2010–2019
Auf den Verlorenen warten
April 2015


10:24

Auf den Verlorenen warten

Mögen wir durch Offenbarung erkennen, wie wir auf die Menschen in unserem Leben, die verlorengegangen sind, am besten zugehen können.

Der Herr Jesus Christus hat während seines irdischen Wirkens oft über seine heilende und erlösende Macht gesprochen. Bei einer Begebenheit, die wir in Kapitel 15 des Lukasevangeliums im Neuen Testament nachlesen können, wurde er dafür kritisiert, dass er sich mit Sündern abgab und sogar mit ihnen speiste (siehe Lukas 15:2). Der Heiland nahm diesen Vorwurf zum Anlass, uns allen zu erklären, wie wir mit denjenigen umgehen sollen, die vom Weg abgekommen sind.

Als Reaktion stellte er seinen Kritikern zwei wichtige Fragen:

„Wenn einer von euch hundert Schafe hat und eins davon verliert, lässt er dann nicht die neunundneunzig in der Steppe zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet?“ (Lukas 15:4.)

„Wenn eine Frau zehn Drachmen hat und eine davon verliert, zündet sie dann nicht eine Lampe an, fegt das ganze Haus und sucht unermüdlich, bis sie das Geldstück findet?“ (Lukas 15:8.)

Dann erzählte der Herr das Gleichnis vom verlorenen Sohn. In diesem Gleichnis geht es nicht um hundert Schafe oder zehn Silbermünzen; es geht um einen wertvollen Sohn, der da verlorengeht. Was lehrt uns der Erretter durch dieses Gleichnis darüber, wie wir reagieren sollen, wenn jemand aus unserer Familie vom Weg abkommt?

Der verlorene Sohn sagt zu seinem Vater, er wolle sein Erbteil ausgezahlt bekommen, und zwar sofort. Er will die Geborgenheit seines Elternhauses und der Familie verlassen und weltliche Ziele verfolgen (siehe Lukas 15:12,13). Achten Sie darauf, wie liebevoll der Vater im Gleichnis des Heilands reagiert und dem Sohn dessen Erbteil übergibt. Bestimmt hat der Vater nichts unversucht gelassen, um seinen Sohn zum Bleiben zu überreden. Doch nachdem der erwachsene Sohn seine Entscheidung getroffen hat, lässt sein weiser Vater ihn ziehen. Der Vater zeigt weiterhin aufrichtige Liebe, er hält Ausschau und wartet (siehe Lukas 15:20).

In unserer Familie haben wir etwas Ähnliches erlebt. Meine beiden gläubigen Brüder, unsere großartige Schwester und ich wurden von vorbildlichen Eltern erzogen. Uns wurde zu Hause das Evangelium gelehrt, aus Kindern wurden schließlich Erwachsene und wir vier wurden im Tempel an unseren jeweiligen Ehepartner gesiegelt. 1994 zeigte sich unsere Schwester Susan jedoch von der Kirche und einigen ihrer Lehren desillusioniert. Sie ließ sich von Leuten beeinflussen, die über die früheren Führer der Kirche herzogen und Kritik an ihnen übten. Sie ließ zu, dass ihr Glaube an lebende Propheten und Apostel schwächer wurde. Mit der Zeit wurden die Zweifel stärker als der Glaube und sie beschloss, die Kirche zu verlassen. Susan hat mir gestattet, ihre Geschichte zu erzählen, in der Hoffnung, es möge anderen helfen.

Meine Brüder, unsere verwitwete Mutter und ich waren am Boden zerstört. Wir konnten uns gar nicht vorstellen, was Susan dazu gebracht haben konnte, sich von ihrem Glauben loszusagen. Die Entscheidungen meiner Schwester bereiteten meiner Mutter großen Kummer.

Meine Brüder und ich waren schon Bischof oder Kollegiumspräsident gewesen. Wir hatten mit Mitgliedern der Gemeinde oder des Kollegiums erlebt, wie schön es ist, wenn man die neunundneunzig zurücklässt, nach dem einen sucht und es zurückbringt. Bei unserer Schwester führten unsere beharrlichen Versuche, sie zu retten und einzuladen, doch zurückzukommen, jedoch nur dazu, dass sie sich immer weiter von uns entfernte.

