„Bin ich es etwa, Herr?“
Wir müssen unseren Stolz beiseitelegen, über unsere Eitelkeit hinausblicken und in Demut fragen: „Bin ich es etwa, Herr?“
Es war die letzte Nacht unseres geliebten Heilands auf Erden, der Abend, bevor er sich selbst als Lösegeld hingab für die gesamte Menschheit. Als er mit seinen Jüngern das Brot brach, sagte er etwas, was sie maßlos bestürzt und zutiefst traurig gestimmt haben muss. „Einer von euch wird mich verraten“, verkündete er.
Die Jünger stellten seine Worte nicht in Frage. Sie blickten sich nicht um, zeigten nicht auf jemand anderen und fragten auch nicht: „Ist der es etwa?“
Stattdessen „waren sie sehr betroffen und einer nach dem andern fragte ihn: Bin ich es etwa, Herr?“
Ich frage mich, was wir wohl machen würden, wenn uns der Erretter diese Frage stellte. Würden wir die Umsitzenden anschauen und uns innerlich sagen: „Wahrscheinlich meint er Bruder Hansen. Bei dem war ich mir nie so ganz sicher.“? Oder: „Gut, dass Bruder Braun da ist. Das musste ja mal gesagt werden!“? Oder würden wir, wie einst die Jünger, in uns schauen und uns die schmerzliche Frage stellen: „Bin ich es etwa?“
In diesen einfachen Worten – „Bin ich es etwa, Herr?“ – liegt der Beginn aller Weisheit und des schmalen Pfades, der zur eigenen Bekehrung und zu dauerhafter Veränderung führt.
Das Gleichnis vom Löwenzahn
Es war einmal ein Mann, der jeden Abend gerne einen Spaziergang in der Nachbarschaft unternahm. Besonders freute er sich immer, wenn er am Haus seines Nachbarn vorbeikam. Dieser Nachbar hielt seinen Rasen einmalig in Schuss. Immerzu blühten Blumen, und die Bäume waren gesund und spendeten Schatten. Offensichtlich gab sich der Nachbar die größte Mühe, einen ansehnlichen Rasen vorweisen zu können.
Eines Tages aber fiel dem Mann, als er am Haus seines Nachbarn vorbeikam, mitten auf dem schönen Rasen ein einzelner, riesiger gelber Löwenzahn auf.
Dieser wirkte so fehl am Platze, dass er richtiggehend überrascht war. Warum rupfte der Nachbar ihn nicht aus? Sah er das denn nicht? Wusste er denn nicht, dass Löwenzahn sich wie Unkraut ausbreitet und bald dutzende weitere Pflanzen dort Wurzel fassen könnten?
Dieser einzelne Löwenzahn ärgerte den Mann über die Maßen, und er wollte etwas unternehmen. Sollte er ihn einfach ausreißen oder ihn mit Unkrautvernichter besprühen? Vielleicht könnte er ihn im Schutze der Dunkelheit heimlich, still und leise entfernen.
Völlig in derlei Gedanken versunken näherte er sich seinem eigenen Haus. Ohne seinen eigenen Vorgarten auch nur eines Blickes zu würdigen, ging er hinein – dieser aber war mit hunderten gelben Löwenzahnblüten übersät.
Balken und Splitter
Erinnert uns diese Geschichte nicht an die Worte des Erlösers?
„Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? …
Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.“
Die Sache mit dem Balken und dem Splitter scheint eng mit unserem Unvermögen zusammenzuhängen, uns selbst klar zu erkennen. Ich weiß nicht recht, warum wir die Schwachstellen anderer so schnell erfassen und gleich ein Heilmittel zur Hand haben, während uns die eigenen oft Mühe bereiten.
Vor einigen Jahren wurde in den Nachrichten von einem Mann berichtet, der glaubte, er wäre für Kameras unsichtbar, wenn er sich Zitronensaft ins Gesicht schmierte. So zog er also mit Zitronensaft im Gesicht los und raubte zwei Banken aus. Wenig später wurde er festgenommen, nachdem sein Bild in den Abendnachrichten erschienen war. Als die Polizei ihm die Aufnahmen der Überwachungskameras zeigte, traute er seinen Augen nicht. „Aber ich hatte doch Zitronensaft im Gesicht!“, protestierte er.
Als ein Wissenschaftler an der Cornell University von der Sache erfuhr, fesselte ihn der Gedanke, wie einem Menschen seine eigene Unzulänglichkeit so unglaublich wenig bewusst sein konnte. Um zu ermitteln, ob es sich hier um eine verbreitete Störung handelte, ließen zwei Forscher College-Studenten an einer Reihe von Tests in verschiedenen Lebensbereichen teilnehmen und baten sie dann, ihre eigene Leistung zu bewerten. Den Studenten, die schlecht abschnitten, gelang es am wenigsten, ihre Leistung zu bewerten. Manche dachten, sie hätten fünf Mal so viele Punkte erreicht, wie es tatsächlich waren.
