2000–2009
Die heilende Kraft der Vergebung
April 2007


Die heilende Kraft der Vergebung

Wenn wir in unserem Herzen Vergebung für diejenigen finden, die uns Schmerz und Verletzungen zugefügt haben, gelangen wir auf eine höhere Ebene, was unsere Selbstachtung und unser Wohlbefinden angeht.

Liebe Brüder und Schwestern und Freunde, ich stehe demütig und gebeterfüllt vor Ihnen. Ich möchte über die heilende Kraft der Vergebung sprechen

In den herrlichen Hügeln von Pennsylvania lebt eine strenggläubige Gruppe von Christen, die ein sehr einfaches Leben ohne Autos, Elektrizität und moderne Maschinen führen. Sie arbeiten hart und leben still und friedlich abseits von der Welt. Die meisten ihrer Lebensmittel stammen von ihren eigenen Bauernhöfen. Die Frauen nähen, stricken und weben ihre Kleidung, die sittsam und schlicht ist. Sie sind als die Amish bekannt.

Ein 32-jähriger Fahrer eines Milchtransporters lebte mit seiner Familie in einem ihrer Orte, in Nickel Mines. Er war kein Amish, doch seine Sammelroute führte ihn zu vielen Milchbauernhöfen der Amish, und er wurde dort als der stille Milchmann bekannt. Letztes Jahr im Oktober verlor er plötzlich allen Sinn und Verstand. Sein gequälter Geist gab Gott die Schuld am Tod seines ersten Kindes und an einigen nicht bestätigten Erinnerungen. Er stürmte ohne jeden Anlass in die Schule der Amish, schickte die Jungen und die Erwachsenen hinaus und fesselte die zehn Mädchen. Er schoss auf die Mädchen, tötete fünf und verwundete fünf. Dann nahm er sich selbst das Leben.

Diese schockierende Gewalt verursachte großen seelischen Schmerz unter den Amish, jedoch keinen Zorn. Sie waren verletzt, aber hassten nicht. Ihre Vergebung kam sofort. Gemeinsam begannen sie, sich um die leidende Familie des Milchmanns zu kümmern. Als die Familie des Milchmanns am Tag nach der Schießerei in seinem Haus versammelt war, kam ein Amish-Nachbar hinüber, umarmte den Vater des toten Schützen und sagte: „Wir werden euch vergeben.“1 Führende Amish besuchten die Frau und die Kinder des Milchmanns, um ihnen ihr Mitgefühl auszusprechen, und zeigten sich vergebungsbereit, hilfsbereit und liebevoll. Etwa die Hälfte der Trauernden bei der Bestattung des Milchmanns waren Amish. Ebenso luden die Amish die Familie des Milchmanns zur den Trauerfeiern für die Mädchen ein, die umgebracht worden waren. Ein bemerkenswerter Friede kam über die Amish, als ihr Glaube sie in dieser Krise stützte.

Ein Einheimischer fasste mit sehr treffenden Worten die Nachwirkungen dieser Tragödie zusammen: „Wir haben alle dieselbe Sprache gesprochen, nicht nur Englisch, sondern auch eine Sprache der Fürsorge, eine Sprache der Gemeinschaft und eine Sprache des Dienens. Und, ja, auch eine Sprache der Vergebung.“2 Es war erstaunlich, wie sie ihren ganzen Glauben an die Lehren des Herrn in der Bergpredigt wirken ließen: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen.“3

Die Familie des Milchmanns, der die fünf Mädchen umgebracht hatte, veröffentlichte folgende Erklärung:

„An unsere Amish-Freunde und – Nachbarn und die örtliche Gemeinde!

Unsere Familie möchte, dass Sie alle wissen, dass wir von der Vergebungsbereitschaft, der Gnade und Barmherzigkeit, die Sie uns gezeigt haben, überwältigt sind. Ihre Liebe für unsere Familie hat dazu beigetragen, dass wir die Heilung finden konnten, die wir so verzweifelt nötig hatten. Die Gebete, Blumen, Karten und Geschenke, die wir von Ihnen erhalten haben, haben unser Herz auf eine Weise berührt, die nicht in Worten ausgedrückt werden kann. Ihr Mitgefühl ist über unsere Familie, unseren Lebensbereich hinausgegangen und hat unsere Welt verändert. Dafür danken wir Ihnen aufrichtig.

