Glaube und gute Werke
„ Wir haben unser Leben lang immer wieder Gelegenheit,, uns selbst in den Weg zu laufen’.”
Man fühlt sich sehr klein, wenn man hier auf diesem Podium steht, wo in Vergangenheit und Gegenwart Propheten und Apostel die Wahrheiten der Wiederherstellung gelehrt haben. Ich bin dankbar für diese Berufung zum Dienen und habe die führenden Brüder, mit denen ich zusammenkomme, bewundern und lieben gelernt.
Ich stehe tief in der Schuld meiner wunderbaren und fähigen Mutter und meiner wahrhaft außerordentlichen Frau, der Mutter unserer sieben Söhne. Ich kann nur wiederholen, was Eider Scott bereits gesagt hat - Margaret übertrifft mich in jeder guten Eigenschaft. Ich liebe sie sehr.
Kinder können einem manch wunderbaren und oft humorvollen Einblick ins Leben vermitteln. Wir haben in unserer Familie eineiige Zwillingssöhne, die jetzt zehn Jahre alt sind. Unter bestimmten Umständen kann man sie einfach nicht auseinanderhalten. Wir sind vor kurzem in eine ganz neue Gegend umgezogen. Ein paar Tage später sprach ich mit Aaron, einem der Zwillinge, und fragte ihn, warum er die große Beule an der Stirn habe. Er schilderte den Vorfall so: „Ach, Papa, Lincoln [das ist sein älterer Bruder] ist im Flur hinter mir hergerannt, und da bin ich um die Ecke gerannt und habe Adam gesehen. Ich wußte ja, daß ich schneller bin als Adam, deshalb bin ich einfach weitergelaufen.” Er hatte aber nicht Adam, seinen Zwillingsbruder, gesehen, sondern war mit einem großen Spiegel zusammengestoßen!
Wir haben unser Leben lang immer wieder Gelegenheit, „uns selbst in den Weg zu laufen”. Der Philosoph Pogo hat das folgendermaßen ausgedrückt: „Wir sind auf den Feind gestoßen - auf uns selbst!” (Walt Kelly.)
Etwas ausführlicher hat der Herr es zu Moroni gesagt: „Und wenn Menschen zu mir kommen, so zeige ich ihnen ihre Schwäche. … denn wenn sie sich vor mir demütigen und Glauben an mich haben, dann werde ich Schwaches für sie stark werden lassen.” (Ether 12:27.)
Wenn wir in den Spiegel schauen und die Sammlung von Beulen und blauen Flecken betrachten, die Zeichen unserer Schwäche sind, dürfen wir nicht vergessen, daß es zwei große ausgleichende Kräfte gibt, die unserer Seele als Anker dienen können. Die erste möchte ich anhand eines Erlebnisses veranschaulichen, das ich vor ein paar Monaten hatte. Ich fuhr mit einem Pfahlpräsidenten zu einer jungen Frau in der Nähe von Atlanta. Sie war neunundzwanzig; ihr Mann war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie wohnte mit ihren beiden kleinen Kindern in einer bescheidenen Wohnung. Ich glaube, wir hatten erwartet, sie verstört und entmutigt vorzufinden, nachdem sie eine „Beule” erhalten hatte, für die sie nichts konnte. Aber sie war fröhlich und gelassen und sehr freundlich. Sie dankte uns, daß wir gekommen waren, und sagte dann in etwa folgendes: „Brüder, ich möchte Ihnen sagen, ich glaube an den Erlösungsplan. Ich bin Jesus Christus dankbar dafür, daß mir eine herrliche Auferstehung zusammen mit meinem Mann verheißen ist. Ich bin dankbar für sein erlösendes Opfer.” Dann legte sie die Arme um ihre beiden Kinder und sagte: „Unser Glaube an Jesus Christus wird uns weiterhelfen.”
Wir waren gekommen, weil wir sie trösten und aufrichten wollten. Demütig und durch ihren großen Glauben gestärkt gingen wir wieder.
Wir wandeln wirklich im Glauben - im Glauben an den Erlösungsplan, im Glauben an die Rolle Jesu Christi als Erretter und Erlöser, im Glauben daran, daß er als Sohn Gottes die Macht hat, zu erretten, zu vergeben und uns aufzurichten. Aufgrund des Glaubens üben wir Umkehr, halten wir seine Gebote, suchen wir seine wiederhergestellte Kirche und das bevollmächtigte Priestertum. Und wir hören auf die Worte seiner Propheten und Apostel, die von dieser und anderen Kanzeln herab gesprochen werden.