Als wir uns um göttliche Führung bemühten, um zu wissen, wie wir uns ihr gegenüber richtig verhalten sollten, wurde uns klar, dass wir dem Beispiel des Vaters aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn folgen mussten. Susan hatte ihre Entscheidung getroffen und wir mussten sie gewissermaßen ziehen lassen – nicht aber, ohne sie wissen und spüren zu lassen, dass wir sie aufrichtig lieb hatten. Und so hielten wir mit erneuerter Liebe und Güte Ausschau und warteten.

Meine Mutter hörte nie auf, Susan zu lieben und sich um sie zu sorgen. Bei jedem Tempelbesuch setzte sie Susans Name auf die Gebetsliste und verlor nie die Hoffnung. Mein älterer Bruder und seine Frau, die in Kalifornien und somit am dichtesten bei Susan wohnten, luden sie zu sämtlichen Familienfeiern ein. Jedes Jahr bereiteten sie bei sich zu Hause ein Geburtstagsessen für Susan vor. Sie achteten darauf, stets mit Susan in Verbindung zu bleiben und dass sie wusste, dass sie sie wirklich lieb hatten.

Mein jüngerer Bruder und seine Frau pflegten eine gute Beziehung zu Susans Kindern, die in Utah lebten. Sie kümmerten sich um sie und hatten sie gern. Sie luden Susans Kinder immer zu allen Familientreffen ein, und als es so weit war, dass Susans Enkelin sich taufen lassen wollte, war mein Bruder an Ort und Stelle, um die Taufe vorzunehmen. Susan hatte auch liebevolle Heimlehrer und Besuchslehrerinnen, die nie aufgaben.

Wenn eines unserer Kinder auf Mission ging oder heiratete, wurde Susan stets zur Familienfeier eingeladen und kam auch. Wir haben Famillienfeste immer möglichst so organisiert, dass Susan und ihre Kinder dabei sein konnten. Sie sollten wissen, dass wir sie lieb hatten und dass sie zur Familie gehörten. Als Susan einen Abschluss an einer Universität in Kalifornien erhielt, kamen wir alle zu den Feierlichkeiten, um sie zu unterstützen. Auch wenn wir nicht hinter all ihren Entscheidungen standen, so konnten wir doch auf jeden Fall hinter ihr stehen. Wir zeigten unsere Liebe, hielten Ausschau und warteten.

2006 waren 12 Jahre vergangen, seit Susan die Kirche verlassen hatte. In diesem Jahr zogen unsere Tochter Katy und ihr Mann nach Kalifornien, damit unser Schwiegersohn dort Jura studieren konnte. Sie wohnten in derselben Stadt wie Susan. Das junge Paar bat seine Tante Susan ab und an um Hilfe, und beide hatten sie lieb. Susan passte öfter auf unsere zweijährige Enkelin Lucy auf. Sie half ihr sogar, das Abendgebet zu sprechen. Eines Tages rief Katy mich an und fragte, ob ich es für möglich hielte, dass Susan eines Tages wieder in die Kirche zurückkehren würde. Ich versicherte ihr, dass ich daran glaubte und wir nur weiter geduldig sein müssten. Weitere drei Jahre vergingen, in denen wir voller Liebe Ausschau hielten und warteten.

Vor genau sechs Jahren saßen meine Frau Marcia und ich in der ersten Reihe in diesem Konferenzzentrum. Ich sollte damals als neue Generalautorität bestätigt werden. Marcia, die stets eine enge Verbindung zum Geist hat, schrieb mir eine kleine Notiz: „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Susan zurückkommt.“ Meine Tochter Katy schlug vor, ich könne doch kurz hinausgehen, Susan anrufen und sie fragen, ob sie sich nicht die Konferenz an diesem Tag anschauen wolle.

Ermuntert von diesen beiden großartigen Frauen ging ich ins Foyer und rief meine Schwester an. Ich bekam nur ihre Mailbox zu fassen und hinterließ ihr einfach die Bitte, sie möge sich diese Versammlung der Generalkonferenz anschauen. Sie hörte meine Nachricht ab. Zu unser aller Freude hatte sie das Gefühl, sie solle sich sämtliche Versammlungen der Konferenz anschauen. Sie lauschte den Worten von Propheten und Aposteln, die ihr früher einmal viel bedeutet hatten. Sie hörte auch das erste Mal neue Namen wie Präsident Uchtdorf, Elder Bednar, Elder Cook, Elder Christofferson und Elder Andersen. Während dieser Konferenz und auch anderer besonderer Erlebnisse, die der Himmel geschickt hatte, ging meine Schwester – genau wie der verlorene Sohn – in sich (siehe Lukas 15:17). Die Worte der Propheten und Apostel und die Liebe ihrer Familie brachten sie dazu, umzukehren und sich auf den Nachhauseweg zu begeben. Nach 15 Jahren war unsere Tochter und Schwester, die verlorengegangen war, wiedergefunden worden. Das Ausschauen und Warten hatte ein Ende.

