„Ins Herz geschrieben“
Das Beten kann „der Schutzschild sein, den die Eltern sich so sehr für ihr Kind wünschen.“
Die Eltern sollen ihre Kinder beten lehren. Ein Kind lernt sowohl durch das, was die Eltern tun, als auch durch das, was sie sagen. Ein Kind, das miterlebt, wie sich Mutter oder Vater den Prüfungen des Lebens mit innigem Gebet stellen, und das sodann das aufrichtige Zeugnis hört, wie Gott dieses Gebet in seiner Güte erhört hat, solch ein Kind erinnert sich an das, was es miterlebt hat. Wird es dann selbst geprüft, so ist es bereit.
Wenn das Kind von zu Hause und der Familie weggeht, kann das Beten der Schutzschild sein, den die Eltern sich so sehr für ihr Kind wünschen. Die Trennung kann schwer sein, besonders wenn Eltern und Kind wissen, dass sie einander vielleicht lange nicht wiedersehen werden. Ich habe das mit meinem Vater erlebt. Wir trennten uns an einer Kreuzung in New York City. Er war aus beruflichen Gründen dort. Ich war auf der Durchreise nach einem anderen Ort. Wir wussten beide, dass ich wahrscheinlich nie wieder mit meinen Eltern unter demselben Dach leben würde.
Es war ein sonniger Tag um die Mittagszeit, und die Straßen waren voller Autos und Fußgänger. An der Kreuzung stand eine Ampel, die den Strom der Fahrzeuge und Men-schen immer wieder ein paar Minuten anhielt. Wenn die Ampel auf Rot schaltete, blieben die Autos stehen. Die Fußgänger eilten kreuz und quer über die Straße, ja, sogar schräg über die Kreuzung.
Wir hatten uns verabschiedet, und ich ging über die Straße. Etwa in der Mitte blieb ich stehen, und die Menschen hasteten an mir vorbei. Ich blickte zurück zu meinem Vater. Er war nicht weitergegangen wie alle anderen, sondern stand noch immer an der Kreuzung und schaute mir nach. Er schien mir einsam und ein wenig traurig zu sein. Ich wollte zurückgehen, doch ich bemerkte, dass die Ampel bald wieder umschalten würde, und so beeilte ich mich, auf die andere Straßenseite zu kommen.
Jahre später sprachen wir einmal über diesen Augenblick. Mein Vater sagte, ich hätte seine Miene damals missverstanden. Er sei nicht traurig gewesen, sondern besorgt. Er hatte gesehen, wie ich mich nach ihm umgewandt hatte, als sei ich noch ein kleiner, verunsicherter Junge, der Trost brauche. Er erzählte mir, dass er damals gedacht hatte: Wird auch alles gut gehen? Habe ich ihm genug beigebracht? Ist er bereit für das, was auf ihn zukommen mag?
Aber nicht nur sein Kopf steckte voller Gedanken. Ich kannte ihn und wusste, was er im Herzen empfand. Er wünschte sich so sehr, dass ich geborgen und beschützt sei. Ich hatte diesen Wunsch all die Jahre, die ich zu Hause verbracht hatte, in seinen Gebeten – und noch viel mehr in den Gebeten meiner Mutter – gehört und verspürt. Ich hatte daraus gelernt, und ich erinnerte mich daran.
Beten ist eine Herzenssache. Ich habe zu Hause weit mehr gelernt als nur das „Wie“ beim Beten. Ich hatte von meinen Eltern und aus den Lehren des Erretters gelernt, dass wir uns mit ehrfürchtigen Worten an den himmlischen Vater wenden. „Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt.“ (Matthäus 6:9.) Ich wusste, dass man seinen Namen nie missbraucht – niemals. Können Sie sich vorstellen, wie sehr es einem betenden Kind schadet, wenn es hört, wie ein Elternteil den Namen Gottes missbraucht? So eine übertretung gegenüber einem Kind hat furchtbare Folgen.
Ich hatte gelernt, dass man für Segnungen dankt und dass man um Vergebung bittet. „Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben.“ (Matthäus 6:12.) Ich hatte gelernt, dass man um das betet, was man braucht, und dass man auch für andere betet. „Gib uns heute das Brot, das wir brauchen.“ (Matthäus 6:11.) Ich wusste, dass wir unseren Willen unterwerfen müssen. „Dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf der Erde.“ (Matthäus 6:10.) Ich hatte gelernt und auch erfahren, dass wir schon früh vor Gefahr gewarnt werden können und dass uns gezeigt werden kann, was wir getan haben, das Gott missfallen hat. „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern rette uns vor dem Bösen.“ (Matthäus 6:13.)
