Mit der Zeit wurde es vom reinen Trinken in Gesellschaft zu einer Krücke, die ich brauchte, um mich meinen schwierigen Lebensumständen zu stellen. Die Veränderungen hin zum Negativen waren nicht unbedingt an einer einzigen Entscheidung festzumachen. Sie gingen schrittweise vor sich. Erst nach zwei Jahren merkte ich, dass die kleinen Entscheidungen, die ich im Laufe der Zeit getroffen hatte, mich dorthin geführt hatten, wo ich gar nicht sein wollte.
Ich will damit jetzt nicht sagen, man solle, um die Wahrheit des Evangeliums herauszufinden, genau das Gegenteil tun. Mein Verhalten verursachte Leid – größtenteils unnötiges, und das betraf nicht nur mich, sondern auch Menschen, die ich liebe. Ich bin froh, dass ich imstande war, mich so weit demütig zu stimmen, dass ich erkannte, dass ich erstens unglücklich war und zweitens immer dann am glücklichsten gewesen war, wenn ich die Gebote Gottes gehalten hatte. Das war etwas, was ich tief im Innern selbst wusste – etwas also, hinter dem ich stehen und was ich anderen mitteilen konnte.
Ich ging zu meinem Bischof, um mein Leben in Ordnung zu bringen. Wir kamen regelmäßig zusammen, und er half mir, mich auf eine Mission vorzubereiten. Meine Missionsunterlagen waren schon fast fertig, da erhielt ich die Eingebung, ich müsse ihn fragen, ob er manches Fehlverhalten meinerseits auch wirklich nicht missverstanden hatte. Dieses Gespräch fiel mir nicht leicht. Aber noch größer als der Wunsch, auf Mission zu gehen, war mein Wunsch, in den Augen Gottes wieder alles in Ordnung zu bringen. Ich war bereit, alles zuzugeben, was ich falsch gemacht hatte, und Gott alles darzulegen, damit ich rein werden konnte.
Nicht lange danach stand ich vor dem Disziplinarrat. In gewisser Weise war das beängstigend. Vor Leuten, die jahrelang meine Führer und Mentoren gewesen waren, musste ich nun gestehen, was ich alles falsch gemacht hatte. Aber als ich mich im Raum umblickte, fühlte ich mich innerlich ruhig. Ich erkannte, dass sie da waren, weil sie mich verstehen und mir helfen wollten. Beim Hinausgehen spürte ich, wie der Heilige Geist mir zusicherte: Ganz gleich, wie die Entscheidung ausfallen sollte – ich hatte meinen Teil getan und brauchte keine Angst zu haben. Gott und die Führungsbeamten, denen ich wichtig war, würden mit mir zusammenarbeiten, damit ich dorthin gelangte, wo ich sein sollte. Ich spürte auf dem Heimweg die Liebe des Erretters und mir wurde bewusst, dass ich mich keineswegs außerhalb der Reichweite seiner erlösenden Macht befand.
Wo man unvollkommen sein darf
Trotz des Friedens, den ich empfunden hatte, war es schwer, immer wieder Antwort auf die Frage geben zu müssen, weshalb ich denn nicht schon auf Mission sei. Als ich mit Hilfe meines Bischofs weiter den Weg der Umkehr beschritt, kristallisierte sich immer mehr heraus, dass eine Mission wohl kaum in Frage kam. Ich musste also überlegen, was ich stattdessen mit meinem Leben anfangen wollte. Mit 21 gehörte ich weder in die Gruppe der künftigen noch in die der zurückgekehrten Missionare oder die der Jungverheirateten. Es war schwer für mich, mich überhaupt irgendwo zugehörig zu fühlen.
Verabredungen mit jungen Frauen waren schwierig. Die eine oder andere behandelte mich plötzlich anders, nachdem ich ihr gesagt hatte, ich sei nicht auf Mission gewesen und sei auch eine Zeit lang inaktiv gewesen. Aus dem einen oder anderen Grund gab es nach den meisten Verabredungen keine weitere.
Ich war froh, schließlich doch im Tempel zu heiraten, aber trotzdem beschlich mich mitunter das Gefühl, ich stünde irgendwie abseits. Ich hatte ein Zeugnis, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich es weitergeben sollte. In der Kirche hatte ich im Unterricht häufig das Gefühl, ich würde abgeprüft und alle anderen bekämen mit, dass ich nicht genug weiß. Da die meisten ein Leben führten, wie ich es mir eigentlich erhofft hatte, ging ich davon aus, dass sie nicht so sehr gestrauchelt waren wie ich.
