Die goldenen Jahre
Schätzen Sie die alten Menschen um dessentwillen, was sie sind, und nicht bloß um dessentwillen, was sie tun können.
Vor Jahren starb an Heiligabend der fünfjährige Sohn meiner Cousine an einer Lungenentzündung. Die Familie stand um den Sarg herum und sprach ein Familiengebet. Eine kleine Decke, die die Mutter des Jungen angefertigt hatte, lag zusammengelegt über seinen Füßen.
In dem Moment, als der Sarg geschlossen werden sollte, trat meine Mutter vor, legte den Arm um die trauernde Mutter und half ihr, die Decke auseinander zu falten und um den Kleinen zu legen. Das letzte Bild, das diese Mutter von ihrem Sohn hatte, war, wie er sozusagen unter seiner Lieblingsdecke schlief. Es war ein sehr bewegender Moment. So handeln Großmütter!
Wir fuhren zum Begräbnis meines Schwiegervaters, William W. Smith, nach Brigham City. Ein junger Mann, den ich als Seminarschüler gekannt hatte, stand tief bewegt vor dem Sarg. Mir war nicht bewusst, dass er meinen Schwiegervater gekannt hatte.
Er erzählte: „Einen Sommer habe ich auf seiner Farm gearbeitet. Bruder Smith schnitt das Thema Mission an. Meinen Eltern war es nicht möglich, mich auf Mission finanziell zu unterstützen. Bruder Smith sagte, ich solle deswegen beten, und fügte hinzu: ‚Und wenn du dich entschließt, auf Mission zu gehen, dann bezahle ich deine Mission.‘ Das hat er dann auch getan.“
Weder meine Frau noch ihre Mutter hatten davon gewusst. So handeln Großväter.
Wir haben zehn Kinder. Als die Kinder noch klein waren, saß meine Frau an einem Sonntagmorgen, an dem alles durcheinander ging, in der Abendmahlsversammlung. Ich war wie üblich unterwegs. Unsere Kinder brauchten schon fast eine Reihe für sich.
Schwester Walker, eine liebe Großmutter mit grauem Haar, die selbst zwölf Kinder großgezogen hatte, kam von ihrem Platz einige Reihen hinter meiner Familie nach vorn und setzte sich mitten unter unsere unruhigen Kinder. Nach der Versammlung dankte ihr meine Frau für die Unterstützung.
Schwester Walker sagte: „Sie haben alle Hände voll zu tun, nicht wahr?“ Meine Frau nickte. Schwester Walker tätschelte ihr die Hand und sagte: „Jetzt alle Hände voll, später das Herz voll Freude!“ Dieser schlichte Satz ist wahr geworden! So handeln Großmütter!
Wir haben über die Mission in Neuengland präsidiert. Einer unserer Missionare heiratete dann und hatte fünf Kinder. Er machte sich auf, um einen größeren Wagen für die Familie zu kaufen, und kehrte nie zurück. Man fand seinen Leichnam unter einer Überführung; sein Auto war gestohlen worden.
Ich rief den Pfahlpräsidenten an und wollte der Familie meine Hilfe anbieten. Aber sie hatte bereits Hilfe.
Der Großvater sagte: „Wir kennen unsere Pflicht. Wir brauchen keine Hilfe von der Kirche. Wir kennen unsere Pflicht.“ So handeln Großväter!
Ich möchte heute über Großeltern und zu den Großeltern und all den Mitgliedern in fortgeschrittenem Alter sprechen, die selbst keine Kinder haben, aber die Aufgaben von Großeltern übernehmen.
In der englischen King-James-Übersetzung der Bibel steht: „Bei den Greisen findet sich Weisheit, und langes Leben ist Einsicht“ (King-James-Übersetzung, Ijob 12:12.)
In einer Pfahlversammlung fiel mir auf, dass ungewöhnlich viele ältere Mitglieder anwesend waren. Die meisten waren Witwen. Ich sagte dem Pfahlpräsidenten, wie beeindruckend ich sie alle fand.
Der Pfahlpräsident entgegnete: „Ja, aber sie sind nicht in der Kirche aktiv.“ Er meinte damit, dass sie kein führendes Amt bekleideten und auch nicht als Lehrkraft dienten. Es klang so, als seien sie eine Last.
