Kapitel 2
Führet, leitet
Als sich das Schiff Niue näherte, erblickten Mosese und Salavia Muti eine zerklüftete Küste mit Höhlen und Buchten hier und da. Wie Mosese es in seinem Traum gesehen hatte, lagen die dreizehn Dörfer der Insel direkt am Meer. Alofi war das größte Dorf auf Niue; es lag an der Westküste und diente als Knotenpunkt für die wenigen Straßen, die durch den tropischen Regenwald und die Korallenfelsen im Inneren der Insel führten. Die Insel war ein abgelegener Ort mit weniger als fünftausend Einwohnern.
1952 waren die ersten Missionare nach Niue gekommen. Vier Jahre später gab es nun etwa dreihundert Heilige auf der Insel. Als Distriktspräsident fungierte ein dreiundzwanzigjähriger amerikanischer Missionar namens Chuck Woodworth. Wenn er und die übrigen Missionare nicht gerade das Evangelium verkündeten oder sich um die sechs Zweige auf der Insel kümmerten, arbeiteten sie an dem neuen Gemeindehaus und dem Missionsbüro in Alofi. Da es auf Niue noch keine Bauaufsicht gab, hatten die Missionare bislang weder das Fundament ausgehoben noch Mauern errichtet. Stattdessen verbrachten sie Stunden damit, das harte Korallengestein auf der Insel zu Schotter zu zerkleinern, um daraus später Beton für ihr Projekt anzufertigen.
Als die Mutis ankamen, wusste sich Chuck schon nicht mehr zu helfen. Er war ein fleißiger Missionar, der es gut meinte, doch er tat sich schwer damit, wenn die Heiligen auf Niue den Missionaren nicht halfen oder ihren Glauben nicht so lebten, wie er es für richtig hielt. Salavia und Mosese waren da geduldiger und einfühlsamer. Dem Ehepaar war klar, dass jedes Mitglied auf der Insel neu im Glauben war und noch lernen und wachsen musste.
„Mach dir keine Sorgen!“, pflegte Mosese Chuck stets zu beruhigen. „Am Ende wird alles gut.“
Mit seiner Liebe zum Evangelium und seinem Verständnis für die Gepflogenheiten der Einheimischen gewann Mosese im Handumdrehen das Herz und das Vertrauen der niueanischen Heiligen. Er leitete das Pfadfinderprogramm der Kirche, lehrte das Evangelium und zertrümmerte gemeinsam mit den übrigen Missionaren Korallen. Salavia kümmerte sich derweil um das Wohlergehen der Missionare und Mitglieder der Kirche. Sie kochte, wusch und flickte Kleidung, hörte zu und gab Ratschläge, wenn jemand ein offenes Ohr brauchte. Zudem unterrichtete sie in der Primarvereinigung und in der Sonntagsschule und hielt Ansprachen.
Im September 1956 gründete Chuck die erste Frauenhilfsvereinigung auf Niue und berief Salavia dort als Lehrerin. Anfangs schienen sie einige Frauen nicht gerade zu respektieren und zeigten kein großes Interesse am Versammlungsbesuch. Salavias Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Frauen in der Kirche hatte sie jedoch gelehrt, auf deren Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Da sie wusste, dass viele Menschen auf Niue keine modernen Küchengeräte besaßen, fragte sie Langi Fakahoa, die FHV-Präsidentin, ob sie den Frauen im Rahmen einer Aktivität eine einfache Methode beibringen könne, wie man ohne Herd einen tongaischen Pudding zubereitet.
Vor der Versammlung bat Salavia die Mitglieder der Frauenhilfsvereinigung, alle Zutaten mitzubringen, damit sie ihren eigenen Pudding zubereiten konnten. Von den fünfzehn Frauen, die kamen, brachten jedoch nur drei Zutaten mit. Die anderen schauten einfach nur skeptisch zu.
