„Bleibt in meiner Liebe!“
Gottes Liebe ist endlos und bleibt immerfort bestehen – was das allerdings für jeden Einzelnen von uns bedeutet, hängt davon ab, wie wir diese Liebe erwidern.
In der Bibel lesen wir: „Gott ist die Liebe.“ Auf vollkommene Weise verkörpert er Liebe, und der Mensch verlässt sich stark auf die Beständigkeit und universelle Reichweite der Gottesliebe. Präsident Thomas S. Monson drückt das folgendermaßen aus: „Die Liebe Gottes ist für Sie da, ob Sie diese Liebe nun zu verdienen meinen oder nicht. Sie ist ganz einfach immer vorhanden.“
Diese göttliche Liebe lässt sich auf mannigfache Weise beleuchten und beschreiben. Heutzutage wird Gottes Liebe häufig „bedingungslos“ genannt. Das stimmt zwar in gewissem Sinne, doch kommt der Begriff bedingungslos in den heiligen Schriften nirgends vor. In den Schriften wird die Gottesliebe statt dessen „große und wunderbare Liebe“, „vollkommene Liebe“, erlösende Liebeund ewige Liebe genannt. Solche Beschreibungen sind zutreffender, da der Ausdruck bedingungslos einen falschen Eindruck von der Liebe Gottes vermitteln könnte – etwa, dass Gott alles und jedes toleriert und alles gutheißt, was wir tun, weil seine Liebe ja bedingungslos ist, dass er uns nichts abverlangt, weil seine Liebe ja bedingungslos ist, oder dass alle im Himmelreich Gottes errettet werden, weil Gottes Liebe ja bedingungslos ist. Gottes Liebe ist endlos und bleibt immerfort bestehen – was das allerdings für jeden Einzelnen von uns bedeutet, hängt davon ab, wie wir diese Liebe erwidern.
Jesus hat gesagt:
„Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe!
Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe.“
In der Liebe des Heilands zu „bleiben“ ist gleichbedeutend damit, dass wir seine Gnade empfangen und durch sie vervollkommnet werden. Um seine Gnade zu empfangen, müssen wir Glauben an Jesus Christus haben und seine Gebote halten, wozu gehört, dass wir von unseren Sünden umkehren, uns zur Sündenvergebung taufen lassen, den Heiligen Geist empfangen und weiterhin gehorsam auf seinen Wegen wandeln.
Gott liebt uns immer, aber in unseren Sünden kann er uns nicht erretten. Denken Sie an die Worte Amuleks an Zeezrom, dass der Heiland sein Volk nicht in dessen Sünden erlöse, sondern von dessen Sünden, da uns ja Sünde unrein macht und „nichts Unreines … das Himmelreich ererben“ oder in der Gegenwart Gottes bestehen kann. „Und [Christus] ist Macht gegeben vom Vater, [sein Volk] von [dessen] Sünden zu erlösen infolge von Umkehr; darum hat er seine Engel gesandt, die Nachricht von den Bedingungen der Umkehr zu verkünden, die zur Macht des Erlösers führt, zur Errettung ihrer Seele.“
Aus dem Buch Mormon lernen wir, dass der Zweck hinter dem Leiden Christi – dem allerhöchsten Beweis seiner Liebe – darin besteht, „jenes herzliche Erbarmen zuwege zu bringen, das die Gerechtigkeit überwältigt und für den Menschen Mittel zuwege bringt, damit er Glauben zur Umkehr haben kann.
Und so kann die Barmherzigkeit die Forderungen der Gerechtigkeit befriedigen und umschließt ihn mit den Armen der Sicherheit, während derjenige, der keinen Glauben zur Umkehr ausübt, dem ganzen Gesetz mit seinen Forderungen der Gerechtigkeit ausgesetzt ist; darum ist nur für den, der Glauben zur Umkehr hat, der große und ewige Plan der Erlösung zuwege gebracht.“
Umkehr ist also sein Geschenk an uns, erkauft durch einen unermesslich hohen Preis.
