Engel und Erstaunen
Schulungsübertragung des Bildungswesens der Kirche • 12. Juni 2019 • Auditorium im Erdgeschoss des Verwaltungsgebäudes der Kirche
In seinem Anfangsgebet hat Bruder Peterson das Wort „Familie“ gebraucht. Das hat mich gerade sehr bewegt und tut es noch. Ich freue mich sehr, bei dieser jährlichen Veranstaltung zu sein, die ich als ein Familientreffen betrachte. Was Bruder Webb, Schwester Cordon und Elder Clark gesagt haben, motiviert und erbaut mich sehr. Ich bete, dass das, was ich sagen werde, die drei bereits gehörten Ansprachen gut ergänzt.
Ich erwähnte zu Beginn Bruder Peterson. Ich verstehe den Begriff Familie als etwas Buchstäbliches, ich halte Sie wirklich für meine Familie, bitte glauben Sie mir das. Ich weiß, dass es den Ausschussmitgliedern so geht, aber ich empfinde es auch so – von ganzem Herzen.
In diesem Sommer vor 54 Jahren haben meine Frau und ich unseren ersten Vertrag beim Bildungswesen der Kirche unterschrieben. Seither sind wir praktisch immer auf die eine oder andere Weise mit Ihnen verbunden gewesen. Als wir beide beschlossen, Seminar und Institut zu einem festen Bestandteil unseres Lebens zu machen, hatten wir keine Ahnung, was für ein starkes, festes Band sich da bilden würde. Unsicher, wie wir waren, hätten wir bestimmt nicht das Selbstvertrauen gehabt, weiterzumachen, wenn uns in den ersten Jahren nicht Kollegen, Vorgesetzte, Administratoren und andere große Freundschaft und wahre brüderliche und schwesterliche Liebe entgegengebracht hätten. Die Freunde aus unseren ersten Jahren beim Bildungswesen zählen – auch ein halbes Jahrhundert später – immer noch zu unseren engsten. Und natürlich sind da auch Hunderte – ja, sogar Tausende – von Schülern, die wir unterrichtet und lieben gelernt haben. Ich bete darum, dass wir uns diese Verbundenheit innerhalb der Familie des Bildungswesens der Kirche immer bewahren können, denn sie ist mit der Grund, warum wir uns damals für das Bildungswesen entschieden haben.
Mit dieser Liebesbekundung als Auftakt möchte ich Ihnen heute vor allem vermitteln, wie sehr alle Generalautoritäten und führenden Amtsträger der Kirche Sie lieben und auf Sie zählen. In unseren Ratsversammlungen und Komitees und den ganzen Hilfsorganisationen, mit denen wir zusammenarbeiten und die deshalb heute auch hier vertreten sind, wenden wir einen Großteil unserer gemeinsamen Zeit – ich weiß nicht genau, wie viel das in Prozent ist (man möge mich später korrigieren), aber ich würde sagen, so um die 30 bis 35 Prozent – dafür auf, uns mit den jungen Leuten der Kirche auseinanderzusetzen, also mit jenen Altersgruppen, die Sie gerade unterrichten oder die demnächst ins Seminar kommen. Wir reden über die Welt, in der sie leben, über die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, diese vielen Gegebenheiten, die heute schon auf die ganz Jungen einstürmen. Nicht alle dieser Gegebenheiten sind schlimm, aber einige schon. Die jungen Menschen brauchen jede erdenkliche Hilfe, und zum Glück können sie sie bekommen. Gott hält das Steuer fest in der Hand und das Schiff wird sicher in den Hafen gelangen. Er hat alle notwendigen Vorkehrungen dafür getroffen.
Zum Beispiel halte ich es für keinen Zufall, dass unsere Schüler, wenn sie in das Seminarprogramm kommen, genau in dem Alter sind, in dem Joseph Smith damals bei der ersten Vision war. Ich nehme an, unser Vater im Himmel war der Ansicht, Joseph war im Alter von etwa 14 Jahren reif genug, sodass er den Weg seiner prophetischen Mission beschreiten konnte. Können wir also davon ausgehen, dass dies im Allgemeinen auch das Alter ist, in dem weitere junge Menschen sich in Ansätzen ein reifes Zeugnis vom Evangelium Jesu Christi erarbeiten und miterleben können, wie sich dieses Zeugnis (hoffentlich) in den kommenden Jahren zu einer machtvollen Richtschnur entwickelt, die für den Rest der Ewigkeit Bestand haben soll?