Salavia ließ sich jedoch nicht beirren und zeigte, wie man den Pudding zubereitet und ihn dann über dem offenen Feuer in Wasser kocht. Die Frauen, die die nötigen Zutaten mitgebracht hatten, folgten ihren Anweisungen Schritt für Schritt, bis auch ihr Pudding kochte. Dann holte Salavia einen Pudding hervor, den sie bereits vor dem Treffen zubereitet hatte, und bot jeder Frau ein paar Bissen an.
Alle bekamen ganz große Augen. „Oh!“, staunten sie. Etwas Vergleichbares hatten sie noch nie gegessen. Nach der Versammlung teilten die drei Frauen, die Zutaten mitgebracht hatten, ihren Pudding mit den anderen. Diese wiederum gingen nach Hause und waren fest entschlossen, bei der nächsten Aktivität besser vorbereitet zu sein.
Diese Begebenheit sprach sich herum, und von nun an genoss Salavia mehr Respekt. Frauen, die bisher kein Interesse gezeigt hatten, begannen, an den FHV-Treffen teilzunehmen. Mehrere Mitglieder luden zur nächsten Kochaktivität auch Freundinnen und Verwandte ein, und bald darauf nannte Salavia die Abende mit der Frauenhilfsvereinigung Po Fiafia, was so viel wie „Fröhlicher Abend“ bedeutet.
Salavia stellte fest, dass sich das Vermitteln von Kochkünsten und weiteren Fertigkeiten hervorragend für die Missionsarbeit eignete. Wenn die Frauen als Gruppe zusammenkamen, erzählten sie einander Geschichten und Witze und sangen Lieder. Diese Treffen brachten die Frauen einander näher und stärkten sie, und so manche Freundschaft wurde geknüpft. Die Anwesenheit in der Kirche nahm zu, und die Familien schienen glücklicher und einiger zu sein dank der Fertigkeiten, die sich die Frauen in der Frauenhilfsvereinigung aneigneten.
Ende 1956 freuten sich die Mitglieder der Frauenhilfsvereinigung in aller Welt auf die Weihung des neuen Gebäudes ihrer Organisation in Salt Lake City. Die FHV hatte nun rund einhundertzehntausend Mitglieder, und Präsidentin Belle Spafford war es ein Anliegen, dass sich alle – wo sie auch lebten – als Teil einer Gruppe fühlten, die sich durch Einigkeit auszeichnete.
Sie selbst war ja nicht seit jeher ein begeistertes Mitglied der FHV gewesen. Damals wurden die Frauen in der Kirche nämlich noch nicht automatisch in die FHV aufgenommen, sobald sie erwachsen waren. Belle war daher schon dreißig Jahre alt gewesen, ehe sie regelmäßig die FHV-Versammlungen besuchte. Als ihr Bischof sie als Ratgeberin in die FHV-Präsidentschaft ihrer Gemeinde berufen wollte, hatte sie sich geweigert. „Das ist etwas für meine Mutter“, stellte Belle klar, „aber doch nicht für mich!“
Dreißig Jahre später war sie nun schon im elften Jahr ihrer Präsidentschaft, und der Bau eines festen Hauptsitzes für die Frauenhilfsvereinigung war eines ihrer Hauptanliegen. Sie wünschte sich als neuen Hauptsitz ein schönes Gebäude, in dem sich die Frauen aus der Kirche gleich beim Eintreten wohlfühlen.
Als die Frauenhilfsvereinigung 1842 gegründet worden war, trafen sich die Mitglieder im oberen Stockwerk von Joseph Smiths Laden in Nauvoo. Später errichteten die FHV-Organisationen im Westen der Vereinigten Staaten auf Gemeindeebene jeweils eigene Gebäude, in denen sie zusammenkommen, ihre Geschäfte führen, sich der Bedürftigen annehmen und Ideen, Erfahrungen und ihr Zeugnis austauschen konnten. Um die Jahrhundertwende brachten die Präsidentschaften der Frauenhilfsvereinigung, der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen und der Primarvereinigung der Kirche einen beträchtlichen Geldbetrag auf, um für ihre Organisationen jeweils ein Gebäude zu errichten. Zu ihrer Enttäuschung wurden die Pläne jedoch nicht umgesetzt. Die Erste Präsidentschaft wünschte sich den Bau eines Bürogebäudes, das von diesen drei Organisationen und einigen weiteren – darunter auch der Präsidierenden Bischofschaft – gemeinsam genutzt werden sollte.