Ich habe gelernt, dass wir immer im Namen Jesu Christi beten müssen. Aus dem, was ich erlebt hatte, habe ich erfahren, dass dies nicht bloß eine Floskel ist. Im Schlafzimmer, in dem meine Mutter vor ihrem Tod mehrere Jahre bettlägerig lag, hing ein Bild des Erretters an der Wand, das sie dort aufgehängt hatte. Ihr Vetter Samuel O. Bennion hatte ihr nämlich erzählt, er sei mit einem Apostel gereist, der geschildert hatte, wie er den Erretter in einer Vision gesehen hatte. Elder Bennion hatte ihr den Druck geschenkt und erklärt, es sei das Bild, das seiner Meinung nach das starke Wesen des Erretters am besten wiedergebe. Deshalb hatte sie es gerahmt und so aufgehängt, dass sie es vom Bett aus sehen konnte.
Sie kannte den Erretter und liebte ihn. Ich habe von ihr gelernt, dass wir, wenn wir uns im Gebet an den Vater wenden, nicht im Namen eines Fremden schließen. Ich sah aus allem, was ich von ihrem Leben wusste, wie sich ihr Herz dem Erretter zuneigte, denn jahrelang war sie entschlossen und beständig bestrebt gewesen, ihm zu dienen und ihm zu gefallen. Ich wusste, die Schriftstelle ist wahr, in der es heißt: „Denn wie soll jemand einen Herrn kennen, dem er nicht gedient hat und der für ihn ein Fremder ist und der den Gedanken und Absichten seines Herzens ferne steht?“ (Mosia 5:13.)
Auch Jahre nach dem Tod meiner Mutter und meines Vaters sind die Worte „im Namen Jesu Christi“ für mich keine beiläufige Floskel, ob ich sie nun selbst spreche oder sie jemand sagen höre. Wir müssen dem Herrn dienen, um sein Herz erkennen zu können. Aber wir müssen auch darum beten, dass der himmlische Vater unser Beten sowohl in unserem Herzen als auch in unserem Verstand erhört (siehe Jeremia 31:33; Hebräer 8:10; 10:16; 2 Korinther 3:3).
Präsident George Q. Cannon hat beschrieben, welch ein Segen es ist, wenn Menschen zusammenkommen, die um solche Antworten gebetet haben. Er sprach damals über eine Priestertumsversammlung, aber viele von Ihnen sind zu dieser Versammlung mit ebenso aufnahmebereitem Herzen gekommen, wie er es hier beschreibt:
„Ich würde zu dieser Versammlung kommen – mein Herz gänzlich frei von allen Einflüssen, die das Wirken des Geistes Gottes auf mich behindern könnten. Ich würde Gott im Geist des Betens bitten, mir seinen Willen ins Herz zu schreiben; ich würde nicht kommen und meinen eigenen Willen bereits darin fest verankert haben und entschlossen sein, ihn auszuführen, ganz gleich, wie andere das sehen.... Wenn ich und wenn auch alle anderen in diesem Geist kämen, wäre der Geist Gottes unter uns spürbar, und was wir hier beschließen, wäre der Wille und der Sinn Gottes, denn Gott täte ihn uns kund. Wir würden dort, wohin wir gehen sollen, Licht erblicken, und Finsternis in jener Richtung, die wir nicht einschlagen sollen.“ (Deseret Semi-Weekly News, 30. September 1890, Seite 2; Hervorhebung hinzugefügt.)
Wenn wir unsere Kinder beten lehren, dann mit dem Ziel, dass sie den Wunsch haben, Gott möge ihnen ins Herz schreiben, und dass sie sodann willens sind, zu gehen und zu tun, was Gott von ihnen möchte. Es ist unseren Kinder möglich, genügend Glauben zu haben – entstanden aus dem, was sie uns tun sehen und was wir sie lehren –, dass sie zumindest teilweise so empfinden wie der Erretter, als er um Kraft betete, um sein unendliches Opfer für uns zu bringen: „Und er ging ein Stück weiter, warf sich zu Boden und betete: Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ (Matthäus 26:39.)