Sicherlich hat der Herr genau deswegen unser Programm so aufgebaut, wie es eben ist: Es soll nämlich das Herz eines Jungen oder eines Mädchens berühren, die gerade den wunderbaren Weg ins Erwachsenendasein beschreiten. Es gestattet uns intensiven Kontakt mit ihnen und ermöglicht ihnen umfangreiche Erfahrungen im Seminar unter der Woche, damit sie nicht allein auf das angewiesen sind, was sie am Sonntag lernen. Da sich die Kirche nun mehr in Richtung eines auf das Zuhause ausgerichteten und von der Kirche unterstützten Lehrplans hin bewegt, können wir stolz darauf sein, dass das Bildungswesen der Kirche mit seinem Fokus auf den Unterricht unter der Woche und auf das Heimstudium bislang schon immer diese Schwerpunkte gesetzt hat. Die aktuelle Änderung passt Seminar und Institut noch weiter an den allgemeinen Lehrplan der Kirche an als je zuvor.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch erwähnen, dass uns die präsidierenden Brüder ein echtes Kompliment gemacht haben, als sie uns gebeten haben, den Lehrplan des Seminars mit dem Vierjahres-Leseplan der Kirche in Einklang zu bringen. So ein Kompliment ist eine nette Sache, aber ganz besonders dann, wenn es vom Vorsitzenden unseres Ausschusses kommt. Und ich möchte Sie daran erinnern, wer das ist. Bei der Ankündigung dieser Entwicklung hat Präsident Nelson Folgendes gesagt:
„Ab 2020 beginnen Seminarkurse mit Jahresanfang und die Klassen befassen sich mit derselben heiligen Schrift, die in dem Jahr im Lehrplan ‚Komm und folge mir nach!‘ behandelt wird. Diese Änderung ist eine Erweiterung der auf das Zuhause ausgerichteten, von der Kirche unterstützten Herangehensweise an das Evangeliumsstudium, denn man befasst sich dann zuhause, in der Sonntagsschule und im Seminar mit demselben Lesestoff.
Bitte überlegt euch dabei Folgendes: Eure Fähigkeit, klüger und weiser zu sein und mehr Einfluss auf die Welt zu haben als jede Generation vor euch, ist ganz und gar davon abhängig, wie sehr ihr euch Jesus Christus zuwendet. Jeder von euch hat die Aufgabe, denen, die mit euch unter einem Dach leben, das Evangelium – gemeinsam mit anderen – nahezubringen. Seminar und Institut helfen euch, euer Zuhause in einen Schutzraum des Glaubens zu verwandeln – in einen Ort, wo das Evangelium Jesu Christi gelehrt, gelernt, gelebt und wertgeschätzt wird.“
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber gehöre hier schon seit langem zum alten Eisen, und seit Jahren habe ich keinen Präsidenten der Kirche so deutlich, begeisternd und persönlich über dieses Thema sprechen hören wie ihn. Danke dafür, Präsident Nelson. Ich möchte zudem erwähnen, dass die Brüder in dieser Zeit der größeren und kleineren Anpassungen mehr darüber gesprochen, mehr darüber nachgedacht und sich intensiver mit dem Personal und den Richtlinien von Seminar und Institut befasst haben, als es meiner Erinnerung nach während meiner Tätigkeit im Bildungswesen der Kirche je der Fall gewesen ist. Was für eine aufregende Zeit, zu dieser Familie des Bildungswesens der Kirche zu gehören!
Lassen Sie mich nun zum Ziel all dieser Bemühungen kommen, zum Grund dieser Versammlung und all unseres täglichen und wöchentlichen Unterrichts – zum Schüler, der im Mittelpunkt unserer Gedanken und unserer Zuneigung steht.
Da die Welt immer säkularer wird, müssen wir lernen, wie wir unseren jungen Männern und Frauen, die für ihren Glauben eintreten müssen, mehr Unterstützung zukommen lassen und ihnen ein besseres Vorbild sein können, weil sie ja in einer Welt leben, die den Glauben oftmals leugnet oder, schlimmer noch, sogar herabwürdigt. Die Kluft zwischen unseren treuen jungen Mitgliedern und der Welt um sie herum, die mitunter das genaue Gegenteil ist, wird, gelinde gesagt, mit jedem Tag größer. Das versteht sich laut den Prophezeiungen der Letzten Tage natürlich von selbst, aber es macht es deswegen nicht unbedingt leichter, darüber zu sprechen, oder angenehmer, sich damit auseinandersetzen zu müssen. Unsere Schüler werden wegen bestimmter Merkmale in der Welt oft als „Generation Z“ bezeichnet. Diese Merkmale unterstreichen zugleich auch einige Herausforderungen, vor denen wir im Unterricht stehen:2
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Die Schüler sind immer mit irgendetwas vernetzt. „Eine Welt ohne Internet, Mobiltelefon [oder Kopfhörer] ist ihnen unbekannt. … Sie kennen kein Leben ohne Google.“3 Sie haben vielleicht noch nie ein Telefon mit Wählscheibe gesehen oder von einer Telefonzelle aus einen Anruf getätigt. Aber das ist auch in Ordnung, denn diese Gruppe schreibt ja ohnehin lieber SMS.
