Kapitel 3
Ein großartiger Kampf
Von Montag bis Samstag trafen sich Mosese Muti und die anderen Missionare jeden Morgen um sieben Uhr auf der Baustelle für das Gemeindehaus auf Niue. Elder Archie Cottle, Bauleiter aus Ogden, Utah, war im März 1957 mit seiner Familie und zwei weiteren tongaischen Missionaren auf die Insel gekommen, sodass mit dem Bau des neuen Versammlungsgebäudes und Missionsheims begonnen werden konnte. Nun nahm – unter ein paar Palmen – das erste gemauerte Gemeindehaus der Heiligen der Letzten Tage auf Niue endlich Gestalt an.
Mosese genoss die Arbeit auf der Insel. Er und ein weiterer tongaischer Missionar waren gerade mit Maurerarbeiten an den Außenmauern des Gebäudes beschäftigt. Die Missionare stellten fest, dass es schwierig war, einheimische Männer für das Projekt zu gewinnen, zumal die Männer andere schwere Arbeiten auf der Insel zu verrichten hatten. Allerdings erklärte sich regelmäßig eine begeisterte Gruppe älterer Frauen bereit, Sand zu schleppen oder bei anderen Aufgaben auf der Baustelle zu helfen.
Der Distriktspräsident, Chuck Woodworth, ärgerte sich insgeheim darüber, dass die Bauarbeiten nicht schneller vorangingen. Und Mosese konnte es ihm nicht verübeln. Chuck war nicht als Arbeitsmissionar berufen worden, aber da es zu wenig freiwillige Helfer auf Niue gab, bedeutete dies, dass er mehr Zeit für den Bau aufwenden musste und weniger Zeit für das geistige Wohl der Heiligen im Distrikt hatte.
Mosese mahnte Chuck stets, geduldig zu sein. „Es sind gute Menschen“, führte er dem jungen Mann bei einer Gelegenheit vor Augen. „Es sind Kinder des Herrn. Ich kann ihnen nichts vorwerfen. Achten wir doch auf ihre Stärken und konzentrieren wir uns darauf.“
Außerdem war der Bau eines Gemeindehauses für ungelernte Arbeiter gar kein leichtes Unterfangen. Die Männer mussten Korallen zertrümmern, Fundamente ausheben, Beton gießen und Mörtel herstellen – alles von Hand. Dabei zogen sie sich oft Blasen, Schnittwunden und sonstige Verletzungen zu. Und manchmal dauerte es einfach, bis jemand den Sinn hinter einem Dienstprojekt verstand und sich dafür begeistern konnte.
Um diesen Punkt zu veranschaulichen, erzählte Mosese Chuck von seinen Erfahrungen als Arbeitsmissionar beim Bau des Liahona College. „Fünf von uns waren von Anfang an dabei und arbeiteten über ein Jahr lang, bevor jemand mithalf“, erzählte er. „Bei der Arbeit galt unser Blick stets den künftigen Generationen.“
Zudem war Mosese mit Chuck geduldig. Er und Salavia führten mit dem Missionar viele abendliche Gespräche und berieten sich mit ihm, und inzwischen war er für sie wie ein Sohn geworden. Chuck hatte sogar angefangen, sie „Papá“ und „Mamá“ zu nennen. Sein eigener Vater hatte die Familie im Stich gelassen und Chucks Mutter mit sechs Kindern alleingelassen. Der junge Mann trug viel Wut und Schmerz in sich und war dankbar, dass er jetzt Mosese hatte.
„Er weiß wirklich, was Glaube und Dienen bedeuten“, schrieb Chuck. „Er hat mir mancherlei beigebracht, wofür ich ohne seine Hilfe Jahre gebraucht hätte.“
Dennoch sehnte sich Chuck von Zeit zu Zeit danach, woanders zu dienen. Als er eines Tages erfuhr, dass das Liahona College eine Boxmannschaft auf die Beine stellte, witterte er seine Chance, etwas zu verändern. Vor seiner Mission war er Profiboxer gewesen. Was wäre, wenn er den Missionspräsidenten bitten würde, ihn nach Tonga zu versetzen, damit er seine Mission dort am College als Lehrer und Boxtrainer beenden könne? Immerhin halfen dort gelegentlich ja Missionare aus.