Die Frauenhilfsvereinigung war seitdem im ersten Stock dieses Gebäudes untergebracht. Die Räumlichkeiten waren beengt und laut – mit Büros, einem Sitzungszimmer und einem Bereich für das Nähen der Tempelkleidung. Kurz nach ihrer Berufung im Jahr 1945 schlug Präsidentin Spafford den Bau eines neuen Gebäudes für ihre Organisation vor. Die Erste Präsidentschaft stimmte dem Plan zu. Von der Frauenhilfsvereinigung wurde erwartet, eine halbe Million Dollar aufzubringen, was der Hälfte der Baukosten entsprach.
Präsidentin Spafford und ihre Ratgeberinnen Marianne Sharp und Velma Simonsen überlegten sich daraufhin eine Spendenaktion und forderten jedes Mitglied der Frauenhilfsvereinigung auf, fünf Dollar für den Bau des Gebäudes zu spenden – eine nicht unbeträchtliche Summe, wenn man bedenkt, dass ein Laib Brot in den Vereinigten Staaten damals zwölf Cent kostete. Einige Monate nach dem Spendenaufruf war Präsidentin Spafford hocherfreut, dass die Frauen der Kirche bereits zwanzigtausend Dollar gespendet hatten. Sie griff sofort zum Telefon und rief J. Reuben Clark, den Zweiten Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, an, um ihm die gute Nachricht zu überbringen.
„Lassen Sie sich nicht entmutigen“, sagte er, da ihm ihre Freude offensichtlich entgangen war. „Ich weiß, dass zwanzigtausend Dollar nicht viel sind, wenn man eine halbe Million aufbringen muss.“
Präsidentin Spafford ließ sich auch nicht entmutigen, und die Schwestern ließen sie nicht im Stich. Jahrzehntelang hatte die Frauenhilfsvereinigung ihre örtlichen Organisationen durch das Erheben von Jahresbeiträgen und durch regelmäßige Spendenaktionen finanziert. Um ihren Beitrag zu leisten, veranstalteten die Schwestern Abendbuffets, nähten und verkauften Steppdecken und veranstalteten Tanzabende. Binnen eines Jahres war das Gebäude vollständig finanziert.
Die Frauenhilfsvereinigung erwarb ein Grundstück gegenüber dem Salt-Lake-Tempel, und Präsidentin Spafford und ihre Ratgeberinnen arbeiteten bei der Planung eng mit dem Architekten zusammen. Im Gebäude befanden sich Büroräume für die FHV-Präsidentschaft der Kirche, den Hauptausschuss und die Mitarbeiterinnen, die für vielerlei Projekte – wie etwa die Zeitschrift der Frauenhilfsvereinigung – zuständig waren, aber auch für Wohlfahrts- und soziale Dienste sowie Herstellung und Verkauf von Tempelkleidung.
Da Präsidentin Spafford wollte, dass man sich im Gebäude wie zuhause und nicht wie im Büro fühlte, verfügte es über einen gemütlichen Aufenthaltsraum, in dem sich Frauen mit Freundinnen treffen, Briefe schreiben oder einfach die angenehme Atmosphäre genießen konnten. Im zweiten Stock befand sich ein großer Gesellschaftsraum mit einer Bühne und einer Küche, den die Pfahl-Frauenhilfsvereinigungen für besondere Veranstaltungen reservieren konnten.
