Generalkonferenz
Gibt es denn keinen Balsam in Gilead?
Herbst-Generalkonferenz 2021


10:24

Gibt es denn keinen Balsam in Gilead?

Die heilende Macht des Erretters beschränkt sich nicht nur auf seine Fähigkeit, uns körperlich zu heilen; wohl noch wichtiger ist seine Fähigkeit, unser Herz zu heilen

Kurz nach meiner Vollzeitmission, als Student an der Brigham-Young-Universität, erhielt ich einen Anruf von meinem Vater. Er sagte mir, bei ihm sei Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert worden. Obwohl seine Überlebenschancen nicht gut standen, war er entschlossen, gesund zu werden und seine alltäglichen Aktivitäten wieder aufzunehmen. Das Telefonat war sehr ernüchternd für mich. Mein Vater war mein Bischof gewesen, mein Freund und Berater. Für meine Mutter, meine Geschwister und mich sah der Blick in die Zukunft düster aus. Mein jüngerer Bruder Dave war auf einer Vollzeitmission in New York und erlebte die schwierigen Familienereignisse aus der Ferne.

Die zuständigen Ärzte damals schlugen vor, zu versuchen, die Ausbreitung des Krebses mit einer Operation einzudämmen. Unsere Familie fastete und betete um ein Wunder. Ich hatte das Gefühl, unser Glaube sei ausreichend, dass mein Vater geheilt würde. Vor der Operation gaben mein älterer Bruder Norm und ich meinem Vater einen Segen. Mit allem Glauben, den wir aufbringen konnten, beteten wir, er möge geheilt werden.

Die Operation sollte viele Stunden dauern. Doch nach nur kurzer Zeit kam der Arzt ins Wartezimmer, um mit unserer Familie zu sprechen. Er teilte uns mit, dass gleich zu Beginn der OP zu erkennen war, dass der Krebs sich über den gesamten Körper ausgebreitet hatte. Der Prognose nach hatte mein Vater nur noch ein paar Monate zu leben. Wir waren am Boden zerstört.

Als mein Vater von der OP aufwachte, wollte er unbedingt wissen, ob sie erfolgreich gewesen sei. Wir überbrachten ihm die bittere Nachricht.

Wir fasteten und beteten weiter um ein Wunder. Als sich der Gesundheitszustand meines Vater rasch verschlechterte, begannen wir zu beten, er möge keine Schmerzen haben. Als sich sein Zustand schließlich weiter verschlimmerte, baten wir den Herrn, er möge ihm erlauben, schnell aus dem Leben zu gehen. Nur wenige Monate nach der Operation verstarb mein Vater, wie der Chirurg es vorausgesagt hatte.

Die Mitglieder der Gemeinde und Freunde der Familie standen uns liebevoll zur Seite. Wir ehrten das Leben meines Vaters in einer schönen Trauerfeier. Als jedoch die Zeit verging und wir den Schmerz verspürten, den die Abwesenheit meines Vater hinterließ, begann ich mich zu fragen, warum mein Vater nicht geheilt worden war. Ich fragte mich, ob mein Glaube nicht groß genug gewesen war. Warum erhielten manche Familien ein Wunder, unsere Familie jedoch nicht? Auf meiner Mission hatte ich gelernt, in den heiligen Schriften nach Antworten zu suchen. Also begann ich, in den Schriften zu forschen.

Im Alten Testament liest man von einem aromatischen Gewürz oder Harz, das zur Heilung von Wunden genutzt wurde und aus einem Strauch gewonnen wurde, der in Gilead wuchs. Die gewonnene Salbe wurde als „Balsam aus Gilead“ bekannt.1 Der Prophet Jeremia beklagte das Unheil, das er unter seinem Volk beobachtete, und hoffte auf Heilung. Jeremia fragte sich: „Gibt es denn keinen Balsam in Gilead, ist dort kein Wundarzt?“2 In der Literatur, Musik und Kunst wird der Erretter Jesus Christus wegen seiner bemerkenswerten heilenden Macht häufig als „Balsam aus Gilead“ bezeichnet. Wie Jeremia fragte ich mich: „Gibt es denn für die Familie Nielson keinen Balsam in Gilead?“

In Kapitel 2 des Markusevangeliums befindet sich der Erretter in Kafarnaum. Die heilende Macht des Erretters hatte sich im Land herumgesprochen, und viele Menschen machten sich auf den Weg nach Kafarnaum, um vom Erretter geheilt zu werden. Um das Haus, in dem sich der Erretter befand, hatten sich so viele Menschen versammelt, dass es nicht genug Platz für alle gab. Vier Männer trugen einen Gelähmten herbei, damit der Erretter ihn heilen könne. Da sie sich keinen Weg durch die Menschenmenge bahnen konnten, deckten sie das Dach des Hauses ab und ließen den Mann auf seiner Liege zum Erretter hinab.

Beim Lesen des Berichts überraschten mich die Worte, die der Erretter zu dem Mann sprach: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“3 Wäre ich anstelle einer der vier Männer gewesen, die den Gelähmten getragen hatten, hätte ich dem Erretter womöglich gesagt: „Wir haben ihn eigentlich hierhergebracht, damit er geheilt wird.“ Ich denke, der Erretter hätte erwidert: „Ich habe ihn geheilt.“ Hatte ich es womöglich noch nicht richtig verstanden – nämlich dass sich die heilende Macht des Erretters nicht nur auf seine Fähigkeit beschränkt, uns körperlich zu heilen? Dass es wohl noch wichtiger ist, dass er unser Herz und die gebrochenen Herzen in meiner Familie heilen kann?