Manch einer argumentiert, dass Gott ohne Unterschied jedermann segnet und führt dabei beispielsweise diese Aussage Jesu aus der Bergpredigt an: „[Gott] lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Tatsächlich lässt Gott alle nur möglichen Segnungen auf seine Kinder herabregnen – alle Segnungen, die Liebe und Gesetz und Gerechtigkeit und Gnade zulassen. Und uns gebietet er, ebenso großzügig zu sein:
„Siehe, ich sage euch: Liebt eure Feinde, segnet die, die euch fluchen, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch böswillig behandeln und euch verfolgen,
damit ihr die Kinder eures Vaters seiet, der im Himmel ist.“
Dennoch sind die erhabeneren Segnungen Gottes an unseren Gehorsam geknüpft. Präsident Russell M. Nelson hat erläutert: „Der prächtige Strauß der Gottesliebe – zu dem auch das ewige Leben gehört – schließt Segnungen ein, für die wir uns würdig machen müssen und auf die wir keinen Anspruch haben, wenn wir unwürdig sind. Der Sünder kann den Willen des Herrn nicht seinem eigenen unterordnen und von ihm verlangen, in seinen Sünden gesegnet zu werden [siehe Alma 11:37]. Wer sich jeder einzelnen Blume aus dem prächtigen Strauß erfreuen möchte, muss Umkehr üben.“
Neben der Verheißung, dass der Reumütige am letzten Tag emporgehoben und schuldlos und rein gemacht wird, gibt es einen weiteren entscheidenden Aspekt, der dafür spricht, dass wir in der Liebe Gottes bleiben sollen. Wenn wir in seiner Liebe bleiben, können wir unser volles Potenzial verwirklichen – selbst so werden, wie er ist. Präsident Dieter F. Uchtdorf hat es so erklärt: „Die Gnade Gottes stellt … nicht nur unsere vorherige Unschuld wieder her. … Er hat ein viel höheres Ziel: Er möchte, dass seine Söhne und Töchter wie er werden.“
In der Liebe Gottes zu bleiben heißt also in diesem Zusammenhang, dass wir uns zur Gänze seinem Willen unterordnen. Es bedeutet, nötige Korrekturen anzunehmen: „Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er.“ Es bedeutet, dass wir unsere Mitmenschen so lieben und ihnen so dienen, wie Jesus uns geliebt und uns gedient hat. Es bedeutet, dass wir lernen, „nach dem Gesetz eines celestialen Reiches zu leben“, damit wir in celestialer Herrlichkeit leben können. Damit der Vater im Himmel uns zu dem machen kann, was in uns steckt, bittet er uns eindringlich, „den Einflüsterungen des Heiligen Geistes [nachzugeben] und den natürlichen Menschen [abzulegen] und durch das Sühnopfer Christi, des Herrn, ein Heiliger … und so … wie ein Kind [zu werden], fügsam, sanftmütig, demütig, geduldig, voll von Liebe und willig, sich allem zu fügen, was der Herr für richtig hält, [uns] aufzuerlegen, so wie ein Kind sich seinem Vater fügt“.
Elder Dallin H. Oaks merkt an: „Das Letzte Gericht [ist] nicht nur eine Bewertung all unserer guten und bösen Taten – all dessen, was wir getan haben, … sondern das schließliche Resultat unserer Taten und Gedanken – was wir geworden sind.“
Die Geschichte von Helen Keller zeigt gleichnishaft, wie solch göttliche Liebe eine bereitwillige Seele zu wandeln vermag. Helen wurde 1880 im US-Bundesstaat Alabama geboren. Gerade einmal 19 Monate alt, litt sie an einer nicht weiter diagnostizierten Krankheit, durch die sie blind und taub wurde. Sie war hochintelligent, doch ihr Bestreben, die Welt um sich herum zu deuten und verstehen zu lernen, frustrierte sie immer wieder. Als Helen eines Tages fühlen konnte, dass ihre Familie zum Kommunizieren die Lippen bewegt, statt sich wie sie der Zeichensprache zu bedienen, „geriet sie in Rage, weil sie an der Unterhaltung nicht teilnehmen konnte“. Als Helen sechs Jahre alt war, waren ihr Drang, sich mitzuteilen, und ihre Frustration schon so stark, dass sie „täglich, manchmal sogar stündlich einen Wutanfall hatte“.