Geschenke von FHV-Mitgliedern aus aller Welt, etwa eine dekorative Lampe aus Australien oder ein Tisch mit Schnitzarbeiten aus Samoa, zierten Räume und Säle. In Wien hatten die FHV-Präsidentin Hermine Cziep und weitere Heilige zusammengelegt, um eine bunte Porzellanvase zu kaufen und nach Salt Lake City zu verschiffen. Als sie erfahren hatten, dass die Vase im Jahr 1830, dem Gründungsjahr der Kirche, angefertigt worden war, hatten sie das Gefühl, vom Herrn zu ihr geführt worden zu sein.
„Wenn man bedenkt“, erzählte eine Frau aus der Schweizerisch-Österreichischen Mission, „dass wir Teil eines so wunderbaren Gebäudes sind – selbst wenn wir es vielleicht niemals zu sehen bekommen –, so wissen wir doch, dass es dazu beitragen wird, viele Frauen glücklich zu machen.“
Das FHV-Gebäude, wie der neue Hauptsitz genannt wurde, konnte im Oktober 1956 geweiht werden. Das Design war klassizistisch, im Stil an das nahegelegene Verwaltungsgebäude der Kirche angepasst, das 1917 fertiggestellt worden war und in dem die Büros der Ersten Präsidentschaft und weiterer Generalautoritäten untergebracht waren. Zu Ehren der langjährigen Tradition der Getreidevorratshaltung durch die Frauenhilfsvereinigung war das Äußere des neuen Gebäudes mit stilisierten goldenen Weizenhalmen verziert.
Am 3. Oktober stand Präsidentin Spafford an der Kanzel des Tabernakels in Salt Lake City und blickte auf eine Zuhörerschaft, die nur einen Bruchteil der vielen Frauen ausmachte, die für die Fertigstellung des FHV-Gebäudes Opfer gebracht hatten. Sie war davon überzeugt, dass Finanzierung und Bau die Organisation hatten enger zusammenwachsen lassen.
„Das hat uns als FHV-Schwestern zusammengeschweißt“, sagte sie. „Wir beten, dass alles, was von diesem Zuhause der Frauenhilfsvereinigung ausgeht, das Leben der Töchter unseres himmlischen Vaters bereichert und zu ihrem ewigen Wohlergehen führt.“
Als sich Hélio da Rocha Camargo nun mit dem Buch Ein wunderbares Werk, ja, ein Wunder befasste, begann er, einen nahegelegenen Zweig der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage zu besuchen. Bald zeigte auch seine Frau Nair Interesse am wiederhergestellten Evangelium. „Ich möchte nicht mehr in die Methodistenkirche gehen“, sagte sie eines Sonntags. Stattdessen wollte sie mit ihm in die Kirche gehen.
Hélio beschäftigte sich intensiv mit dem Buch Mormon und las es in drei Tagen von vorne bis hinten durch. Danach las er das Buch Lehre und Bündnisse, die Köstliche Perle und jedes sonstige Schriftwerk, das er über die Heiligen finden konnte. Er traf sich oft mit den Missionaren, zahlte in seinem Zweig den Zehnten und fand nach und nach Antwort auf seine Fragen über Gott und dessen Plan.
Auch hatte er bereits genügend Versammlungen der Kirche besucht, um zu erkennen, dass die Heiligen seine Hilfe gebrauchen konnten. Asael Sorensen, der Missionspräsident, wünschte sich, dass sich die Kirche in Brasilien weiter ausbreitete, und seiner Ansicht nach würden glaubensstarke Priestertumsführer dabei eine Schlüsselrolle spielen. Brasilien hatte inzwischen etwa zweitausend Mitglieder, aber weniger als siebzig trugen das Melchisedekische Priestertum.
Hélio wollte sich nicht der Kirche anschließen, geschweige denn Priestertumsaufgaben übernehmen, solange er nicht wusste, was Gott mit ihm vorhatte. Präsident Sorensen hatte sieben Missionarslektionen entworfen, in denen Themen wie „Wozu wir einen lebenden Propheten brauchen“, „Das Wort der Weisheit“ und „Sinn und Zweck des Lebens“ behandelt wurden. Hélio verschlang förmlich jede dieser Lektionen, und trotzdem hatte er immer noch Fragen an die Missionare.