Susan beschreibt diese Erfahrung so, wie auch Lehi es im Buch Mormon beschrieben hat. Sie hatte die eiserne Stange losgelassen und befand sich in einem Nebel der Finsternis (siehe 1 Nephi 8:23). Sie erklärt, sie hätte gar nicht gewusst, dass sie verloren gewesen war, bis ihr Glaube durch das Licht Christi neu entfacht wurde, ein Licht, das sie den starken Kontrast zwischen dem, was sie in der Welt erlebte, und dem, was der Herr und ihre Familie ihr anboten, klar erkennen ließ.

In den letzten sechs Jahren ist ein Wunder geschehen. Susan hat wieder ein Zeugnis vom Buch Mormon erlangt. Sie besitzt einen Tempelschein. Sie war Verordnungsarbeiterin im Tempel und unterrichtet derzeit die Evangeliumslehreklasse in ihrer Gemeinde. Die Schleusen des Himmels haben sich ihren Kindern und Enkelkindern geöffnet, und obwohl es auch schwerwiegende Folgen gegeben hat, scheint es fast, als hätte sie die Kirche nie verlassen.

Wie die Familie Nielson haben auch viele von Ihnen Angehörige, die zeitweilig vom Weg abgekommen sind. Der Herr hat alle diejenigen, die hundert Schafe haben, angewiesen, die neunundneunzig zurückzulassen und nach dem verlorenen zu suchen und es zu retten. Denjenigen, die zehn Silbermünzen haben und eine verlieren, sagt er, sie sollen danach suchen, bis sie sie wiederfinden. Wenn derjenige, der verlorengegangen ist, Ihr Sohn oder Ihre Tochter, Ihr Bruder oder Ihre Schwester ist und sich entschieden hat, die Kirche zu verlassen, so haben wir in unserer Familie dies gelernt: Nach allem, was wir tun können, lieben wir den Betreffenden von ganzem Herzen. Wir halten Ausschau, beten und warten, bis der Herr seine Hand offenbart.

Die vielleicht wichtigste Lektion, die der Herr mir während dieser ganzen Entwicklungen erteilte, erhielt ich beim Schriftstudium mit der Familie. Meine Schwester hatte zu dem Zeitpunkt die Kirche bereits verlassen. Unser Sohn David las gerade vor, als wir uns mit dem Lukasevangelium, Kapitel 15, befassten. Als er das Gleichnis vom verlorenen Sohn vorlas, brachte es plötzlich eine Saite zum Klingen, die ich noch nie zuvor vernommen hatte. Aus irgendeinem Grund hatte ich mich immer als der Sohn gesehen, der zu Hause geblieben war. Als David uns jedoch an jenem Morgen vorlas, erkannte ich, dass ich in gewisser Weise der verlorene Sohn war. Wir alle haben die Herrlichkeit Gottes verloren (siehe Römer 3:23). Wir alle brauchen das Sühnopfer Christi, damit wir geheilt werden. Wir alle sind verloren und müssen gefunden werden. Diese Offenbarung ließ mich damals erkennen, dass wir beide – meine Schwester und ich – die Liebe und das Sühnopfer des Erretters brauchten. Susan und ich waren eigentlich auf demselben Nachhauseweg.

Wie der Erretter in seinem Gleichnis beschreibt, auf welche Weise der Vater den verlorenen Sohn in Empfang nimmt, ist äußerst beeindruckend. Ich glaube, Ähnliches werden wir mit unserem Vater im Himmel erleben, wenn wir in unser himmlisches Zuhause zurückkehren. Die Worte zeugen von einem Vater, der uns liebt, auf uns wartet und nach uns Ausschau hält. Der Erretter hat dies so geschildert: „Der Vater sah ihn schon von weitem kommen und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“ (Lukas 15:20.)

Mögen wir durch Offenbarung erkennen, wie wir auf die Menschen in unserem Leben, die verlorengegangen sind, am besten zugehen können, und, wenn nötig, die gleiche Liebe und Geduld wie unser Vater im Himmel und sein Sohn Jesus Christus aufbringen, während wir dem Verlorenen Liebe erweisen, nach ihm Ausschau halten und auf ihn warten. Im Namen Jesu Christi. Amen.