Ich habe erlebt, wie Gebete erhört werden. Die Antworten waren dann am deutlichsten, wenn meine Wünsche zum Schweigen gebracht wurden durch das überwältigende Bedürfnis, herauszufinden, was Gott wollte. In solchen Fällen kann sich die Antwort des liebevollen himmlischen Vaters dem Sinn durch die leise, sanfte Stimme kundtun und uns ins Herz geschrieben werden.
Manche Eltern, die dies hören, fragen sich: „Aber wie kann ich meinem Kind das Herz erweichen, wenn es schon älter und überzeugt ist, dass es Gott nicht braucht? Wie kann ich ein Menschenherz so weit erweichen, dass Gott seinen Willen hineinschreiben kann?“ Mitunter wird ein Herz durch traurige Ereignisse weich. Aber auch traurige Ereignisse sind für manche nicht genug.
Doch es gibt ein Bedürfnis, von dem selbst der Stolze, der Hartherzige nicht annehmen kann, dass er es selbst zu stillen vermag. Keiner kann sich selbst die Last der Sünde von den Schultern nehmen. Und selbst der Hartherzigste verspürt vielleicht zuweilen Gewissensbisse und fühlt, dass er der göttlichen Vergebung bedarf. Ein liebevoller Vater namens Alma hat seinem Sohn Korianton folgendermaßen erklärt, dass er darauf angewiesen war: „Nun konnte aber der Plan der Barmherzigkeit nur zuwege gebracht werden, wenn eine Sühne zustande gebracht wurde; darum sühnt Gott selbst für die Sünden der Welt, um den Plan der Barmherzigkeit zuwege zu bringen, um die Forderungen der Gerechtigkeit zu befriedigen, auf dass Gott ein vollkommener und gerechter, aber auch barmherziger Gott sei.“ (Alma 42:15.)
Und dann, nachdem der Vater Zeugnis vom Erretter und dessen Sühnopfer gegeben hatte, bat er seinen Sohn, sich das Herz erweichen zu lassen: „O mein Sohn, ich wünsche, du würdest die Gerechtigkeit Gottes nicht länger leugnen. Unterfange dich nicht, dich deiner Sünde wegen auch nur im geringsten zu entschuldigen, indem du die Gerechtigkeit Gottes leugnest; sondern lass die Gerechtigkeit Gottes und seine Barmherzigkeit und seine Langmut vollen Einfluss auf dein Herz haben; und lass dich davon in Demut hinabführen bis in den Staub.“ (Alma 42:30.)
Alma wusste, was auch wir wissen können, nämlich: das Zeugnis von Jesus Christus, dem Gekreuzigten, konnte seinem Sohn am ehesten bewusst machen, dass er der Hilfe bedurfte, die nur von Gott kommen kann. Und wenn das Herz durch dieses überwältigende Gefühl, dass man dieser Reinigung bedarf, weich geworden ist, dann wird auch das Beten eher erhört.
Dadurch, dass wir unsere Lieben lehren, dass wir Geistkinder sind, die eine Zeitlang von ihrem liebenden himmlischen Vater getrennt sind, öffnen wir ihnen die Tür zum Beten.
Wir haben in seiner Gegenwart gelebt, und dann kamen wir hierher, um geprüft zu werden. Wir kannten sein Angesicht, und er kannte unseres. So wie mein irdischer Vater mir nachblickte, als ich wegging, so blickte uns der Vater im Himmel nach, als wir in die Sterblichkeit eintraten.
Sein geliebter Sohn, Jahwe, verließ die himmlische Wohnstatt und kam zur Welt, um hier all das zu erleiden, was auch wir erleiden, und um für uns alle den Preis für unsere Sünden zu zahlen. Er hat uns den einzigen Weg eröffnet, zum himmlischen Vater und zu ihm zurückzukehren. Wenn der Heilige Geist uns darüber, wer wir sind, wenigstens das sagen kann, können wir und unsere Kinder vielleicht das verspüren, was Enos spürte. Er betete folgendermaßen:
„Und meine Seele hungerte; und ich kniete vor meinem Schöpfer nieder und schrie zu ihm in machtvollem Gebet und voll Flehen für meine Seele; und den ganzen Tag lang schrie ich zu ihm; ja, und als die Nacht kam, ließ ich meine Stimme noch immer laut erschallen, so dass sie den Himmel erreichte.