Er und Nair waren besonders schockiert, als sie von der früheren Ausübung der Mehrehe unter den Heiligen erfuhren. Hélio wollte auch wissen, weshalb die Kirche Männern schwarzafrikanischer Abstammung das Priestertum vorenthielt. Wie die Vereinigten Staaten hatte auch Brasilien schon vor langer Zeit die Versklavung von Afrikanern und ihren Nachkommen verboten. Anders als in den Vereinigten Staaten hatte es in Brasilien jedoch keinerlei Gesetze zur Rassentrennung zwischen Schwarzen und Weißen gegeben, sodass die ethnische Kluft in Brasilien weit weniger ausgeprägt war.
Hélio, dessen Vorfahren Europäer waren, war in seiner früheren Kirche nie irgendwelchen Einschränkungen aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit begegnet, und diese Praxis störte ihn. Dass er sich noch nicht der Kirche anschließen mochte, lag jedoch nicht an seinen Fragen. Bei seinen Gesprächen mit den Missionaren wollte er gern so etwas erleben wie Paulus im Neuen Testament – eine wundersame Bekehrung, machtvoll und unerwartet wie ein Blitzschlag.
Er beschloss, mehr zu beten und das Buch Mormon noch einmal durchzulesen in der Hoffnung, die Bestätigung zu erhalten, die er sich wünschte. Nichts Außergewöhnliches geschah, und langsam wurden die Missionare ungeduldig. „Sie wissen doch, dass die Kirche wahr ist“, sagte einer von ihnen zu Hélio, „und jetzt wird es Zeit, eine Entscheidung zu treffen.“
Der Missionar hatte recht: Hélio wusste es. Das wiederhergestellte Evangelium war völlig einleuchtend. Doch das Wissen allein reichte Hélio noch nicht aus.
Anfang 1957 arbeiteten die achtundvierzigjährige Naomi Randall und die Mitglieder des PV-Hauptausschusses in Salt Lake City intensiv an einem Programm für Führungsverantwortliche der Primarvereinigung in aller Welt. Der Ausschuss hatte für das Programm das Motto „Bitte eines Kindes“ ausgewählt. Man war der Meinung, dass viele Eltern und in der Primarvereinigung Mitarbeitende nicht verstanden, wie wichtig ihre Rolle bei der Unterweisung der Kinder ist. Das Motto sollte ihnen ihre heilige Berufung deutlich vor Augen führen.
Die PV-Präsidentin der Kirche, LaVern W. Parmley, wollte das Programm im April auf der PV-Jahreskonferenz vorstellen, sodass Naomi und ihrem Ausschuss nur wenige Monate Zeit zur Ausarbeitung blieben. Sie hatten gefastet und gebetet und glaubten, dass sie es rechtzeitig schaffen konnten. Eines Tages rief Präsidentin Parmley Naomi zu sich ins Büro.
„Wir brauchen ein neues Lied zu dem Programm“, erklärte sie.
„Wo bekommen wir es denn her?“, fragte Naomi.
„Sie können es schreiben“, antwortete die Präsidentin, denn Naomi hatte sich in der Kirche bereits einen Namen als Dichterin gemacht. Sie gab ihr die Telefonnummer von Mildred Pettit, einer begabten Musikerin und Komponistin, die im Hauptausschuss der Primarvereinigung mitgewirkt hatte. „Setzen Sie sich mit ihr in Verbindung“, trug Präsidentin Parmley ihr auf. „Sie beide können gemeinsam ein neues Lied zu Papier bringen.“
Naomis Gedanken überschlugen sich, als sie den Raum verließ. Sie wollte ja, dass das Motto den Erwachsenen im Gedächtnis blieb und dass sie erkannten: Kleine Kinder brauchen unsere Hilfe, um in Gottes Gegenwart zurückzukehren. Aber wie sollte sie diese Botschaft bloß in einem Lied vermitteln?