Wenn wir Glauben an ihn üben, dann hilft Christus uns, unsere Schwächen und die daraus resultierenden „Beulen und blauen Flecken” zu überwinden. Um die zweite ausgleichende Kraft zu veranschaulichen, möchte ich noch etwas erzählen. Vor ein paar Jahren war ich Bischof. Einmal traf sich unsere Gemeinde in geselliger Runde an einem Schwimmbad in der Nähe des Wohnhauses, wo die meisten Gemeindemitglieder wohnten. Mir wurde ein neues Mitglied unserer Gemeinde vorgestellt - eine junge Frau in den Zwanzigern namens Carol. Carol litt seit ihrer Kindheit an Gehirnlähmung. Sie konnte nur mit Mühe gehen, und ihre Hände waren verkrüppelt. Ihr gütiges, liebes Gesicht war auch in Mitleidenschaft gezogen, und das Sprechen fiel ihr schwer. Aber ich sollte die Erfahrung machen, daß Carol zu kennen bedeutete, sie zu lieben.
Ich mußte nur ein paar Minuten warten, bis ich von ihr etwas Großartiges lernen sollte . Wir unterhielten uns und sahen dabei zu, wie ein großer, gutaussehender, dunkelhaariger, sehr sportlicher junger Mann einen Kopfsprung machte und sich dabei anscheinend leicht verletzte. Er kam aus dem Wasser und hielt sich den Nacken und setzte sich unter einen Baum. Ich sah zu, wie Carol mit großer Mühe einen Teller mit Essen zusammenstellte und ihm unter großen Schwierigkeiten brachte - ein herzlicher Dienst, eine „gute Tat”. Carols gute Taten wurden sprichwörtlich. Sie kümmerte sich um die Kranken; sie brachte den Hungrigen etwas zu essen; sie fuhr die Leute mit dem Auto herum (ein Erlebnis, dem man nur sehr blaß und durchgeschüttelt, aber doch heil entkam); sie tröstete; sie richtete auf; sie war ein Segen.
Einmal ging ich zusammen mit ihr den Bürgersteig vor dem Mietshaus entlang, wo sie wohnte. Aus den Fenstern, von den Baikonen, von den Veranden riefen die Leute: „Hallo, Carol!” „Wie geht’s, Carol?” „Komm doch mal vorbei, Carol!” Ab und zu sagte auch mal jemand: „Ach, hallo, Bischof. ” Es war offensichtlich, daß Carol aufgrund ihrer großartigen guten Werke sehr beliebt und allgemein akzeptiert war.
Meine lebhafteste Erinnerung datiert aus dem Frühling jenes Jahres. Die Gemeinde hatte sich vorgenommen, am Fünf-Kilometer-Spaß-Lauf des Pfahles teilzunehmen, was ja wohl ein in sich widersprüchlicher Begriff ist. Carol wollte zusammen mit den übrigen Mitgliedern der Gemeinde mitmachen, aber wir konnten uns nicht vorstellen, wie sie das schaffen sollte. Ihr fiel schon das Gehen schwer. Aber sie war fest entschlossen. Jeden Tag trainierte sie unter großen Mühen, um ausdauernder zu werden.
Der Lauf endete im Stadion. Wir standen schon zu zwei, drei Hunderten an der Ziellinie, tranken Saft und verschnauften. Dann fiel uns Carol ein - sie war irgendwo auf der Strecke geblieben. Wir liefen zum Stadioneingang, und da kam sie in Sicht. Sie keuchte und konnte kaum noch laufen, aber sie warfest entschlossen durchzuhalten. Als sie in die Zielgerade einbog, geschah etwas Wunderbares. Plötzlich standen an beiden Seiten Hunderte von Freunden, die sie anfeuerten. Andere liefen neben ihr her, um sie zu stützen. Carol, die Frau mit den vielen guten Werken, hatte den Lauf geschafft.
Eines Tages wird jeder von uns die Ziellinie überqueren. Feuern uns dann auch diejenigen an, die wir geliebt und denen wir gedient haben? Hoffentlich werden wir den Beifall des Herrn finden, der aufgrund unseres Glaubens und unserer guten Werke zu uns sagt: „Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener.”
Den vielen Zeugnissen, die schon von dieser Kanzel aus gegeben worden sind, füge ich mein Zeugnis hinzu. Ich weiß, daß Gott lebt. Jesus Christus ist sein Sohn - unser Erretter und unser Erlöser. Er hat die Macht, uns aufzurichten, wenn wir im Glauben, mit guten Werken und von ganzem Herzen zu ihm kommen. Das bezeuge ich im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.