Mosese hielt nichts von dieser Idee. Nachdem er über ein Jahr lang an Chucks Seite gearbeitet und mit ihm Menschen im Evangelium unterwiesen hatte, glaubte er, dass Gott den jungen Mann aus einem bestimmten Grund nach Niue geschickt hatte. Wenn eine Aufgabe besonders schwierig war, verdoppelte Chuck seine Anstrengungen, um mehr als seinen Teil der Arbeitslast zu schultern. Und als Chuck erfuhr, dass Mosese und Salavia gefastet hatten, damit die Missionare und übrigen Arbeiter zu essen hatten, aß er ohne viel Aufhebens selbst so wenig wie möglich, damit für die beiden auch noch etwas übrigblieb.
Im Juni 1957 erwähnten Mosese und Salavia bei einem ihrer Gespräche mit Chuck, wie sehr sie sich danach sehnten, in den Tempel zu gehen. Sie wussten, dass der Tempel in Neuseeland kurz vor der Fertigstellung stand, aber die Reise dorthin war für sie nach wie vor unerschwinglich.
Ihre Worte berührten Chuck, und der Wunsch, seine Mission am Liahona College zu beenden, schien ihm nicht mehr so wichtig zu sein. Was wäre, wenn er nach Beendigung seiner Mission nach Neuseeland ginge und dort einen Boxchampion zu einem Preiskampf herausforderte? Ein solches Ereignis würde doch sicherlich ausreichen, um das Geld zu verdienen, das die Mutis für die Fahrt zu dem neuen Tempel benötigten. Das wäre das Mindeste, was er tun könnte – nach allem, was sie für ihn getan hatten.
Vier Tage später schrieb er Johnny Peterson, seinem Manager in den Vereinigten Staaten, und bat ihn, ihm seine Boxausrüstung nach Niue zu schicken.
Zu dieser Zeit brauchte die Mission Fernost Süd dringend eine neue Missionarin. Eine der vier Frauen, die in Hongkong auf Mission waren, war aus gesundheitlichen Gründen soeben in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, sodass nun ganz unerwartet eine Missionarin fehlte. Präsident Grant Heaton wusste, dass die verbliebenen Schwestern umgehend Hilfe brauchten, und berief die einheimische Nora Koot als Vollzeitmissionarin.
In den vergangenen zwei Jahren war Nora ja für die Mission unentbehrlich geworden. Als die Heatons frisch in Hongkong angekommen waren, beauftragten sie sie damit, zu allen Heiligen in der Gegend Kontakt aufzunehmen, und damit war der Missionssitz für Nora zum zweiten Zuhause geworden. Bisweilen passte sie auch auf die Kinder der Heatons auf. Hier und da brachte sie den Missionaren Kantonesisch und Mandarin bei. Zusammen mit Luana Heaton unterrichtete sie in der Stadt eine Sonntagsschulklasse für Kinder und brachte ihnen Geschichten aus der Bibel nahe.
Nora nahm den Missionsauftrag sofort an. Ein anderer einheimischer Heiliger, ein Ältester namens Lee Nai Ken, hatte eine Kurzzeitmission in Hongkong absolviert, und Präsident Heaton wollte unbedingt mehr Einheimische als Missionare berufen, denn die Missionare aus Nordamerika hatten oft Mühe, die chinesische Sprache zu erlernen und sich an die fremde Kultur zu gewöhnen. Viele Menschen in der Stadt waren zudem misstrauisch gegenüber Ausländern und hielten manchmal die Missionare irrtümlich für Vertreter der US-Regierung.