Ich wiederholte seine Worte „Nicht in der Kirche aktiv?“, und wollte wissen „Sie sind doch aber im Evangelium aktiv?“ Der Unterschied war ihm anfangs nicht ganz klar.
Wie so viele von uns hatte er mehr auf das geachtet, was jemand tut, und dabei übersehen, was sie sind, nämlich eine kostbare Quelle der Erfahrung, der Weisheit und der Inspiration.
Wir stehen vor einer beunruhigenden Herausforderung. Die Bevölkerungszahlen sinken weltweit. In den meisten Ländern sinkt die Geburtenrate, aber die Lebenserwartung steigt. Die Familien sind kleiner – man beschränkt sich bewusst auf weniger Kinder. In einigen Ländern wird es in wenigen Jahren mehr Großeltern als Kinder geben. Die Überalterung der Bevölkerung hat weitreichende wirtschaftliche, gesellschaftliche und geistige Konsequenzen. Sie wird sich auch auf das Wachstum der Kirche auswirken.
Wir müssen unsere jungen Leute lehren, eine Beziehung zu den älteren Menschen aufzubauen.
Die Erste Präsidentschaft hat die Jungen Damen, die sich dem Erwachsenenalter nähern, vor kurzem angewiesen, sich mit den Müttern und Großmüttern in der FHV zu versammeln (siehe Brief der Ersten Präsidentschaft vom 19. März 2003).
Manche Mädchen scheuen davor zurück. Sie sind lieber mit Gleichaltrigen zusammen.
Junge Damen, seid nicht so dumm, auf den Umgang mit den älteren Schwestern zu verzichten. Sie bringen mehr Wertvolles in euer Leben als viele der Aktivitäten, die euch derzeit lieb und teuer sind.
Führerinnen, lehren Sie die Mädchen, eine gute Beziehung zu ihrer Mutter und ihren Großmüttern und den älteren Schwestern in der FHV aufzubauen. So haben sie Umgang mit den Älteren, wie das auch die jungen Männer in den Priestertumskollegien haben.
All die Aufmerksamkeit, die wir den Jugendlichen widmen, alle Programme, die für sie bestimmt sind, bleiben unvollständig, wenn wir ihnen nicht den Zweck der Wiederherstellung vermitteln. Die Schlüssel des Priestertums sind wiederhergestellt worden, damit die Generationen miteinander verbunden werden. Zu diesem Zweck ist auch die Siegelungsvollmacht offenbart worden und deswegen werden Tempel gebaut. Seit jeher zieht sich ein ewiger, goldener Faden durch alle Offenbarungen, nämlich „das Herz der Väter wieder den Söhnen zu[zu]wenden und das Herz der Söhne ihren Vätern“ (Maleachi 3:24).
Bischof, ist Ihnen bewusst, dass sich einige Probleme mit Jugendlichen und anderen, um deretwillen Sie sich viele Sorgen machen, dadurch lösen lassen, dass die jungen Leute eine enge Beziehung zu Vater und Mutter und den Großeltern – den älteren Menschen – haben?
Wenn es Ihnen zur Last wird, zu oft Rat erteilen zu müssen, bedenken Sie, dass es in der Gemeinde ja auch ältere Schwestern – Großmütter – gibt, die auf eine jungverheiratete Frau einen guten Einfluss ausüben und wie eine Großmutter zu ihr sein können. Und es gibt ältere Männer, die einem jungen Mann ein Großvater sein können. Ältere Menschen besitzen eine innere Festigkeit und Ausgeglichenheit, die der Erfahrung entspringt. Machen wir uns dies zunutze.
Der Prophet Joseph Smith hat gesagt: „Um in irgendeiner wichtigen Sache voranzukommen, ist es am besten, man sucht sich einige weise Männer [und Frauen] zusammen, erfahrene, ältere Menschen, die einem in unruhigen Zeiten mit ihrem Rat zur Seite stehen.“ (Lehren des Propheten Joseph Smith, Hg. Joseph Fielding Smith, 1976, Seite 303.)
