Generalkonferenz
Gedenke deiner Heiligen, die leiden, o unser Gott
Herbst-Generalkonferenz 2021


10:17

Gedenke deiner Heiligen, die leiden, o unser Gott

Das Halten der Bündnisse setzt die Macht des Sühnopfers Jesu Christi frei, den Leidenden Kraft und sogar Freude zu schenken

Zum Plan des Glücklichseins, den der Vater im Himmel aufgestellt hat, gehört auch das Erdenleben als Erfahrung, bei der alle seine Kinder geprüft und mit Schwierigkeiten konfrontiert werden.1 Vor fünf Jahren wurde bei mir Krebs diagnostiziert. Seitdem spüre ich immer wieder körperlichen Schmerz, ausgelöst durch Operationen, Bestrahlungen und Nebenwirkungen von Medikamenten. Ich habe auch seelisches Leid erfahren in qualvollen, schlaflosen Nächten. Laut medizinischen Statistiken werde ich wahrscheinlich früher aus dem Erdenleben scheiden, als ich es je erwartet hätte, und zurückbleiben wird für eine Zeit lang meine Familie, die mir alles bedeutet.

Unabhängig davon, wo Sie leben, haben Sie mit körperlichem oder seelischem Leid infolge verschiedenster Prüfungen und menschlicher Schwächen bereits Bekanntschaft gemacht oder es wird Ihnen eines Tages noch begegnen.

Ursachen für körperliches Leid können der natürliche Alterungsprozess, unvorhergesehene Krankheiten und Unfälle, Hunger, Obdachlosigkeit, Misshandlung oder Missbrauch, Gewalttaten oder Krieg sein.

Seelisches Leid kann von Angstzuständen oder Depressionen herrühren; vom Vertrauensbruch eines Ehepartners, Elternteils oder einer Führungspersönlichkeit, der man vertraut hat; von Arbeitslosigkeit oder finanziellen Rückschlägen; ungerechter Verurteilung durch andere; Entscheidungen von Freunden, Kindern oder anderen Angehörigen; Misshandlung oder Missbrauch in vielfältigen Formen; unerfüllten Träumen hinsichtlich Ehe oder Kindern; schwerer Krankheit oder vom frühen Tod geliebter Menschen und von vielem anderen mehr.

Wie sollen wir dieses individuelle und manchmal lähmende Leid, das jeden von uns trifft, bloß ertragen?

Glücklicherweise ist im Evangelium Jesu Christi Hoffnung zu finden, und Hoffnung kann auch Bestandteil Ihres Lebens sein. Heute möchte ich über vier Grundsätze der Hoffnung sprechen, die ich aus den heiligen Schriften, den Lehren der Propheten, vielen Betreuungsbesuchen und meinen eigenen fortdauernden gesundheitlichen Problemen gelernt habe. Diese Grundsätze sind nicht nur allgemein anwendbar, sondern auch zutiefst persönlich.

Erstens: Leid bedeutet nicht, dass Gott mit unserem Leben unzufrieden ist. Vor zweitausend Jahren sahen die Jünger Jesu einen blinden Mann beim Tempel und fragten: „Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst oder seine Eltern, sodass er blind geboren wurde?“

Seine Jünger schienen, wie allzu viele Menschen heute, dem Irrglauben verfallen zu sein, dass jede Not und alles Leid von Sünde herrühren. Aber der Erretter erwiderte: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden.“2

Gottes Werk ist es, unsere Unsterblichkeit und unser ewiges Leben zustande zu bringen.3 Aber wie können Prüfungen und Leid – insbesondere Leid, das ein anderer durch den sündhaften Gebrauch seiner Entscheidungsfreiheit4 über uns gebracht hat – Gottes Werk letztlich doch voranbringen?