Und dann berief mich der Bischof als Lehrer im Ältestenkollegium. Ich war verwundert, hatte ich doch im vergangenen Jahr die Kollegiumsversammlungen höchstens zweimal besucht. Ich war unglaublich nervös, aber ich nahm die Berufung an. An meinem ersten Sonntag begann ich den Unterricht mit der wahrscheinlich seltsamsten Einleitung, die die Anwesenden je gehört hatten:
„Hallo, Brüder, ich bin Richard Monson. Ich war nie auf Mission und einen Großteil meines Erwachsenenlebens war ich inaktiv. Ich habe die Versammlungen des Ältestenkollegiums so gut wie nie besucht, weil ich das Gefühl habe, nicht dazuzugehören und nicht hineinzupassen. Ich werde nicht imstande sein, alle Ihre Fragen zu beantworten, aber ich hoffe, dass Sie mitarbeiten, damit wir uns gemeinsam etwas erarbeiten können. Wenn mein Vorleben also für Sie in Ordnung ist, dann fangen wir jetzt an.“
An diesem Tag wurde mir bewusst, dass ich anderen gegenüber – und mir selbst gegenüber – zugeben durfte: Selbst wenn ich in meinen Augen nicht gerade völlig „linientreu“ war (jemand also, der auf Mission gewesen war, immer in der Kirche aktiv gewesen war und keine schwerwiegenden Fehler gemacht hatte), so war ich doch in die gleiche Richtung unterwegs wie sie. Und darum ging es ja schließlich. Zu meiner Verblüffung musste ich feststellen, dass mehrere dieser Männer, von denen ich angenommen hatte, sie würden ein vollkommenes Leben führen, auch Fehler gemacht hatten. Ich denke, wir alle haben festgestellt, dass Vollkommenheit keine Voraussetzung dafür ist, dass man im Unterricht oder überhaupt in der Kirche einen wertvollen Beitrag leisten kann.
Schwierige Zeiten und eine Entscheidung
Leider war meine Aktivität in der Kirche nicht von Dauer. Meine Ehe war schwierig, und ich wandte mich alten Lastern zu, um dem Schmerz zu entkommen. Hobbys wurden zum Ersatz für den Kirchenbesuch.
Nach drei Jahren war ich am absoluten Tiefpunkt angekommen. Ich musste einen Entschluss fassen: Konnte ich ungeachtet meiner derzeitigen Lebensumstände nach dem Evangelium leben? Oder wollte ich mich lieber der Finsternis überlassen? Ich wusste, dass ich mich von schlechten Einflüssen lösen musste, wollte ich wieder auf den engen und schmalen Weg gelangen. Mein Wunsch, in die Kirche zurückzukehren, ließ auch deutlich hervortreten, dass meine Frau und ich bereits getrennte Wege gingen. Der Zustand unserer Ehe bewegte sich jedenfalls in Richtung Scheidung.
Ich hatte Angst. Niemand konnte mir garantieren, dass meine Bemühungen letzten Endes zu all dem Guten führen würden, das ich mir ersehnte. Aber meiner Entscheidung lag etwas zugrunde, was ich Jahre zuvor gelernt hatte: Am glücklichsten ist man, wenn man nach dem Evangelium lebt. Ich beschloss also, mich – komme, was wolle – voll und ganz darauf einzulassen und mich in Gottes Hand zu begeben. Von da an gab es nur noch ihn und mich.
Abermals fand ich den Weg zurück in die Kirche und brachte mein Leben in Ordnung. Einer der glücklichsten Tage meines Lebens war der, als ich wieder einen Tempelschein in Händen hielt. Im Tempel fand ich Trost, als unsere Ehe weitere Risse bekam und schließlich zerbrach.
Der Ursprung meines Selbstwertgefühls
So beängstigend mein Umdenken auch gewesen war – ich lernte nun, Gottes Wirken zu würdigen. Ich war zwar gestrauchelt, doch das Rennen war nicht verloren. Ich trat ja gegen niemanden an. Als ich mein Selbstwertgefühl allein auf den Erretter stützte, konnte ich endlich von all den Bemühungen ablassen, in den Augen anderer gut dastehen zu müssen.
Ich saß in der Kirche allein oder neben Mitgliedern, die sich in ganz unterschiedlichen Lebensphasen befanden, und es war in Ordnung für mich. Ich fing an, mich nicht länger zu verkriechen, sondern aus mir herauszugehen und mit den Mitgliedern der Gemeinde ins Gespräch zu kommen. Nun konnte ich die Versammlungen wegen ihres eigentlichen Zwecks genießen.
Dieser innere Friede half mir auch, als ich mich wieder mit Frauen verabredete. Noch immer kam es eher selten vor, dass eine junge Frau ein zweites Mal mit mir ausgehen wollte, aber ich hatte inzwischen erkannt, dass ich meine Maßstäbe nicht lockern muss, nur weil ich in der Vergangenheit gestrauchelt bin. Ich lebte das Evangelium nach bestem Wissen und Gewissen, und ich war nicht zu schlecht, als dass ich nicht mit jemandem ausgehen könnte, der das Evangelium ebenfalls nach bestem Wissen und Gewissen lebte.
Schließlich lernte ich eine würdige Tochter Gottes kennen und wir heirateten im Tempel. Ihr Lebensweg war zwar komplett anders verlaufen als meiner, aber was die Liebe zum Erretter und das Verständnis von seinem Sühnopfer anbelangt, gab es keine Unterschiede zwischen uns.
Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, mein Selbstwertgefühl nicht von meiner Vergangenheit oder von der Zustimmung meiner Mitmenschen abhängig zu machen. Ich habe mich von dem Gedanken verabschiedet, ein gutes Leben sei nur in einer einzigen Lebensweise zu finden. Nicht jedermann ist mit meinem Lebensweg einverstanden und schätzt daher das, was aus mir geworden ist, aber das ist sein gutes Recht. Mir liegt nichts daran, andere zu überzeugen. Mir liegt daran, weiterhin Umkehr zu üben und dem Erretter näherzukommen. Dank des Erretters werde ich, wie auch Alma der Jüngere, nachdem er umgekehrt war, nunmehr „durch die Erinnerung an meine Sünden nicht mehr gemartert“ (Alma 36:19). Ich bin mit mir selbst im Reinen, denn ich weiß: Die Richtung, in die ich gehe, nämlich hin zum Erretter, ist das, was zählt.