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Durch das allgegenwärtige elektronische Netzwerk sind sie schon in sehr jungen Jahren unverhohlener, destruktiver Pornografie ausgesetzt.
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Sie treten eher „für die Ehe für alle sowie für Transgenderrechte ein …, denn dies gehört schon zu ihrem Lebensalltag. Selten hat ein Z nämlich keine [guten] Freunde aus der LGBT-Gemeinschaft.“4 Aufgrund dieser gesellschaftlichen Strömungen verschwimmt der schmale Grat zwischen Freundschaft und einer Befürwortung dieser Lebensweise und es ist schwierig, eine Grenze zu ziehen.
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„Sie sind eine post-christliche Generation. [Natürlich nicht unsere Schüler, hier geht es um generelle Zahlen.] Fast ein Viertel (23 Prozent) der amerikanischen Erwachsenen – und ein Drittel der Millennials – sind ohne Religionsbekenntnis, also sogenannte ‚Nones‘, die sich keiner Religion zugehörig fühlen. Viele der Generation Z werden in einer Familie groß, in der Religion keine Rolle spielt, und [sie haben daher] keinerlei Erfahrung mit [oder Bezug zu] Religion.“5
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Eine aktuelle Studie über die Einstellung australischer Teenager zur Religion machte Schlagzeilen, weil sie zu dem Ergebnis kam, dass sich 52 Prozent keiner Religion zugehörig fühlen und nur 37 Prozent an Gott glauben.6
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Der Pastor und Autor James Emery White beschreibt das geistige Leben dieser Generation wie folgt: „Erstens haben sie keinen Weg. Sie leben nicht nur in einer post-christlichen Kultur und sind von ihr geprägt, sie haben auch nicht einmal ansatzweise Evangeliumswissen [oder einen Bezug zum Evangelium]. Der Grad ihres spirituellen Analphabetentums ist einfach erschreckend. [Zweitens] sind sie ohne Führung. Wenig oder nichts Richtungweisendes kommt von der Familie, und noch weniger kommt durch den Versuch zustande, sich durch das Internet eine Richtung vorgeben zu lassen.“7
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Laut einem in der Tageszeitung USA Today veröffentlichten Artikel ist die Generation Z die einsamste Menschengruppe in unserer Gesellschaft.8 Im Artikel wurde eine BYU-Studie aus dem Jahr 2010 zitiert, die zu dem Schluss kam: „Einsamkeit hat auf die Sterblichkeitsrate die gleichen Auswirkungen wie das Rauchen von täglich 15 Zigaretten, was Einsamkeit demnach noch risikoreicher macht als Fettleibigkeit.“9
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Rund 53 Prozent der 13-jährigen amerikanischen Mädchen sind mit ihrem Körper unzufrieden. Wenn die Mädchen 17 Jahre alt sind, ist diese Zahl schon bei 78 Prozent angelangt, und hier geht es immer noch um unsere Schüler. Über 50 Prozent der Mädchen und 30 Prozent der Jungs im Teenageralter greifen auf selbstzerstörerisches Verhalten zur Gewichtskontrolle zurück, lassen beispielsweise Mahlzeiten aus, fasten, rauchen, erbrechen oder nehmen Abführmittel ein.10
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Und schließlich haben sie eine kurze Aufmerksamkeitsspanne. Einigen Studien zufolge kann sich ein junger Mensch der Generation Z durchschnittlich nur etwa acht Sekunden lang auf eine Sache konzentrieren.11 Ich hätte ihre Aufmerksamkeit also schon nach den ersten drei Punkten hier verloren.
Nun kann ein Seminar- oder Institutslehrer diese Probleme natürlich nicht allesamt über Nacht lösen, aber die Brüder erwarten von Ihnen schon, dass Sie kompetent, gut vorbereitet, mit dem Geist in Einklang und in der Lage sind, in Echtzeit auf ihre Fragen zu antworten. Dadurch, dass Sie mit den Schülern unter der Woche Kontakt haben, sind Sie für sie leichter erreichbar als so manch anderer Lehrer in der Kirche. Seien Sie also weise dabei, wie Sie diesen Einfluss nutzen. Jedenfalls wird seitens der führenden Brüder erwartet, dass Sie Hilfestellung geben, formell ebenso wie informell, im Unterricht und auch außerhalb, und dass Sie die Richtlinien, Gepflogenheiten und Lehren der Kirche vermitteln.