Helens Eltern stellten für ihre Tochter eine Erzieherin namens Anne Sullivan an. So, wie wir den Heiland haben, der mit unseren Schwächen mitfühlen kann, so hatte auch Anne bereits unter schweren Behinderungen und Herausforderungen gelitten und verstand daher Helens Schwierigkeiten. Mit fünf Jahren hatte Anne an einer Krankheit gelitten, die ihre Hornhaut schmerzvoll vernarben ließ und durch die sie fast gänzlich erblindete. Als Anne acht Jahre alt war, starb ihre Mutter. Ihr Vater verließ sie und ihren jüngeren Bruder Jimmie. Sie kamen in ein „Armenhaus“, wo die Bedingungen so erbärmlich waren, dass Jimmie drei Monate später verstarb. Anne gab jedoch nie auf und erhielt aufgrund ihrer Hartnäckigkeit einen Platz an der Perkins-Schule für Blinde und Sehbehinderte, an der sie überaus erfolgreich war. Durch eine Operation wurde ihre Sehkraft besser, sodass sie Druckbuchstaben zu lesen vermochte. Als Helen Kellers Vater die Perkins-Schule wegen einer Erzieherin für seine Tochter kontaktierte, fiel die Wahl auf Anne Sullivan.
Zu Beginn war die neue Stelle für Anne alles andere als angenehm: „Helen schlug, zwickte und trat ihre Lehrerin und schlug ihr einen Zahn aus. [Anne] wurde der Situation nur dadurch Herr, dass sie mit [Helen] in ein eigenes Häuschen auf dem Grundstück der Familie Keller zog. Durch Geduld und Konsequenz gewann sie schließlich das Herz und Vertrauen ihres Schützlings.“ Wenn wir beginnen, dem göttlichen Lehrer zu vertrauen, statt uns gegen ihn aufzulehnen, kann auch er auf ähnliche Weise mit uns arbeiten, uns erleuchten und uns in eine neue Wirklichkeit erheben.
Um Helen Begriffe beizubringen, buchstabierte Anne die Bezeichnung für Alltagsgegenstände mit dem Finger auf Helens Handfläche. „[Helen] genoss zwar dieses ‚Fingerspiel‘, verstand es aber erst in jenem berühmten Augenblick, als Anne ‚W-A-S-S-E-R‘ buchstabierte, während sie Wasser über [Helens] Hand laufen ließ. [Helen] schrieb später:
‚Plötzlich wurde mir wie nebelverhangen etwas lang Vergessenes bewusst … und das Mysterium Sprache enthüllte sich mir. Ich wusste, dass mit „W-A_S_S_E_R“ jenes wundervolle kühle Etwas gemeint war, das über meine Hand floss. Dieser zum Leben erweckte Begriff entfachte etwas in meiner Seele, schenkte ihr Licht und Zuversicht, verlieh ihr Freude und Flügel! … Für alles gibt es einen Begriff, und jeder Begriff gebärt neue Gedanken. Als wir ins Haus zurückkehrten, schien jeder Gegenstand …, den ich anfasste, beseelt.“
Helen Keller wurde später für ihre Liebe zur Sprache, für ihren bemerkenswerten Schreibstil und ihre Redekunst bekannt.