Nora und die übrigen chinesischen Mitglieder hingegen kannten die Kultur und mussten sich nicht erst mit der Sprache abmühen. Außerdem hatten sie oft einen besseren Draht zu den Menschen, mit denen sie über das Evangelium sprachen. Als Flüchtling vom chinesischen Festland wusste Nora, wie es ist, in einer überfüllten Stadt, in der Wohnraum und Arbeitsplätze Mangelware sind, ein neues Leben zu beginnen.
In Hongkong waren viele Mitglieder und potenzielle Kandidaten für die Taufe Flüchtlinge, und Präsident Heaton suchte stets nach Möglichkeiten, für ihr geistiges Wohl zu sorgen. 1952 hatte die Kirche sieben Missionarslektionen eingeführt, um etwaige Bekehrte auf die Mitgliedschaft in der Kirche vorzubereiten. Die örtlichen Gegebenheiten machten es erforderlich, dass Präsident Heaton und seine Missionare insgesamt siebzehn Lektionen über das Evangelium ausarbeiteten, um die vielen Menschen in Hongkong anzusprechen, die keine Christen waren oder vom christlichen Glauben nur die Grundzüge verstanden. Diese Lektionen behandelten Themen wie die Gottheit, das Sühnopfer Jesu Christi, die ersten Grundsätze und Verordnungen des Evangeliums sowie die Wiederherstellung. Nach der Taufe erhielten die Bekehrten dann zusätzlich zwanzig Lektionen für neue Mitglieder.
In der Nacht bevor sie als Missionarin eingesetzt wurde, hatte Nora einen sehr wirklichkeitsnahen Traum. Sie stand an einer belebten Straße mit dem üblichen chaotischen Verkehrsaufkommen, als sie ein wunderschönes Gebäude bemerkte. Sie ging hinein und verspürte unmittelbar Frieden und Ruhe. Die Menschen darin waren weiß gekleidet, und Nora erkannte einige von ihnen: Sie waren derzeit als Missionare in Hongkong tätig.
Am nächsten Tag erzählte Nora den Missionaren im Missionsheim von ihrem Traum. Die Missionare waren verblüfft. Woher wusste Nora denn, wie ein Tempel aussah? Sie hatte ja noch nie einen gesehen!
Die Boxausrüstung von Chuck Woodworth kam im Oktober 1957 auf Niue an, und die gesamte Familie Muti unterstützte ihn beim Training. Salavia fertigte aus Kartoffelsäcken eine Art Sandsack an, den Mosese bei Bedarf immer wieder flickte. Angesichts der vielen Missionsaufgaben auf der Insel hatten jedoch weder Chuck noch die Familie viel Zeit zum Trainieren. Manchmal stand Chuck schon um fünf Uhr morgens auf, um zu laufen. Da es um diese Zeit draußen noch dunkel war, fuhr Paula, der sechzehnjährige Sohn der Mutis, auf dem Motorrad hinter ihm her und beleuchtete die Straße mit dem Scheinwerfer.
Zum Glück war Chuck für den Boxsport körperlich in einer passablen Verfassung. Das Zertrümmern der Korallen im vergangenen Jahr hatte ihn gut bei Kräften gehalten. Außerdem hatte er auf der Insel einige Boxkämpfe veranstaltet, um Geld für das Gemeindehaus zu sammeln. Aber würde das beiläufige Training ausreichen?
Vor seiner Mission hatte Chuck viele Stunden im Fitnessstudio verbracht und für Preisboxkämpfe im Westen der Vereinigten Staaten und in Kanada trainiert. Die meisten Kämpfe hatte er gegen andere eher unbekannte Boxer bestritten, aber er war auch gegen Weltklasseboxer wie Ezzard Charles und Rex Layne angetreten.
Der Kampf gegen Rex, einen berühmten Schwergewichtler und Heiligen der Letzten Tage, war der härteste in Chucks Karriere gewesen. Rexʼ größte Erfolge als Boxer lagen schon hinter ihm, aber er war rund elf Kilo schwerer als Chuck, und wegen seiner wilden, unerbittlichen Angriffe hatte Chuck zehn brutale Runden lang immer wieder in den Seilen gehangen. Chuck konnte sich zwar auf den Beinen halten, doch die Kampfrichter erklärten Rex zum Sieger.