Und eine Stimme erging an mich, nämlich: Enos, deine Sünden sind dir vergeben, und du sollst gesegnet sein.“ (Enos 1:4,5.)
Ich kann Ihnen verheißen, dass es für Sie keine größere Freude gibt, als wenn eines Ihrer Kinder in Zeiten der Not betet und eine solche Antwort erhält. Sie werden eines Tages von ihnen getrennt sein und sich von Herzen wünschen, wiedervereint zu werden. Der liebende himmlische Vater weiß, dass dieses Sehnen für immer dauern würde, wenn wir nicht als Familie mit ihm und seinem geliebten Sohn wiedervereint werden. Er hat es so eingerichtet, dass alle seine Kinder diesen Segen brauchen. Dazu müssen sie Gott selbst bitten, und zwar ohne zu zweifeln, so wie der junge Joseph Smith.
Mein Vater hat sich an jenem Tag in New York Sorgen gemacht, weil er wusste, wie auch meine Mutter es wusste, dass die einzige Tragödie darin bestehen würde, dass wir für immer getrennt wären. Deshalb hat er mich beten gelehrt. Sie wussten, dass wir nur mit Gottes Hilfe und mit seiner Zusicherung für immer zusammen sein können. So wie Sie es auch tun, haben sie das Beten durch ihr Beispiel am besten vermittelt.
An dem Nachmittag, als meine Mutter starb, kamen wir aus dem Krankenhaus nach Hause. Wir saßen eine Weile still im dunklen Wohnzimmer. Mein Vater stand auf und ging ins Bad. Er blieb ein paar Minuten weg. Als er wieder ins Wohnzimmer kam, lag ein Lächeln auf seinem Gesicht. Er sagte, er habe sich um Mutter Sorgen gemacht. Als er ihre Sachen aus dem Krankenzimmer mitgenommen und sich bei den Krankenhausmitarbeitern für ihre Freundlichkeit bedankt hatte, hatte er daran gedacht, wie sie in den Minuten nach ihrem Tod in die Geisterwelt gegangen war. Er hatte befürchtet, sie könne sich einsam fühlen, weil niemand da war, um sie zu begrüßen.
Er war in sein Schlafzimmer gegangen, um den himmlischen Vater zu bitten, jemand möge Mildred, seine Frau, meine Mutter, zu begrüßen. Er sagte, er habe im Gebet erfahren, dass seine Mutter seiner Frau begegnet sei. Da musste ich auch lächeln. Oma Eyring war nicht sehr groß. Ich hatte eine deutliche Vorstellung davon, wie sie durch die Menge geeilt war, wie ihre kurzen Beine geflogen waren, damit sie den Auftrag, meine Mutter zu begrüßen, erfüllen konnte.
Vater hatte in dem Augenblick sicher nicht vor, mich in Bezug auf das Beten zu unterweisen, aber er tat es doch. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mein Mutter oder meine Vater über das Thema Beten gepredigt hätten. Sie beteten, wenn die Zeiten schwer waren und wenn sie gut waren. Und sie berichteten sachlich von der Güte Gottes, von seiner Macht und seiner Nähe. Am meisten hörte ich sie in ihren Gebeten über das sprechen, was wir brauchten, um für immer zusammen zu sein. Und die Antworten, die mir für immer ins Herz geschrieben sind, waren wohl am häufigsten die Zusicherungen, die ich erfahren habe.
Als ich vor meinem geistigen Auge sah, wie meine Großmutter auf meine Mutter zueilte, freute ich mich für sie beide und spürte das Sehnen, auch mit meiner Frau und unseren Kindern eine solche Wiedervereinigung zu erleben. Dieses Sehnen ist der Grund dafür, dass wir unsere Kinder beten lehren müssen.
Ich bezeuge, dass der himmlische Vater das Flehen der glaubenstreuen Eltern erhört, wenn sie wissen wollen, wie sie ihre Kinder beten lehren sollen. Ich bezeuge, dass wir dank dem Sühnopfer Jesu Christi ewiges Leben in der Familie haben können, wenn wir die Bündnisse, die wir in dieser, seiner wahren Kirche erhalten, ehren. Das bezeuge ich als sein Diener im Namen Jesu Christi, amen.