In einem Film, der vom Leben Helen Kellers handelt, wird gezeigt, dass ihre Eltern bereits damit zufrieden waren, dass Anne Sullivan es geschafft hatte, ihre wilde Tochter soweit zu zähmen, dass sie nun höflich bei Tisch saß, normal aß und am Ende der Mahlzeit ihre Serviette faltete. Aber Anne ging davon aus, dass Helen zu sehr viel mehr fähig sei und weitreichende Leistungen erbringen sollte. Auch wir sind vielleicht schon ganz zufrieden mit dem bislang Erreichten und damit, dass wir so sind, wie wir sind. Doch unser Heiland erfasst unser herrliches Potenzial, von dem wir derzeit „nur rätselhafte Umrisse“ wahrnehmen. Die Euphorie, die wir verspüren können, wenn sich unser göttliches Potenzial entfaltet, gleicht wohl der Freude, die Helen Keller verspürte, als für sie Begriffe zum Leben erweckt wurden, wodurch sich ihre Seele erhellte und Flügel bekam. Jeder von uns kann Gott lieben und ihm dienen, und jeder ist in der Lage, seinen Mitmenschen ein Segen zu sein. „Wir verkündigen, wie es in der Schrift heißt, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.“
Betrachten wir nun den unermesslich hohen Preis, den diese kostbare Gottesliebe gekostet hat. Jesus hat offenbart, dass er leiden musste, um für unsere Sünden zu sühnen und uns vom Tod – dem zeitlichen wie dem geistigen – zu erlösen, und diese Pein ließ „mich, selbst Gott, den Größten von allen, der Schmerzen wegen zittern und aus jeder Pore bluten und an Leib und Geist leiden – und ich wollte den bitteren Kelch nicht trinken und zurückschrecken“. Seine Qual in Getsemani und am Kreuz war größer als alles, was ein Sterblicher je ertragen könnte. Und doch – aus Liebe zu seinem Vater und zu uns – ertrug er es, und infolgedessen kann er uns nun zugleich Unsterblichkeit und auch ewiges Leben schenken.
Es ist von außerordentlicher Symbolkraft, dass Jesus gerade in Getsemani, der Stätte der Ölpresse, litt und dort „Blut … aus jeder Pore“ quoll. Zur Herstellung von Olivenöl wurden die Oliven damals zunächst dadurch zerquetscht, dass ein großer Stein über sie gerollt wurde. Der entstandene Brei wurde in weiche, lose gewebte Körbe gelegt, die übereinandergestapelt wurden. Ihr Gewicht presste das erste, feinste Öl aus den Oliven heraus. Dann wurde der Druck durch einen großen Balken oder Stamm erhöht, der über die gestapelten Körbe gelegt wurde. Schließlich wurden, um mit erhöhtem Druck selbst die letzten Tropfen Öl noch aus den Früchten zu pressen, an das Ende des Balkens Steine gehängt. Und das Öl, das ganz zu Beginn aus den Oliven fließt, ist tatsächlich blutrot.
Ich denke an den Bericht von Matthäus, der beschreibt, wie der Heiland Getsemani in dieser schicksalshaften Nacht betrat, – dass „ihn Angst und Traurigkeit [ergriff] …
Und er ging ein Stück weiter, warf sich zu Boden und betete: Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“
Dann, als seine Bedrängnis wohl noch heftiger wurde, flehte er ein weiteres Mal um Erleichterung und schließlich, vielleicht auf dem Gipfel seiner Qual, ein drittes Mal. Er ertrug diese Pein, bis der Gerechtigkeit bis zum letzten Tropfen Genüge getan war. Und dies alles nahm er auf sich, um Sie und mich zu erlösen.
Welch kostbares Geschenk doch die Liebe Gottes ist! Erfüllt von dieser Liebe, fragt Jesus: „Wollt ihr nicht jetzt zu mir zurückkommen und von euren Sünden umkehren und euch bekehren, damit ich euch heile?“ Liebevoll versichert er uns: „Siehe, mein Arm der Barmherzigkeit ist euch entgegengestreckt, und wer auch immer kommt, den werde ich empfangen; und gesegnet sind jene, die zu mir kommen.“
Wollen Sie nicht den lieben, der Sie zuerst geliebt hat? Dann halten Sie seine Gebote! Wollen Sie nicht dem ein Freund sein, der sein Leben für seine Freunde hingegeben hat? Dann halten Sie seine Gebote! Wollen Sie nicht in seiner Liebe bleiben und alles empfangen, was er Ihnen so huldreich anbietet? Dann halten Sie seine Gebote! Ich bete darum, dass wir tatsächlich zur Gänze seine Liebe spüren und in ihr bleiben. Im Namen Jesu Christi. Amen.