Wir möchten, dass Sie wissen, dass die Geschehnisse uns das Herz zerrissen haben. Wir empfinden großen Kummer für all unsere Amish-Nachbarn, die uns lieb waren und weiterhin lieb sind. Wir wissen, dass vor all den Familien, die geliebte Menschen verloren haben, viele schwere Stunden und Tage liegen, und daher werden wir weiterhin unsere Hoffnung und unser Vertrauen in den Gott allen Trostes setzen, während wir uns alle bemühen, unser Leben wieder aufzubauen.“4

Wie konnte die gesamte Gruppe der Amish auf solche Weise ihre Vergebung zum Ausdruck bringen? Es war möglich durch ihren Glauben an Gott und ihr Vertrauen in sein Wort, beides Teil ihres innersten Wesens. Sie sehen sich als Jünger Christi und wollen seinem Beispiel folgen.

Viele Menschen, die von dieser Tragödie hörten, schickten den Amish Geld für die medizinische Versorgung der fünf verletzten Mädchen und die Bestattungskosten der fünf, die umgebracht worden waren. Die Amish demonstrierten auch hier, dass sie wahre Jünger sind, denn sie beschlossen, einen Teil des Geldes der Witwe des Milchmannes und ihren drei Kindern zu geben, da auch sie Opfer dieser schrecklichen Tragödie waren.

Vergebung geschieht nicht immer so unverzüglich, wie es bei den Amish geschah. Wenn unschuldige Kinder missbraucht oder getötet werden, hat bei den meisten von uns der erste Gedanke nichts mit Vergebung zu tun. Unsere natürliche Reaktion ist Zorn. Wir fühlen uns möglicherweise sogar gerechtfertigt in dem Wunsch, sich an dem zu rächen, der uns oder unserer Familie Verletzungen zufügt.

Dr. Sidney Simon, eine anerkannte Autorität auf dem Gebiet Wertevermittlung, hat eine hervorragende Definition für Vergebung gegeben, wie sie in zwischenmenschlichen Beziehungen stattfindet:

„Vergebung setzt die Energie frei und nutzt sie besser, die vorher davon verzehrt wurde, dass Groll und Verbitterung gehegt und offene Wunden gepflegt wurden. Sie lässt die Stärken wieder hervorkommen, die wir schon immer hatten, und lässt uns unsere grenzenlose Fähigkeit wiederfinden, andere Menschen und uns selbst zu verstehen und anzunehmen.“5

Die meisten von uns benötigen Zeit, um Schmerz und Verlust zu verarbeiten. Wir können alle möglichen Gründe dafür finden, die Vergebung hinauszuschieben. Einer dieser Gründe ist, darauf zu warten, dass der Übeltäter umkehrt, ehe wir ihm vergeben. So ein Aufschub verhindert jedoch, dass wir Frieden und Glück empfinden können. Die Torheit, lang zurückliegende Verletzungen immer wieder hervorzubringen, macht uns nicht glücklich.

Es gibt Menschen, die ihr Leben lang einen Groll hegen, ohne zu erkennen, dass es heilsam und therapeutisch wäre, demjenigen, der uns Unrecht getan hat, mutig zu vergeben.

Vergeben ist leichter, wenn wir, wie die Amish, Glauben an Gott haben und auf sein Wort vertrauen. Ein derartiger Glaube „ermöglicht es Menschen, dem Schlimmsten der Menschheit zu widerstehen. Er ermöglicht Menschen auch, über sich selbst hinauszusehen. Und was noch wichtiger ist: Er hilft ihnen zu vergeben.“6

Wir alle erleiden Verletzungen durch Ereignisse, die scheinbar ohne Sinn und Zweck sind. Wir können sie weder verstehen noch erklären. Wir werden möglicherweise nie erfahren, warum manches in diesem Leben geschieht. Der Grund für einiges, was wir erleiden, ist nur dem Herrn bekannt. Aber da es geschieht, muss es ertragen werden. Präsident Howard W. Hunter hat gesagt: „Gott weiß und sieht, was wir nicht wissen und nicht sehen.“7