Die Studie wurde in mehreren Varianten durchgespielt, aber immer mit demselben Ergebnis: Vielen fällt es schwer, sich selbst so zu sehen, wie sie wirklich sind, und auch die Erfolgreichen überschätzen ihren eigenen Beitrag und unterschätzen das, was andere leisten.
Es ist vielleicht nicht weiter schlimm, wenn man sich darin verschätzt, wie gut man Auto fährt oder wie weit man einen Golfball schlagen kann. Aber wenn wir anfangen, uns einzubilden, dass unsere Leistung zu Hause, bei der Arbeit oder in der Kirche größer sei, als sie wirklich ist, werden wir blind gegenüber Segnungen und Chancen, spürbar und gründlich besser zu werden.
Ein blinder Fleck im geistigen Bereich
Einer meiner Bekannten wohnte einmal im Gebiet einer Gemeinde mit statistischen Höchstwerten – die Anwesenheitszahlen waren hoch, die Heimlehrquote war hoch, die PV-Kinder benahmen sich stets ordentlich, beim gemeinsamen Essen gab es ausgezeichnete Mahlzeiten, von denen kaum etwas auf dem Boden landete, und an den Tanzabenden gab es meines Wissens nie irgendwelche Unstimmigkeiten.
Eines Tages wurden mein Bekannter und seine Frau auf Mission berufen. Als sie drei Jahre später zurückkehrten, waren die beiden überrascht, dass sich in ihrer Abwesenheit elf Ehepaare hatten scheiden lassen.
Obwohl nach außen hin alle Anzeichen dafür sprachen, dass diese Gemeinde großen Glauben hatte und sehr stark war, verlief doch im Herzen und im Leben der Mitglieder manches recht unglücklich. Das Bedrückende daran ist, dass diese Situation kein Einzelfall ist. Solche schrecklichen, oftmals völlig unnötigen Ergebnisse treten ein, wenn sich Mitglieder der Kirche von den Grundsätzen des Evangeliums lösen. Nach außen hin mögen sie wie Jünger Jesu Christi erscheinen, aber in ihrem Herzen haben sie sich von ihrem Heiland und seinen Lehren getrennt. Sie haben sich allmählich von den Dingen des Geistes abgewandt und sich den Dingen der Welt zugewandt.
Einstmals würdige Priestertumsträger reden sich ein, dass die Kirche für Frauen und Kinder eine gute Sache sei, aber nicht für sie. Manche sind auch davon überzeugt, dass sie aufgrund ihres vollen Terminkalenders oder einzigartiger Umstände von den täglichen Beweisen ihrer Gottesfurcht und ihrer Hilfsbereitschaft, durch die sie dem Geist nahe bleiben würden, befreit wären. In einer Zeit voller Selbstgerechtigkeit und Narzissmus wird man sehr schnell recht einfallsreich, wenn es um Ausreden geht, weshalb man sich Gott nicht regelmäßig im Gebet naht, das Studium der heiligen Schriften aufschiebt, Versammlungen in der Kirche oder dem Familienabend fernbleibt oder nicht ehrlich seinen Zehnten und seine Opfergaben zahlt.
Meine lieben Brüder, bitte werfen Sie einen Blick in Ihr Herz und stellen Sie sich die einfache Frage: „Bin ich es etwa, Herr?“
Sind Sie – und sei es auch nur geringfügig – vom „Evangelium … des seligen Gottes, das [Ihnen] anvertraut ist“, abgekommen? Haben Sie es dem „Gott dieser Weltzeit“ gestattet, den „Glanz der Heilsbotschaft … Christi“ verblassen zu lassen?
Meine lieben Freunde, liebe Brüder, fragen Sie sich, wo Ihr Schatz liegt!
Haben Sie sich innerlich auf die Annehmlichkeiten dieser Welt verlegt, oder richten Sie sich an den Worten Jesu Christi, der so eifrig diente, aus? „Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.“
Wohnt der Geist Gottes in Ihrem Herzen? Sind Sie in der Liebe zu Gott und zu Ihren Mitmenschen „verwurzelt und auf sie gegründet“? Bringen Sie genügend Zeit und Einfallsreichtum auf, um Ihre Ehe und Ihre Familie glücklich zu machen? Widmen Sie all Ihre Energie dem erhabenen Ziel, „die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe“ des wiederhergestellten Evangeliums Jesu Christi zu ermessen und danach zu leben?
Brüder, wenn Sie den großen Wunsch haben, sich die christlichen Eigenschaften „[Glaube], Tugend, Erkenntnis, Mäßigung, Geduld, brüderliches Wohlwollen, Gottesfurcht, Nächstenliebe, Demut [und Hilfsbereitschaft]“ anzueignen, dann wird der Vater im Himmel Sie zu einem Instrument in seinen Händen machen, auf dass viele Seelen errettet werden.