Wir bemühen uns, die jungen Leute zu sammeln, und verabsäumen es dabei, auch die Generationen zusammenzubringen. Es gibt so vieles, was die älteren Mitglieder tun können. Wer ältere Mitglieder als in der Kirche inaktiv betrachtet, der sollte sich fragen: „Sind sie denn im Evangelium aktiv?“
Vergessen Sie auch nicht, welch nachhaltige Macht in den Gebeten der Eltern und Großeltern liegt. Bedenken Sie: „Viel vermag das inständige Gebet eines Gerechten.“ (Jakobus 5:16.)
Alma der Jüngere lehnte sich auf. Ein Engel ließ ihn zu Boden stürzen und sagte zu ihm: „Siehe, der Herr hat die Gebete seines Volkes vernommen, ebenso auch die Gebete seines Knechtes Alma, der dein Vater ist; denn er hat mit viel Glauben für dich gebetet, damit du zur Erkenntnis der Wahrheit gebracht würdest; darum bin ich nun gekommen, dich von der Kraft und Vollmacht Gottes zu überzeugen, damit die Gebete seiner Knechte gemäß ihrem Glauben erhört würden.“ (Mosia 27:14.)
Meine Frau und ich haben erlebt, wie unsere Großeltern und dann auch unsere Eltern von uns gegangen sind. So manches, was uns zunächst wie eine Last oder Sorge vorkam, hat sich letztlich als Segen erwiesen.
Der Vater meiner Frau ist bei uns zu Hause gestorben. Er musste rund um die Uhr gepflegt werden. Krankenschwestern zeigten unseren Kindern, wie sie sich um ihren bettlägerigen Opa kümmern sollten. Was sie gelernt haben, ist für sie und für uns sehr wertvoll. Wir sind sehr dankbar, dass wir unseren Opa bei uns haben konnten.
Der Einfluss, den er auf unsere Kinder ausgeübt hat, hat uns all unsere Mühe tausendfach vergolten. Meine Kinder haben dadurch viel gelernt. Ich selbst habe diese Erfahrung als Junge ebenfalls gemacht, als nämlich mein Großvater Packer bei uns zu Hause starb.
Schätzen Sie die alten Menschen um dessentwillen, was sie sind, und nicht bloß um dessentwillen, was sie tun können.
Haben Sie sich je gefragt, weshalb der Herr die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel so organisiert hat, dass der höchsten Führungsebene der Kirche stets ältere Männer angehören? Im Muster dieser Rangfolge wird mehr Wert auf Weisheit und Erfahrung gelegt als auf Jugend und Körperkraft.
Das Durchschnittsalter der Präsidentschaft und der Zwölf beträgt derzeit 77 Jahre. Wir sind nicht mehr so agil. Möglicherweise haben wir den Zenit unseres Lebens bereits überschritten. Doch so hat der Herr es vorgesehen.
Vor ein, zwei Konferenzen meinte Joseph Wirthlin, er würde die Zwölf gern zu einem Wettlauf herausfordern. Anfangs dachte ich, ich würde mich darauf einlassen. Dann dachte ich, sicherer wäre es wohl, gegen den 96-jährigen David Haight anzutreten. Doch dann überlegte ich und es kamen mir Zweifel: David könnte mich ja mit seinem Stock zu Fall bringen, und dann würde ich verlieren. Schließlich gab ich auf!
Wenn die Präsidentschaft und die Zwölf zusammenkommen, verfügen wir insgesamt über 1161 Lebensjahre und eine erstaunliche Vielfalt von Erfahrungen. Als Generalautoritäten der Kirche sind wir insgesamt schon 430 Jahre im Amt. Und ganz egal, worüber wir sprechen – irgendeiner oder mehrere von uns haben es schon erlebt und mitgemacht – einschließlich Krieg!
Wir leben heute in einer schwierigen Zeit. Und im Lauf des Lebens unserer jungen Leute werden die Schwierigkeiten nie weniger werden, sondern ganz gewiss noch zunehmen. Die älteren Menschen vermitteln die Gewissheit, dass man so manches überstehen kann.
Unsere Kinder sind bereits verheiratet und haben das Nest verlassen, um ihr Glück zu machen.