Bleiben Sie offen, insbesondere für den Geist. Planen Sie in die Klassenzeit auch etwas Spielraum mit ein. Wenn Sie eine Lektion ein bisschen kürzen müssen, um Zeugnis zu geben oder ein Unterrichtsgespräch über ein aktuelles Thema zu führen, dann tun Sie das bitte, wenn der Geist es Ihnen eingibt und wenn es angebracht ist.
Natürlich dürfen Sie sich dabei kein Amt anmaßen, das Sie nicht bekleiden. Sie dürfen also etwa nicht in die Rolle des Priestertumsführers oder einer HO-Leiterin schlüpfen. Diese Gratwanderung ist seit jeher eine der Herausforderungen unseres Systems, und das wird auch so bleiben. Für diese Gratwanderung braucht man ein gutes Urteilsvermögen und Führung durch den Geist, aber es lohnt sich, und die Brüder sind Ihnen von Herzen dankbar dafür. Jeder hat seinen Wirkungskreis, doch von jeder Seite muss die Botschaft gleichbleibend und unmissverständlich überbracht werden.
Denn „wenn die Trompete unklare Töne hervorbringt, wer wird dann zu den Waffen greifen? … Gebt euch Mühe, dass ihr damit vor allem zum Aufbau der Gemeinde beitragt!“12
Da nun in unserer Zeit so unfassbare Kräfte am Werk sind, bedarf es einer Unterweisung im Evangelium, die derartig machtvoll ist, dass absolut nichts den Glauben erschüttern oder unsere jungen Menschen von ihrem Pfad abbringen kann, wenn sie dann das Klassenzimmer verlassen und wieder in die Welt hinaustreten. Diese Art Unterweisung ist einfacher gesagt als getan, das versichere ich Ihnen und Sie wissen das ja auch, aber jeder von uns kann sich darin verbessern. Wir können machtvollere Lehrer werden, als wir es zuweilen sind. Wenn Sie diese so gewaltige Aufgabe in Angriff nehmen, behalten Sie von meinen Ausführungen bitte eines im Kopf: Ein Schüler ist kein Behälter, den es zu füllen gilt, sondern ein Feuer, das es zu entfachen gilt.
Evangeliumslehrer müssen geistige Brandstifter sein. Unser Unterricht soll ein Feuer entzünden. Wir müssen so etwas wie Pyromanen sein, aber eben nicht manisch, sondern einfach nur Feuerstarter! Lassen Sie mich das erklären, bevor Sie mich bei den führenden Brüdern anschwärzen oder bei der Polizei anzeigen, ja?
Mich bewegt die Tatsache, dass bei so gut wie allen wesentlichen Unterweisungsvorgängen im Buch Mormon der Ausdruck gebraucht wird, dass mit „Macht und Vollmacht“13 gelehrt wurde. Das ist auch für meinen Unterricht mein größter Wunsch, und ich hoffe, dass es auch Ihrer ist.
Verstehen Sie mich jetzt aber bitte nicht falsch. Ich rede nicht davon, dass wir die Lautstärke erhöhen oder theatralisch oder gar gefühlsduselig werden sollen. Ich spreche von etwas, was im Wesentlichen eine Frage des Geistes ist, und der Geist wirkt bei unterschiedlichen Lehrern, die Sie ja sind, auf unterschiedliche Weise. Sie müssen authentisch bleiben. Sie sind kein Bruce McConkie, kein Boyd Packer und kein Russell Nelson, obwohl es sicherlich gut wäre, wenn wir uns die Frage stellen, weshalb diese Lehrer unser Innerstes so erreichen, wie sie es tun. Lernen Sie von den großen Lehrern der Vergangenheit und Gegenwart alles, was sich erlernen lässt, aber am Ende müssen Sie authentisch und auf Ihre Art unterrichten. Nach welcher Methode Sie letztlich auch vorgehen: Das Ergebnis sollte immer ein von „Macht und Vollmacht“ geprägter Unterricht sein.