Zuhause angekommen, griff sie zum Telefon und rief Mildred an. „Schreiben Sie alle Wörter, Sätze oder Botschaften auf, die Ihnen in den Sinn kommen“, riet ihr Mildred. „Es ist wichtig, dass zuerst der Liedtext feststeht, bevor die Noten komponiert werden.“
Am Abend bat Naomi den Vater im Himmel, ihr die richtigen Worte für das Lied einzugeben. Dann ging sie zu Bett und schlief eine Weile tief und fest.
Um zwei Uhr nachts wachte sie auf. Es war still im Raum. „Ich bin ein Kind von Gott“, dachte sie, „der mich zur Welt geschickt.“ Die Worte bildeten die erste Zeile des Liedes. Ihr kamen noch weitere Zeilen in den Sinn, und schon bald darauf hatte sie die erste und die zweite Strophe im Kopf. „Gar nicht schlecht“, dachte sie sich. „Ich denke, das ist gut so.“
Es dauerte nicht lange, bis sie drei Strophen und einen Refrain hatte, worin ein Kind um geistige Führung durch seine Eltern oder Lehrer bittet. Naomi stieg aus dem Bett und schrieb den Text auf. Sie war selbst überrascht darüber, wie schnell er ihr eingefallen war. Normalerweise brütete sie über jedem Wort, das sie zu Papier brachte. Sie kniete sich nieder und dankte dem Vater im Himmel.
Am Morgen rief sie Arta Hale an, eine Ratgeberin in der PV-Präsidentschaft der Kirche. „Ich habe den Text“, berichtete sie. „Schauen Sie mal, wie Sie ihn finden.“
„Das gibtʼs doch nicht, meine Liebe, da bekomme ich ja eine Gänsehaut!“, rief Arta, nachdem Naomi ihr den Text vorgelesen hatte. „Den können Sie so wegschicken!“
Nach weniger als einer Woche erhielt Naomi einen Brief von Mildred. Mit dabei waren die Noten für das Lied und einige Änderungen am Refrain. Seit Naomi den Text an Mildred geschickt hatte, hatte sie versucht, sich vorzustellen, wie das Lied wohl klingen würde. Als sie schließlich die Melodie hörte, war sie begeistert. Es war wirklich genau richtig.
Am 4. April 1957 sangen Solisten und ein Chor aus PV-Kindern bei der jährlichen Konferenz der Primarvereinigung das Lied „Ich bin ein Kind von Gott“. Abgesehen von Mildreds Hilfe beim Refrain war das Lied genau so, wie es Naomi mitten in der Nacht niedergeschrieben hatte. Die Führungsverantwortlichen der Primarvereinigung, die bei der Konferenz waren, machten sich mit dem Lied vertraut, damit sie es den Kindern in ihrer Gemeinde oder ihrem Zweig beibringen konnten.
Etwas später sprach der PV-Hauptausschuss auf Einladung von Apostel Harold B. Lee bei einem Abendessen für Generalautoritäten im Gebäude der Frauenhilfsvereinigung. Der Beitrag wurde von einem Kinderchor aus verschiedenen Nationen und Ethnien in traditioneller Tracht untermalt, der den Anwesenden die wachsende Vielfalt innerhalb der Kirche vor Augen führte. Als die Kinder den Refrain des Liedes „Ich bin ein Kind von Gott“ sangen, berührte die universelle Botschaft die Zuhörer im Herzen:
Führet, leitet und begleitet,
dass den Weg ich find;
lehrt mich, alles das zu tun,
was mich zu ihm einst bringt.