Präsident Brigham Young äußerte die tiefe Erkenntnis, dass zumindest einiges von dem, was wir erleiden, einen Zweck hat. Er sagte: „Jedes Unheil, das über ein sterbliches Wesen hereinbrechen kann, werden einige wenige erleiden, um darauf vorbereitet zu werden, sich der Gegenwart des Herrn zu erfreuen. … Jede Prüfung und Erfahrung, die ihr durchlebt habt, ist für eure Errettung notwendig.“8

Wenn wir in unserem Herzen Vergebung für diejenigen finden, die uns Schmerz und Verletzungen zugefügt haben, gelangen wir auf eine höhere Ebene, was unsere Selbstachtung und unser Wohlbefinden angeht. Einige aktuelle Studien zeigen, dass Menschen, denen beigebracht wird zu vergeben, „weniger zornig, weniger niedergeschlagen, weniger ängstlich, weniger gestresst und dafür hoffnungsvoller“ sind, was zu größerem körperlichen Wohlbefinden führt.9 Eine andere dieser Studien führt zu dem Schluss, „dass Vergebung ein befreiendes Geschenk ist, das Menschen sich selbst machen können“.10

In der heutigen Zeit ermahnt uns der Herr: „Ihr sollt einander vergeben“ und macht es dann mit diesen Worten zu einer Notwendigkeit: „Ich, der Herr, vergebe, wem ich vergeben will, aber von euch wird verlangt, dass ihr allen Menschen vergebt.“11

Eine Schwester, die eine schmerzvolle Scheidung hinter sich gebracht hatte, erhielt einen guten Rat von ihrem Bischof: „Halten Sie einen Platz in Ihrem Herzen frei für die Vergebung, und wenn sie dann kommt, heißen Sie sie willkommen!“12 Bei den Amish gab es diesen Platz bereits, da „Vergebung ein tief empfundener Bestandteil ihrer Religion ist“.13 Ihre beispielhafte Vergebungsbereitschaft ist ein erhabener Ausdruck christlicher Liebe.

Hier in Salt Lake City kam 1985 Bischof Steven Christensen ohne eigenes Verschulden brutal und sinnlos durch eine Bombe um, mit der man es auf ihn abgesehen hatte. Er war der Sohn von Mac und Joan Christensen, der Ehemann von Terri und Vater von vier Kindern. Mit dem Einverständnis seiner Eltern erzähle ich, was sie aus dieser Erfahrung gelernt haben. Nach dieser schrecklichen Tat folgten die Medien den Angehörigen der Familie Christensen unbarmherzig überall hin. Einmal ärgerte das ständige Eindringen der Medien einen Angehörigen so sehr, dass Stevens Vater, Mac, ihn zurückhalten musste. Mac dachte daraufhin: „Diese Sache wird meine Familie zerstören, wenn wir nicht vergeben. Feindseligkeit und Hass werden nie zu einem Ende kommen, wenn wir Herz und Sinn nicht davon befreien können.“ Heilung und Friede zogen ein, als die Familie ihr Herz vom Zorn reinigte und in der Lage war, dem Mann, der ihrem Sohn das Leben genommen hatte, zu vergeben.

Vor kurzem ereigneten sich zwei andere Tragödien hier in Utah, in denen sich Glaube und die heilende Kraft der Vergebung zeigten. Gary Ceran, dessen Frau und zwei Kinder am Heiligabend umkamen, als ein Lastwagen in ihr Fahrzeug fuhr, brachte sofort seine Vergebungsbereitschaft und Sorge um den vermutlich betrunkenen Fahrer zum Ausdruck. Im vergangenen Februar, als ein Auto auf das Fahrzeug von Bischof Christopher Williams prallte, musste er eine Entscheidung treffen, und diese lautete, dem Fahrer, der den Unfall verursacht hatte „bedingungslos zu vergeben“, damit der Heilungsprozess ungehindert verlaufen konnte.14

Was können wir alle aus Ereignissen wie diesen lernen? Wir müssen Gefühle des Zorns erkennen und anerkennen. Hierfür ist Demut notwendig, aber wenn wir auf die Knie gehen und den himmlischen Vater um Vergebungsbereitschaft bitten, wird er uns helfen. Der Herr verlangt zu unserem eigenen Nutzen, dass wir allen Menschen vergeben15, weil „Hass das geistige Wachstum hemmt“.16 Nur wenn wir uns von Hass und Bitterkeit befreien, kann der Herr unserem Herzen Trost schenken, wie er es für die Gemeinschaft der Amish, die Familie Christensen, die Familie Ceran und die Familie Williams tat.