Betrachten wir dazu ein paar Beispiele aus dem Buch Mormon: In Helaman 5 ist die Rede von Nephi und Lehi, die je nach einem ihrer Urahnen benannt worden waren und die den Auftrag erhalten hatten, die Lamaniten im Land Zarahemla zu unterweisen. Nephi und Lehi unterwiesen nicht nur diese nicht ganz einfache Gruppe, sondern sie kümmerten sich auch um die „Abgefallenen“, also die abtrünnigen Nephiten, die übergelaufen waren und sich mit den Lamaniten gegen die Propheten Gottes zusammengeschlossen hatten. Ich weiß nicht, wie es Ihnen dabei geht, aber diese beiden Gruppen sind meinem Eindruck nach ein solch feindseliges Publikum, dass ich denen nicht besonders gerne am Montagmorgen über den Weg laufen würde. Zu diesem Zeitpunkt waren die Lamaniten hasserfüllt, zornig und entschlossen, sich an den Nephiten zu rächen wegen einer Sache, deren Ursprung sie eigentlich schon längst vergessen hatten. Und dann, als ob das nicht schon genug wäre, tauchen da noch „Ex-Mormonen für Jesus“ (so bezeichnen sie sich im Übrigen selbst) auf, die sich abgespalten hatten, die früher vielleicht sogar im Priesterkollegium oder auf Mission gewesen waren und dann einen anderen Weg eingeschlagen hatten. Sie hatten die Kirche früher mit ihren Lehren unterstützt, jetzt stellen sie sich gegen uns, gegen das Gottesreich.
Dennoch heißt es in den Schriften bezüglich dieser beiden schwierigen Gruppen über Nephi und Lehi: „Sie predigten mit großer Macht, so sehr, dass sie viele von diesen Abtrünnigen beschämten, die von den Nephiten übergelaufen waren … Und es begab sich: [Sie] predigten [auch] den Lamaniten mit so großer Macht und Vollmacht, denn Macht und Vollmacht waren ihnen gegeben, damit sie sprechen konnten, und auch das, was sie sprechen sollten, wurde ihnen gegeben.“14 Halten wir hier kurz einmal inne. Überlegen wir einmal, wie wunderbar es wäre, wenn jeder Lehrer im Bildungswesen der Kirche oder in der Kirche dies beides wüsste: wie man redet und was man dann sagen soll. Das wäre eine wahre Gabe der Zungenrede, auch wenn es in der Muttersprache geschähe. So wie ich es verstehe, ist das genau die Gabe, die den beiden verliehen worden ist: „Macht und Vollmacht waren ihnen gegeben [worden], damit sie sprechen konnten, und auch das, was sie sprechen sollten. … Darum sprachen sie zur großen Verwunderung der Lamaniten.“15
Kommt Ihnen bei diesem Ausdruck, nämlich Verwunderung, nicht eine frühere Begebenheit im Buch Mormon in den Sinn? In Mosia 27 gingen doch Alma und die Söhne Mosias umher und lehnten sich „gegen Gott“ auf. In Vers 11 heißt es dort: „Da erschien ihnen der Engel des Herrn; und er kam wie in einer Wolke herab; und er sprach wie mit einer Donnerstimme, die die Erde, worauf sie standen, erbeben ließ.“16
Bitte gestatten Sie mir dazu gleich eine Nebenbemerkung: Meinen Sie, das war ein richtiges Erdbeben? Meinen Sie, wenn dort alle paar Meter ein Messgerät aufgestellt worden wäre, dass es auf der Richterskala eine Fünf oder Sechs oder eine Acht oder Neun angezeigt hätte, und dass das Erdbeben in großer Tiefe einen Tsunami verursacht und sich die gesamte Erdoberfläche verändert hätte? Vielleicht schon. Vielleicht kam so etwas ab und an vor. Möglich gewesen wäre es ganz sicher, aber in diesem speziellen Fall und Kontext halte ich es für unwahrscheinlich. Meiner Meinung nach war es eines jener persönlichen Erdbeben, die der Herr einem Einzelnen sendet – auf ihn zugeschnitten. Ich glaube, die Erde bebte damals für Alma und für die Söhne Mosias. Aber wer weiß, ob sie für jemand anders ebenfalls gebebt hat?
Ganz bestimmt ist es Ihnen im Unterricht auch schon mal so ergangen: Etwas, was Sie gesagt haben, hat einen Schüler so stark berührt, dass er aschfahl wurde oder ihm die Tränen kamen – oder beides: Er war im Innersten aufgewühlt, und doch blieben seine Sitznachbarn zur Rechten und zur Linken davon völlig unberührt. Das passiert auch den Missionaren ständig. Das wissen Sie ja sicherlich auch aus eigener Erfahrung. Zwei Missionare unterweisen irgendwo in einer Wohnanlage eine Familie. Sie haben ein aufwühlendes Gespräch, das den Eltern sehr zu Herzen geht und Wohnung 106 sozusagen aus den Angeln hebt. Doch die Leute nebenan in Nummer 105 schauen sich völlig ungerührt einen Rosamunde-Pilcher-Film an und die Leute in Nummer 107 verfolgen gespannt den Spielstand von Dortmund gegen Schalke. Ich weiß nicht, ob man – geologisch gesprochen – ein starkes Erdbeben versprechen kann, aber der Herr und die heiligen Schriften können Ihnen jedenfalls persönliche Erdbeben verheißen, die einen Schüler bis in den Kern seines Wesens verändern – so sehr, dass die Erde vor ihm erbeben würde. Aber verzeihen Sie, ich schweife ab!