Als das Lied zu Ende war, wandte sich Präsident David O. McKay an die Kinder. „Wir werden eurer Bitte nachkommen“, versprach er. „Wir werden euch begleiten.“ Dann wandte er sich an die Generalautoritäten und sagte: „Es ist an uns, diese Herausforderung anzunehmen und die Kinder zu unterweisen.“
Auch Elder Lee war sehr bewegt. „Naomi“, sagte er nach dem Essen, „das ist ein Lied, das die Ewigkeit überdauern wird.“
Im Mai 1957 war Hélio da Rocha Camargo es leid, die Lehren der Kirche wieder und wieder zu studieren, ohne dass ihn das weiterbrachte. Bei aller Gelehrsamkeit fehlte ihm für die Wahrheit noch das Zeugnis von Gott. Ohne dieses Zeugnis machte er keinen Fortschritt.
Schließlich wandte er sich hilfesuchend an Präsident Asael Sorensen und dessen Frau Ida. Das Ehepaar war für ihn und Nair eine große Stütze gewesen, nachdem sie aus der Methodistenkirche ausgetreten waren. Schwester Sorensen mochte besonders Nair, und sie traf sich oft mit ihr und sorgte dafür, dass sie im Evangelium dazulernte und es besser verstand. Sie nahm auch Hélios inneres Ringen wahr und wollte ihm mit einem guten Rat zur Seite stehen.
„Hélio“, sagte sie eines Nachmittags, „ich glaube, der Grund, weshalb du kein Zeugnis bekommst, liegt darin, dass du nach Widersprüchen in der Lehre suchst.“
Hélio spürte, dass sie die Wahrheit sagte, und beschloss, seine religiösen Überzeugungen rein sachlich zu betrachten. Sorgfältig wog er alles ab, was er über das wiederhergestellte Evangelium gelernt hatte, und fand, dass die Lehre schlüssig und mit der Bibel vereinbar sei. Zwar hatte er noch Fragen zur Mehrehe und zu den Einschränkungen beim Priestertum, aber er war jetzt bereit, die Grenzen seines Verständnisses zu akzeptieren. Er hatte Glauben, dass Gott die Kirche durch Offenbarung leiten werde.
Hélio erkannte auch, dass es keines Blitzschlags bedurfte, um ihm die Wahrheit dessen zu bestätigen, was er gelernt hatte. In den letzten Monaten hatte er allmählich ein Zeugnis erhalten – so sanft und natürlich, dass er nicht einmal merkte, dass das Licht ewiger Wahrheit ihn bereits umgab. Als er dies begriffen hatte, fiel er auf die Knie und dankte Gott, dass er ihm die Wahrheit offenbart hatte.
Wenig später bat Hélio die Missionare an einem Montagabend zu sich nach Hause. „Was muss ich tun, um mich taufen zu lassen?“, erkundigte er sich.
Elder Harold Hillam erläuterte die Schritte. „Sie brauchen ein Interview und müssen dann die Unterlagen für die Taufe vom Missionspräsidenten unterschreiben lassen“, erklärte er. „Die Taufe kann am Samstag stattfinden.“
Elder Hillam führte sogleich das Taufgespräch und stellte fest, was sowieso niemanden überraschte: dass Hélio nämlich die Gebote hielt und ein fundiertes Verständnis vom Evangelium hatte.
Am Tag der Taufe – es war der 1. Juni 1957 – ging Hélio zum Missionsheim und damit zum einzigen Ort in São Paulo, wo die Heiligen ein Taufbecken hatten. Er und Nair hatten sich schon darüber unterhalten, ob auch sie sich taufen lassen wolle, aber Nair wollte den Lehren noch ein wenig mehr auf den Grund gehen, ehe sie sich der Kirche anschloss. Hélio konnte diesen Wunsch nachvollziehen.
Das Taufbecken befand sich im Garten des Missionsheims. Es war ein kühler Tag, und als Hélio ins Becken stieg, versetzte das kalte Wasser ihm einen kleinen Schreck. Doch als er frisch getauft aus dem Wasser stieg, umgab ihn wohlige Wärme. Er war von Freude erfüllt, die den ganzen Tag über bei ihm verblieb.