Natürlich muss die Gesellschaft vor hartgesottenen Verbrechern geschützt werden, denn Barmherzigkeit darf die Gerechtigkeit nicht berauben.17 Bischof Williams hat dieses Konzept sehr gut in Worte gefasst, als er sagte: „Vergebung ist eine Quelle der Kraft. Aber sie befreit uns nicht von den Folgen.“18 Wenn Tragödien stattfinden, dürfen wir nicht darauf reagieren, indem wir persönliche Rache anstreben, sondern müssen stattdessen der Gerechtigkeit ihren Lauf lassen und dann loslassen. Es ist nicht einfach, loszulassen und unser Herz von schwärendem Groll zu befreien. Der Erretter bietet uns allen durch sein Sühnopfer einen kostbaren Frieden, doch dieser kann nur einziehen, wenn wir willens sind, negative Gefühle wie Zorn, Verachtung oder Rachsucht abzulegen. Allen von uns, die denen vergeben, die sich ihnen gegenüber verfehlt haben19, auch denen, die schwerwiegende Vergehen begangen haben, bringt das Sühnopfer ein gewisses Maß an Frieden und Trost.

Wir dürfen nicht vergessen, dass wir vergeben müssen, damit uns vergeben wird. In einem meiner liebsten Kirchenlieder heißt es: „O, vergib, so wie auch dir hier vergeben wird von mir.“20 Ich glaube mit ganzem Herzen und ganzer Seele an die heilende Kraft, die wir erlangen können, wenn wir dem Rat des Erretters folgen, „dass ihr allen Menschen vergebt“.21 Im Namen Jesu Christi. Amen.

  1. Joan Kern, „A Community Cries“, Lancaster New Era, 4. Oktober 2006, Seite A8

  2. Helen Colwell Adams, „After That Tragic Day, a Deeper Respect among English, Amish?“, Sunday News, 15. Oktober 2006, Seite A1

  3. Matthäus 5:44

  4. „Amish Shooting Victims“, www.800padutch .com/amishvictims.shtml

  5. Suzanne Simon, Forgiveness: How to Make Peace with Your Past and Get On with Your Life, 1990, Seite 19

  6. Marjorie Cortez, „Amish Response to Tragedy Is Lesson in Faith, Forgiveness“, Deseret Morning News, 2. Januar 2007, Seite A13

  7. „Wenn Türen aufgehen und sich schließen“, Der Stern, Januar 1988, Seite 54

  8. Discourses of Brigham Young, Hg. John A. Widtsoe, 1954, Seite 345

  9. Fred Luskin, in Carrie A. Moore, „Learning to Forgive“, Deseret Morning News, 7. Oktober 2006, Seite E1

  10. Jay Evensen, „Forgiveness Is Powerful but Complex“, Deseret Morning News, 4. Februar 2007, Seite G1

  11. LuB 64:9,10

  12. In „My Journey to Forgiving“, Ensign, Februar 1997, Seite 43

  13. Donald Kraybill, in Colby Itkowitz, „Flowers, Prayers, Songs: Families Meet at Roberts’ Burial“, Intelligence Journal, 9. Oktober 2006, Seite A1

  14. Siehe Pat Reavy, „Crash Victim Issues a Call for Forgiveness“, Deseret Morning News, 13. Februar 2007, Seite A1

  15. LuB 64:10

  16. Orson F. Whitney, Gospel Themes, 1914, Seite 144

  17. Siehe Alma 42:25

  18. Deseret Morning News, 13. Februar 2007, Seite A8

  19. Joseph-Smith-Übersetzung, Matthäus 6:13

  20. „Reverently and Meekly Now“, Hymns, Nr. 185

  21. LuB 64:10