Der Herr erklärte seinem Bundesvolk: „Siehe, ich habe dich geläutert[:] Ich habe dich erwählt im Schmelzofen des Elends.“5 Woraus Ihr Leid auch resultieren mag – der liebevolle Vater im Himmel kann es so lenken, dass Ihre Seele dadurch geläutert wird.6 Wer eine geläuterte Seele hat, kann die Lasten anderer mit wahrem Einfühlungsvermögen und Mitgefühl tragen.7 Wer eine geläuterte Seele hat und „aus der großen Bedrängnis“ kommt, ist vorbereitet, für immer voller Freude in der Gegenwart Gottes zu leben, und „Gott wird alle Tränen von [seinen] Augen abwischen“8.

Zweitens: Dem Vater im Himmel ist sehr wohl bewusst, was Sie durchmachen. Inmitten unserer Prüfungen mögen wir irrtümlicherweise denken, Gott sei weit entfernt und interessiere sich nicht für unseren Schmerz. Selbst der Prophet Joseph Smith äußerte solche Gefühle an einem Tiefpunkt seines Lebens. Als er im Gefängnis zu Liberty saß, während Tausende von Heiligen aus ihren Häusern vertrieben wurden, suchte Joseph Erkenntnis und betete: „O Gott, wo bist du? Und wo ist das Gezelt, das dein Versteck bedeckt?“ Er schloss mit dieser Bitte: „Gedenke deiner Heiligen, die leiden, o unser Gott.“9

Die Antwort des Herrn spendete Joseph und allen, die leiden, Zuversicht:

„Mein Sohn, Friede sei deiner Seele; dein Ungemach und deine Bedrängnisse werden nur einen kleinen Augenblick dauern,

und dann, wenn du gut darin ausharrst, wird Gott dich in der Höhe erhöhen.“10

Viele Heilige, die leiden, haben mir davon erzählt, wie sie Gottes Liebe inmitten ihrer Prüfungen verspürt haben. Ich erinnere mich noch lebhaft an eine eigene Erfahrung während meines Kampfes gegen den Krebs, als die Ärzte die Ursache meiner starken Schmerzen noch nicht herausgefunden hatten. Ich saß mit meiner Frau zusammen und wollte ein einfaches Tischgebet sprechen. Stattdessen brachte ich mit tränenerstickter Stimme nur heraus: „Vater im Himmel, bitte hilf mir. Ich bin so krank.“ Daraufhin war ich für die nächsten 20, 30 Sekunden von seiner Liebe umschlossen. Ich erfuhr nicht, weshalb ich krank war, erhielt keinerlei Hinweis darauf, wie alles ausgehen würde, und mein Schmerz wurde auch nicht gelindert. Ich fühlte einfach die reine Liebe Gottes, und das war und ist genug.

Ich bezeuge, dass unser Vater im Himmel, dem nicht einmal entgeht, wenn ein einziger Spatz zur Erde fällt, um Ihr Leid weiß.11

Drittens: Jesus Christus bietet uns seine helfende Macht an, die uns die Kraft verleiht, unser Leid gut zu überstehen. Diese helfende Macht verdanken wir seinem Sühnopfer.12 Ich fürchte, zu viele Mitglieder der Kirche meinen, wenn sie nur ein bisschen zäher wären, könnten sie alles Leid alleine durchstehen. Diese Einstellung macht einem das Leben schwer. Der flüchtige Moment, in dem Sie sich stark fühlen, lässt sich nicht mit der nie versiegenden Kraftquelle vergleichen, die der Erretter Ihnen zur Stärkung Ihrer Seele bietet.13

Aus dem Buch Mormon erfahren wir, dass Jesus Christus unsere Schmerzen, Krankheiten und Schwächen „auf sich nehmen“ werde, damit er uns beistehen kann.14 Wie können Sie die Macht in Anspruch nehmen, die Jesus Christus Ihnen anbietet, um Ihnen in Ihrem Leid beizustehen und Sie zu stärken? Der Schlüssel liegt darin, sich an den Erretter zu binden, indem Sie die Bündnisse halten, die Sie mit ihm eingegangen sind. Wir schließen diese Bündnisse, wenn wir heilige Handlungen des Priestertums empfangen.15