In Vers 12 von Mosia 27 heißt es weiter:
„So groß war [das Erstaunen]“ Almas und der Söhne Mosias, beziehungsweise hier heißt es „so groß war ihre Bestürzung, dass sie zur Erde fielen und die Worte, die [der Engel] zu ihnen sprach, nicht verstanden. …
Und nun fielen Alma und die, die mit ihm waren, abermals zur Erde, denn groß war ihre Bestürzung; denn mit ihren eigenen Augen hatten sie einen Engel des Herrn gesehen; und seine Stimme war wie Donner, der die Erde erbeben ließ. …
Und nun war die Bestürzung Almas so groß, dass er stumm wurde, sodass er seinen Mund nicht öffnen konnte; ja, und er wurde schwach, sodass er nicht einmal die Hände bewegen konnte.“17
Worüber ich nachsinne. worum ich bete und was ich mir vom Bildungssystem der Kirche erhoffe, ist ein Unterricht, der wahrlich in Erstaunen versetzt. Wir müssen die Schüler in Erstaunen versetzen, und zwar mit der „Kraft und Vollmacht Gottes“18, die jedem Lehrer, ganz gleich ob angestellt oder ehrenamtlich, gegeben ist, wenn er das Evangelium Jesu Christi nur freimütig und aufrichtig lehrt. Kennen Sie die Herkunft des englischen Wortes für „in Erstaunen versetzen“, also astonish? Ich weiß nicht, wie es im reformierten Ägyptisch oder im Hebräischen lautet, aber im Englischen stammt das Wort vom lateinischen „tonare“ – was donnern bedeutet.19
Vielleicht verstehen wir jetzt besser, wieso sich Alma nach seiner Bekehrung gewünscht hat: „O dass ich ein Engel wäre und mein Herzenswunsch wahr würde, dass ich hinausgehen und mit der Posaune Gottes sprechen könnte, mit einer Stimme, die die Erde erschüttert, und jedes Volk zur Umkehr rufen könnte!
Ja, ich würde einer jeden Seele wie mit Donnerstimme Umkehr und den Plan der Erlösung verkünden, dass sie umkehren und zu unserem Gott kommen sollen, damit es auf dem Antlitz der ganzen Erde kein Leid mehr gebe.“20
Nun, liebe Freunde im Bildungswesen, es ist ziemlich offensichtlich, wieso sich Alma den Einfluss eines Engels wünscht und eine Donnerstimme, die wie die Posaune Gottes klingt und die Erde erschüttert. Es ist einfach so: Was bei ihm funktioniert hat, könnte ja auch bei anderen funktionieren! Schüler, die drei Tage im Bett liegen und umkehren, wodurch eine Läuterung eintritt, sodass sie davon nie wieder abweichen können oder wollen, und ein Leben führen, das künftig ganz dem Aufbau des Gottesreiches gewidmet ist: Was wäre das für ein machtvoller Unterricht! Natürlich wird uns klar – so wie Alma –, dass wir keine Engel sind und dass wir diese Wirkung nicht jedes Mal haben, wenn wir vor der Klasse stehen. Aber das Schöne an unserer Berufung und unserem Beruf im Bildungswesen der Kirche ist, dass wir die Möglichkeit haben, es wenigstens zu versuchen, und wir können es in jedem Unterricht wieder probieren.
Zurück zu Helaman 5. Bedenken Sie, dass Nephi und Lehi auch keine Engel waren, sondern einfach gute, sterbliche Lehrer mit Sendungsbewusstsein und einer Botschaft. Und sie predigten mit „großer Macht und Vollmacht“. Diese beiden erlebten mit, wie sich 8000 Lamaniten „zur Umkehr taufen“21 ließen und sich der Kirche Gottes anschlossen. Sie kennen ja die Geschichte: Da vom Himmel Feuer herabkam und die Flamme des Geistes in ihnen loderte, wurden alle diese „Schüler“ im Innersten durch die Wahrheit entzündet. Meiner Einschätzung nach wären 8000 ja in jedem Missionsgebiet der Welt ein ziemlich guter Wochenbericht für eine Mitarbeiterschaft.
Gestatten Sie mir bitte, kurz noch über einen weiteren Lehrer zu sprechen, der nicht nur die eigene Seele entzündet hat, sondern auch für sein Lebenswerk den allerhöchsten Preis bezahlt hat, als nämlich sein Körper in Brand gesetzt wurde.