Durch diese Begebenheit lehrte der Erretter etwas Wichtiges, und schließlich heilte er den Mann auch körperlich. Mir wurde klar, wie seine Botschaft lautet: Er kann die Augen der Blinden berühren, und sie können sehen. Er kann die Ohren der Tauben berühren, und sie können hören. Er kann die Beine der Gelähmten berühren, und sie können gehen. Er kann unsere Augen, Ohren und Beine heilen, doch vor allem kann er unser Herz heilen, wenn er uns von Sünde reinigt und uns in schweren Zeiten aufrichtet.

Als der Erretter nach seiner Auferstehung dem Volk im Buch Mormon erscheint, spricht er ebenfalls von seiner heilenden Macht. Die Nephiten vernehmen seine Stimme aus dem Himmel, die fragt: „Wollt ihr nicht jetzt zu mir zurückkommen und von euren Sünden umkehren und euch bekehren, damit ich euch heile?“4 Später erklärt er: „Denn ihr wisst nicht, ob sie nicht zurückkommen und umkehren und mit voller Herzensabsicht zu mir kommen und ich sie heilen werde.“5 Der Erretter bezieht sich nicht auf die körperliche Heilung, sondern auf die geistige Heilung ihrer Seele.

Mit den Worten seines Vaters Mormon vertieft Moroni unser Verständnis. Nachdem er zuvor über Wunder gesprochen hat, erläutert Mormon: „Und Christus hat gesagt: Wenn ihr Glauben an mich habt, werdet ihr Macht haben, alles zu tun, was mir ratsam ist.“6 Ich habe erfahren, dass mein Glaube auf Jesus Christus gerichtet sein muss und ich annehmen muss, was ihm ratsam ist, wenn ich meinen Glauben an ihn ausübe. Ich verstehe jetzt, dass das Ableben meines Vaters für den Plan Gottes ratsam war. Wenn ich nun jemandem die Hände auflege, um ihn zu segnen, setze ich meinen Glauben in Jesus Christus, mit dem Verständnis, dass jemand körperlich geheilt werden kann und wird, wenn es in Christus ratsam ist.

Das Sühnopfer des Erretters, das uns seine erlösende wie auch seine helfende Macht zugänglich macht, ist die höchste Segnung, die Jesus Christus allen bereithält. Wenn wir mit voller Herzensabsicht umkehren, reinigt uns der Erretter von Sünde. Wenn wir dem himmlischen Vater freudig unseren Willen unterordnen, selbst in schwierigsten Umständen, macht uns der Herr unsere Last leicht.7

Doch jetzt zur größeren Lektion, die ich gelernt habe. Ich hatte fälschlicherweise geglaubt, dass die heilende Macht des Erretters in meiner Familie nicht gewirkt hatte. Wenn ich jetzt mit reiferen Augen und mehr Lebenserfahrung zurückblicke, sehe ich, dass die heilende Macht des Erretters im Leben all meiner Familienangehörigen offenbar war. Ich war so auf die körperliche Heilung konzentriert, dass ich die Wunder, die geschahen, gar nicht wahrnahm. Der Herr stärkte meine Mutter und hob sie über ihre Fähigkeiten hinaus in dieser schweren Prüfung empor, und sie führte ein langes und produktives Leben. Ihr positiver Einfluss auf ihre Kinder und Enkelkinder war enorm. Der Herr hat mich und meine Geschwister mit Liebe, Einigkeit, Glauben und Resilienz gesegnet, die zu einem wichtigen Teil unseres Lebens wurden und es heute noch sind.

Doch was ist mit meinem Vater? Wie alle, die umkehren, wurde er geistig geheilt und erhielt die Segnungen, nach denen er suchte und die dank des Sühnopfers Christi möglich sind. Er empfing Vergebung seiner Sünden und wartet nun auf das Wunder der Auferstehung. Der Apostel Paulus hat verkündet: „Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden.“8 Ich hatte ja zum Erretter gesagt: „Wir haben meinen Vater zu dir gebracht, damit er geheilt wird“, und mir ist jetzt klar, dass der Erretter ihn sehr wohl geheilt hat. Der Balsam aus Gilead wirkte für die Familie Nielson – nicht so, wie wir angenommen hatten, sondern auf viel bedeutendere Weise, die uns ein Segen war und immer noch ist.

In Kapitel 6 im Johannesevangelium wirkte der Erretter ein höchst interessantes Wunder. Mit nur wenigen Fischen und wenigen Broten speiste er 5.000 Menschen. Ich habe diesen Bericht viele Male gelesen, hatte aber einen Teil dieser Begebenheit übersehen, der heute eine große Bedeutung für mich hat. Nachdem der Erretter die Fünftausend gespeist hatte, bat er die Jünger, die Reste einzusammeln. Diese füllten zwölf Körbe. Ich habe mich gefragt, warum sich der Erretter dafür Zeit nahm. Mir ist klargeworden, dass eine Lektion, die wir aus dieser Begebenheit ziehen können, folgendermaßen lautet: Er konnte Fünftausend speisen und es blieb etwas übrig. „Meine Gnade ist ausreichend für alle Menschen.“9 Die erlösende und heilende Macht kann jede Sünde, Wunde oder Prüfung abdecken – egal wie groß oder schwer – und es bleibt etwas übrig. Seine Gnade ist ausreichend.

Mit dieser Erkenntnis können wir voll Glauben vorwärtsgehen, wohl wissend, dass in schwierigen Zeiten – die gewiss kommen werden – oder wenn Sünde uns umschließt, der Erretter dasteht, mit Heilung in seinen Flügeln,10 und uns auffordert, zu ihm zu kommen.

Ich gebe Ihnen Zeugnis für den Balsam aus Gilead, den Erretter Jesus Christus, unseren Erlöser, und für seine wunderbare, heilende Macht. Ich bezeuge Ihnen, dass er Sie heilen möchte. Im Namen Jesu Christi. Amen.