Eine Familie machte sich in ihrem alten Auto und mit ihren kleinen Kindern auf die Reise an einen neuen Ort. Meine Frau vergoss Tränen. Ich tröstete sie und sagte: „Dort, wo sie hinfahren, gibt es doch auch die Kirche. Dort wird das Mädchen eine Großmutter um Kochrezepte bitten und wegen der Kindererziehung um Rat fragen können, und der Junge wird von einem Großvater dort so manchen Handgriff lernen.“
„Großmütter zum Adoptieren“ finden sich in der FHV. Und Großväter in den Priestertumskollegien. Aber auch außerhalb der Kirche ist so mancher Opa, so manche Oma zu finden.
Ein Sohn kaufte sich in einem entfernten Bundesstaat ein kleines Haus. Er zeigte mir, dass an einer Ecke des Fundaments die Ziegel langsam zerfielen. Er wollte wissen, was man dagegen tun könne.
Ich wusste es auch nicht, aber ich fragte ihn: „Gibt es hier in der Nähe ein älteres Ehepaar?“
„Ja“, sagte er, „gleich schräg gegenüber wohnt ein Rentnerehepaar.“
„Bitte doch den Mann, vorbeizukommen und sich das hier anzusehen. Er kennt das hiesige Klima.“
Mein Sohn tat das auch und erhielt Rat von einem älteren Mann, der das alles und noch mehr bereits kannte. So etwas kann ein „Adoptiv-Großvater“ tun.
„Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.“ (Exodus 20:12.)
Dem Apostel Paulus zufolge sollen „die älteren Frauen“ die jungen Frauen unterweisen und „die älteren Männer“ die jungen Männer ermahnen und dabei „ein Beispiel durch gute Werke“ geben (siehe Titus 2:1-7).
Wir sind jetzt alt und wenn die Zeit gekommen ist, werden wir auf die andere Seite des Schleiers gerufen werden. Dagegen sträuben wir uns nicht. Wir versuchen, das Praktische, das wir im Lauf der Jahre gelernt haben, denen beizubringen, die jünger sind –unseren Kindern und anderen.
Wir können nicht mehr alles so tun wie früher, aber wir sind mehr geworden, als wir je zuvor waren. Unsere Lebenserfahrung – und manches davon war sehr schmerzhaft – versetzt uns in die Lage, Rat zu erteilen, zurechtzuweisen, ja, die jungen Menschen auch zu warnen.
In Ihren goldenen Jahren gibt es so viel zu tun und so viel, was Sie sein können. Ziehen Sie sich nicht vom Leben zurück und lehnen Sie sich nicht zurück. Das wäre für viele von uns vergebens und egoistisch. Vielleicht sind Sie auf Mission gewesen und nach Ihrer Entlassung der Meinung, Sie hätten nun Ihren Dienst in der Kirche abgeschlossen. Sie werden jedoch nie daraus entlassen, im Evangelium aktiv zu sein. Der Herr hat gesagt: „Wenn ihr den Wunsch habt, Gott zu dienen, seid ihr zu dem Werk berufen.“ (LuB 4:3.)
Und dann, wenn Sie alt und schwach sind, lernen Sie vielleicht noch, dass unsere größte Mission auf Erden darin besteht, unsere Familie und die Familie anderer zu stärken – die Generationen aneinander zu siegeln.
Ich lehre hier einen wahren Grundsatz. Was ich hier lehre, steht geschrieben: „Dieser Grundsatz stimmt genau mit der Lehre überein, die euch in der Offenbarung verkündet worden ist“ (LuB 128:7).
In dem Lied „O fest wie ein Felsen“, das bereits 1835 im ersten Gesangbuch der Kirche erschien, lautet eine Strophe im englischen Gesangbuch wie folgt:
Und sind wir einst alt dann, ist grau unser Haar,
so bleibt Gottes Liebe doch treu immerdar.
Er ist sich der Alten, der Schwachen bewusst …
und trägt sie wie Lämmer eng an seiner Brust.
(Hymns, Nr. 85.)
Lassen Sie das Licht Ihres Zeugnisses vom wiederhergestellten Evangelium und Ihr Zeugnis vom Erlöser so hell leuchten, dass sich Ihre Kinder am Feuer Ihres Glaubens die Hände wärmen können! Das müssen Großeltern tun! Im Namen Jesu Christi. Amen.