Das Volk Alma ging das Taufbündnis ein. Später litten sie in Gefangenschaft, und es war ihnen verboten, Gott öffentlich zu verehren oder auch nur laut zu beten. Dennoch hielten sie ihre Bündnisse so gut sie konnten, indem sie im Herzen, also lautlos, zum Herrn schrien. Dadurch erhielten sie göttliche Kraft. „Der Herr stärkte sie, sodass sie ihre Lasten mühelos tragen konnten.“16

Heutzutage bittet der Erretter uns: „Blickt in jedem Gedanken auf mich; zweifelt nicht, fürchtet euch nicht.“17 Wenn wir unser Abendmahlsbündnis halten, immer an ihn zu denken, verspricht er uns, dass sein Geist mit uns sein wird. Der Geist gibt uns die Kraft, Prüfungen durchzustehen und etwas zu schaffen, was wir unmöglich alleine vollbringen könnten. Der Geist kann uns heilen, obgleich, wie Präsident James E. Faust betont hat, „manche Heilung … vielleicht in einer anderen Welt erfolgen [wird]“18.

Auch die Bündnisse und Verordnungen des Tempels sind uns ein Segen, denn in ihnen wird „die Macht des Göttlichen kundgetan“19. Ich besuchte eine Frau, die bei einem schrecklichen Unfall eine Tochter im Teenageralter und später noch ihren Ehemann durch Krebs verloren hatte. Ich fragte sie, wie sie solche Verluste, solches Leid ertragen konnte. Sie antwortete, dass sie bei regelmäßigen Tempelbesuchen die geistige Gewissheit erhalten habe, dass ihre Familie ewig ist. Wie verheißen, haben die Verordnungen des Hauses des Herrn sie mit Gottes Macht ausgerüstet.20

Viertens: Sie können sich dafür entscheiden, jeden Tag Freude zu finden. Wer leidet, hat oftmals das Gefühl, dass die Nacht einfach kein Ende nimmt und das Tageslicht wohl niemals kommen wird. Es ist in Ordnung, zu weinen.21 Doch selbst wenn Sie sich in finsteren Nächten voller Leid wiederfinden, kann es für Sie ein frohes Erwachen an einem hellen Morgen geben, wenn Sie sich für den Glauben entscheiden.22

Ich habe beispielsweise eine junge Mutter besucht, die wegen eines Krebsleidens in Behandlung war, aber trotz der Schmerzen und der ausgefallenen Haare majestätisch lächelnd auf ihrem Stuhl saß. Ich habe ein Paar mittleren Alters kennengelernt, das keine Kinder bekommen konnte. Dennoch waren beide bei ihrer Tätigkeit als Jugendführer glücklich. Ich saß bei einer lieben Frau – eine junge Großmutter, Mutter und Ehefrau –, die nur noch wenige Tage zu leben hatte. Doch trotz aller Tränen gab es im Kreis der Familie auch frohes Lachen und freudige Erinnerungen.

Diese Heiligen, die leiden, verkörpern das, was Präsident Russell M. Nelson gesagt hat:

„Die Freude, die wir empfinden, hat wenig mit unseren Lebensumständen und vielmehr damit zu tun, worauf wir im Leben den Blick richten.

Wenn wir Gottes Plan der Erlösung und Jesus Christus und sein Evangelium in unserem Leben in den Mittelpunkt stellen[,] können wir Freude verspüren – ganz gleich, was in unserem Leben geschieht oder nicht geschieht.“23

Ich bezeuge,24 dass unser Vater im Himmel an seine Heiligen, die leiden, denkt, dass er Sie liebt und dass er sich Ihrer sehr wohl bewusst ist. Unser Erretter weiß, wie Sie sich fühlen. „Gewiss hat er unsere Schmerzen getragen und unsere Leiden auf sich geladen.“25 Als jemand, der dies täglich empfängt,26 weiß ich, dass das Halten der Bündnisse die Macht des Sühnopfers Jesu Christi freisetzt, den Leidenden Kraft und sogar Freude zu schenken.

Für alle, die leiden, bete ich: „Möge euch Gott gewähren, dass eure Lasten leicht seien durch die Freude an seinem Sohn.“27 Im Namen Jesu Christi. Amen.