Abinadi ist für mich seit meinen Jugendtagen einer der bewundernswertesten Propheten aus den gesamten heiligen Schriften. Als gänzlich Unbekannter tritt er auf – weder Abkömmling eines Propheten noch Spross aus einer berühmten Familie. Da die Zustände in Zeniffs eigenwilliger Kolonie immer schlimmer werden, ist Abinadi aufgerufen, Zeniffs Sohn und armseligen Nachfolger, nämlich König Noa, zur Umkehr zu rufen. Sie kennen die Geschichte.
Noa verurteilt ihn sogleich zum Tod, und Abinadi ist daher gezwungen zu fliehen. Nachdem er zwei Jahre untergetaucht war, tritt Abinadi erneut hervor, zu lehren und Zeugnis zu geben. Inmitten all dieser Geschehnisse muss ich doch über die offenbar kindliche Unschuld dieses Propheten lächeln: 24 Monate lang lebt er da völlig zurückgezogen, jetzt tritt er in Verkleidung auf, um nicht erkannt zu werden, und doch lautet sein erster Satz nach seiner Rückkehr: „So hat der Herr mir geboten, nämlich: Abinadi, gehe hin und prophezeie.“22 An dieser Stelle frage ich mich immer, wie gut seine Verkleidung gewesen ist, aber seinen Glauben und seine Entschlossenheit stellen wir bestimmt nicht in Frage.
Abinadi prophezeit unerschrocken gegen die Gräuel König Noas und seines Hofstaates. Er wird verhaftet und letztlich genau vor jenes Gericht gestellt, das er bereits angeprangert hat. Als dieser mächtige Prophet vom Rat unbarmherzig verhört wurde, „antwortete [er] ihnen unerschrocken und widerstand ihnen in all ihren Fragen und beschämte sie in all ihren Worten“23. Dann ging er von der Verteidigung in die Offensive über und legte in etwa fünfeinhalb Kapiteln, die zu den machtvollsten im ganzen Buch Mormon gehören, göttliche Lehre dar. Kaum hatte er begonnen, wollte ihn der schuldbewusste, verabscheuenswerte Noa schon hinrichten lassen.
Das ist die Kulisse für eine Szene, die sich in meiner Seele für immer eingebrannt hat – zwar nicht ganz so wie in Arnold Fribergs eindrucksvollem Gemälde24, aber doch sehr ähnlich. Als Gefangener war Abinadi sicherlich irgendwie gefesselt gewesen, mit Ketten oder Stricken, wie es damals eben üblich war. Über sein Alter wissen wir nichts. Bei Friberg ist er ein alter (oder älterer) Mann, aber aus dem Text geht das nicht hervor. Ich weiß nicht, wie alt er war. War er stark und kräftig? Keine Ahnung, aber er hat gerade zwei Jahre lang abgeschieden an einem Ort gelebt, wo es vielleicht nicht viel zu essen gab. Denken Sie mal an Elija, der sein Essen von Raben bekommen hat.25 Haben Sie schon mal Rabenklauen gesehen? Ich glaube nicht, dass diese Vögel viele überdimensionale Bestellungen angeschleppt haben. Wir wissen es nicht, aber vielleicht war Abinadi angesichts der Lebensbedingungen hungrig und müde oder zumindest körperlich etwas erschöpft.
„Hinweg mit diesem Menschen, und tötet ihn“, befiehlt König Noa, „was haben wir denn mit ihm zu tun …
Und sie traten vor und versuchten, Hand an ihn zu legen; aber er widerstand ihnen und sprach zu ihnen:
Rührt mich nicht an, denn Gott wird euch schlagen, wenn ihr Hand an mich legt; denn ich habe die Botschaft, die zu überbringen der Herr mich gesandt hat, noch nicht überbracht. …
Denn der Geist des Herrn war auf ihm; und sein Gesicht leuchtete mit überaus starkem Glanz wie das des Mose, als er auf dem Berg Sinai war, als er mit dem Herrn sprach.