Das geprüfte Leben
Brüder, niemand gibt gerne zu, wenn er vom rechten Weg abgekommen ist. Oft scheuen wir den tiefen Blick in unsere Seele, wo wir unseren Schwächen, Grenzen und Ängsten begegnen. Wenn wir dann unser Leben prüfen, betrachten wir es folglich durch einen verzerrten Filter voller Ausflüchte und Geschichten, die wir uns einreden, um unwürdige Gedanken und unwürdiges Verhalten zu rechtfertigen.
Sich selbst klar erkennen zu können, ist jedoch von entscheidender Bedeutung für unser geistiges Wachstum und Wohlbefinden. Wenn unsere Schwächen und Unzulänglichkeiten versteckt im Schatten bleiben, kann die erlösende Macht des Erretters nicht heilend eingreifen und sie in Stärken verwandeln. Die Ironie an der Sache ist, dass diese Blindheit gegenüber unseren menschlichen Schwächen uns dann auch gegenüber dem göttlichen Potenzial blind macht, das unser Vater so sehnlich in uns weiterentwickeln möchte.
Wie können wir also das reine Licht der göttlichen Wahrheit in uns einströmen lassen und uns so sehen, wie Gott uns sieht?
Ich meine, dass wir in den heiligen Schriften und den Ansprachen, die bei der Generalkonferenz gehalten werden, einen zuverlässigen Spiegel haben, in dem wir uns prüfen können.
Wenn Sie die Worte der Propheten aus alter und neuer Zeit hören oder lesen, verzichten Sie auf Gedanken, was diese Worte mit anderen zu tun haben, und fragen Sie sich stattdessen: „Bin ich es etwa, Herr?“
Wir müssen uns unserem ewigen Vater mit reuigem Herzen und belehrbarem Geist nahen. Wir müssen bereit sein, zu lernen und uns zu ändern. Ach, wie viel gewinnen wir doch, wenn wir uns verpflichten, das Leben zu führen, das unser Vater im Himmel für uns im Sinn hat!
Wer nicht lernen und sich nicht ändern will, der wird es vermutlich auch nicht, sondern wird sich höchstwahrscheinlich fragen, ob die Kirche ihm überhaupt etwas zu bieten hat.
Wer aber besser werden und Fortschritt machen will, wer den Erretter kennenlernt und wie er sein will, wer sich demütigt wie ein kleines Kind und seine Gedanken und sein Verhalten mit dem Vater im Himmel in Einklang bringen möchte – der wird das Wunder des Sühnopfers unseres Heilands erleben. Er wird gewiss den strahlenden Geist Gottes spüren. Er wird die unbeschreibliche Freude schmecken, die die Frucht eines sanftmütigen und demütigen Herzens ist. Er wird mit dem Wunsch gesegnet werden, ein wahrer Jünger Jesu Christi zu werden, und mit der Selbstdisziplin, die man dazu braucht.
Die Macht des Guten
Im Laufe meines Lebens durfte ich einige der fähigsten und intelligentesten Menschen kennenlernen, die es auf dieser Welt gibt. Als ich noch jung war, war ich beeindruckt, wenn jemand gebildet, kultiviert und erfolgreich war oder den Beifall der Welt fand. Mit den Jahren aber ist mir bewusst geworden, dass mich doch all die wunderbaren und gesegneten Seelen weitaus mehr beeindrucken, die wahrhaft gut und ohne Falsch sind.
Geht es beim Evangelium nicht genau darum? Ist das nicht seine Wirkung? Es ist eine gute Nachricht, und sie hilft uns, gut zu werden.
Was der Apostel Jakobus gesagt hat, gilt auch heute:
„Gott tritt den Stolzen entgegen, den Demütigen aber schenkt er seine Gnade. …
Demütigt euch vor dem Herrn; dann wird er euch erhöhen.“
Brüder, wir müssen unseren Stolz beiseitelegen, über unsere Eitelkeit hinausblicken und in Demut fragen: „Bin ich es etwa, Herr?“
Sollte die Antwort des Herrn dann lauten: „Ja, mein Sohn, es gibt einiges, wo du besser werden musst und bei dessen Überwindung ich dir helfen kann“, dann nehmen wir diese Antwort hoffentlich an, gestehen uns demütig unsere Sünden und Unzulänglichkeiten ein und ändern dann unser Verhalten, indem wir ein besserer Ehemann, besserer Vater oder besserer Sohn werden. Mögen wir von nun an mit aller Macht danach trachten, standhaft dem gesegneten Weg unseres Heilands zu folgen – denn Weisheit beginnt damit, dass wir uns selbst klar erkennen.
Großzügig, wie unser Gott ist, wird er uns dann an der Hand nehmen; wir werden „stark gemacht und aus der Höhe gesegnet werden“.
Meine lieben Freunde, der erste Schritt auf dem wundersamen und erfüllenden Weg eines wahren Jüngers beginnt mit der einfachen Frage:
„Bin ich es etwa, Herr?“
Davon lege ich Zeugnis ab und gebe Ihnen meinen Segen im Namen Jesu Christi. Amen.