Und er sprach mit Macht und Vollmacht von Gott.“26
„Macht und Vollmacht“ – da lesen wir es wieder. Als ich anfing, meine Ansprache vorzubereiten, und die Geschichte von Abinadi einbauen wollte, erinnerte ich mich nicht mehr daran, dass der Bericht über ihn mit ebendieser Formulierung aufhört, nämlich, dass er mit Macht und Vollmacht lehrte. Liebe Freunde, es ist eine Sache, mit Tinte Geschriebenes zu lesen, aber eine ganz andere ist es, sich das bildhaft vorzustellen und im Herzen die Worte wie mit Donnerstimme zu vernehmen: „Rührt mich nicht an, denn Gott wird euch schlagen, wenn ihr Hand an mich legt.“27 Wenn ich das lese, kommen mir so gut wie immer die Tränen. Es klingt in meinem Herzen immer noch so erhaben, so unerschrocken und voll ungeheurer Kraft nach. Wir haben keinen Hinweis darauf, dass Abinadi laut geworden wäre. Wir haben keinen Hinweis darauf, dass er auch nur einen einzigen Muskel bewegt hätte. Gebunden und von Bewaffneten bewacht, konnte er sich wohl ohnehin kaum rühren. Aber anscheinend hat das, was er sagte und wie er es sagte, gewirkt. Ich sage „anscheinend“, weil es keine Anzeichen dafür gibt, dass eine der Wachen auch nur einen Finger gerührt hätte, um ihn fortzuschaffen, und weder König Noa noch seine Priester geben in den weiteren vier spannenden Kapiteln auch nur einen einzigen Ton von sich.
Wir können nun leider nicht über all die wunderbaren Beispiele für diese Art des Lehrens in den Schriften sprechen, aber sie sind überall zu finden. Ich lege uns allen ans Herz, nach ihnen zu suchen, über sie nachzusinnen und dann um einen Teil dieser Gabe zu bitten, der unserer Berufung entspricht.
Diese Art des Unterrichts ist anspruchsvoll und man bekommt es nicht so leicht hin. Wüsste ich, wie man so unterrichtet, dann wäre ich sicherlich besser darin. Aber eines weiß ich: Wenn Sie nicht mit Leidenschaft bei einer Sache sind, können Sie wahrhaftig in Ihren Schülern niemals eben diese Leidenschaft dafür wecken. Darf ich das wiederholen? Wenn Sie nicht mit Leidenschaft bei einer Sache sind, können Sie nicht darauf hoffen, in Ihren Schülern dieselbe Leidenschaft dafür zu wecken. Letztlich liegt die Quelle dieser Leidenschaft natürlich in dem, was hier von Abinadi gesagt wird: „Denn der Geist des Herrn war auf ihm; und sein Gesicht leuchtete mit überaus starkem Glanz.“28
Wenn der Geist der Schlüssel zu einem Unterricht ist, der wahrlich in Erstaunen versetzt – und das ist er –, dann geht der Lehrer ein großes Risiko ein, wenn er bloß aus früheren Aufzeichnungen vorträgt oder ständig die Beispiele eines Kollegen herunterleiert oder langatmig und fade eine Ansprache von der Generalkonferenz durchnimmt. Das alles ist bisweilen schön und gut und auch spektakulär, wenn es zum ersten Mal erzählt wird. Ziehen Sie also jederzeit alles hinzu, was Sie können, um Ihrem Unterricht Leben und Vielfalt einzuhauchen. Aber am wichtigsten ist Ihr Gefühl, wenn Sie etwas sagen. Das lässt sich nämlich durch nichts ersetzen. „O dass ich ein Engel wäre und … dass ich … sprechen könnte, mit einer Stimme, die die Erde erschüttert!“29 Denken Sie daran: Ein Schüler ist kein Behälter, den es zu füllen gilt. Ein Schüler ist ein Feuer, das es zu entfachen gilt. Und wenn wir das wirklich gut machen, sind wir eines Tages vielleicht würdig, diejenigen kennenzulernen, die genau deswegen auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden sind, weil sie die Fähigkeit hatten, mit Feuerstein und Stahl ein Feuer zu entfachen. Begebt euch also bitte hinaus, ihr Engel der Herrlichkeit überall auf der Welt – ich denke an alle, die heute zuhören –, begebt euch bitte hinaus und löst bei euren Schülern Erstaunen aus! Ich gebe Zeugnis für die Göttlichkeit dieses Werkes. Ich gebe Zeugnis für die Göttlichkeit Ihrer Berufung. Meine lieben Brüder und Schwestern, dies ist das Werk des allmächtigen Gottes. Ich habe mein Leben nicht einem Ammenmärchen vermacht. Sowohl Sie als auch ich haben unser Leben nicht für etwas hingegeben, von dem Petrus gesagt hat, dass wir dafür beschuldigt werden, nämlich dass wir Lügen oder Hirngespinsten oder mit List gehegten Unwahrheiten nachfolgen. Dies ist die Wahrheit. Es ist keine schlau erdachte Fabel. Sie und ich und die besten Leute, die ich kenne, stellen ihr Leben in den Dienst dieser Sache. Dies ist die Wahrheit des allmächtigen Gottes und möge er Sie beim Verkünden dieser Wahrheit immer segnen. Im Namen Jesu Christi. Amen.
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