„Woodworth“, so tönte die Lokalzeitung, „war nicht stark genug.“
Im Dezember traf auf Niue die Nachricht ein, dass ein neuseeländischer Boxverband Chuck gegen Kitione Lave, den „Tongaischen Torpedo“, antreten ließ. Wie Rex Layne kämpfte auch Kitione wie ein Bulle, und mit seiner Größe und Kraft hatte er so manchen Gegner übel zugerichtet. Einen Kampf gegen einen der weltbesten Schwergewichtsboxer hatte Kitione in der zweiten Runde durch einen K.-o.-Schlag gewonnen.
Chuck wurde Anfang Januar 1958 von seiner Mission entlassen, kurz nachdem er und die übrigen Missionare das Dach des neuen Gemeindehauses gedeckt hatten. Salavia schrieb ihm einen Abschiedsbrief, in dem sie ihm die Liebe und immerwährende Unterstützung ihrer Familie zusicherte. „Mein Kind, gib dein Bestes“, legte sie ihm ans Herz. „Lass dich nicht entmutigen, dann wirst du siegen. Wenn deine Kraft von unseren Gebeten begleitet ist, kann dich nichts aufhalten. Wir vertrauen darauf, dass Gott dir hilft.“
Der Kampf war für den 27. Februar 1958 angesetzt. Den ganzen Tag über fasteten und beteten Mosese, Salavia und ihre Kinder für Chuck. Als es Abend wurde, versammelten sie sich mit Dutzenden von Mitgliedern und Freunden im Gemeindehaus, um den Kampf im Radio mitzuverfolgen. Da die Übertragung auf Englisch war, übersetzte Mosese sie ins Niueanische.
Eine Rekordzahl von fast fünfzehntausend Zuschauern hatte sich im Carlaw-Park in Auckland in Neuseeland eingefunden, um den Kampf anzusehen. Als Chuck den Ring betrat, standen die Chancen für ihn nicht gut. Kitione war neun Kilo schwerer als er, und in den Tagen vor dem Kampf hatte Chuck mitbekommen, dass sein Konkurrent ihn als „Spatz“ bezeichnet hatte, der keine einzige Runde überstehen werde.
Sobald die Glocke läutete, stürzte sich Kitione auf Chuck. „Das wird ein Massaker“, stöhnte jemand aus der Menge auf.
Chuck wich dem Angriff aus und versetzte Kitione einen wirkungslosen Schlag. Kitione feuerte mit seinen Fäusten ein paar Mal schnell zurück und traf Chuck an Kopf und Oberkörper. Dann setzte Kitione zum K.-o.-Schlag an. Er holte aus und setzte mit der Linken einen kräftigen Haken. Chuck wich einen Schritt zurück, und Kitiones Handschuh traf ihn am Kinn. Die Wucht des Schlages schleuderte Chuck in die Seile. Für einen Moment schien alles um ihn herum zu verschwimmen.
Instinktiv griff Chuck nach Kitione und klammerte, während sich alles um ihn herum drehte. Der Schiedsrichter versuchte, die beiden zu trennen, doch da läutete die Glocke. Die Runde war vorbei.
Chuck bekam erst wieder einen klareren Kopf, als er sich in seiner Ecke erholte. Bei der nächsten Runde begab er sich mit neuem Schwung in die Mitte des Ringes. Kitiones Fäuste trafen ihn immer wieder und wollten ihm den finalen Schlag verpassen, doch Chuck hielt sich leichtfüßig auf den Beinen. Er umkreiste seinen Gegner, hielt sich von den Ecken fern und verpasste ihm einen Schlag nach dem anderen. Der Torpedo konnte da nicht mithalten. Mit jeder neuen Runde spürte Chuck, wie er an Kraft gewann. Er konnte hören, wie ihn die Menge anfeuerte, und er sammelte Punkt um Punkt.
Der Kampf endete nach zwölf Runden, und die Kampfrichter erklärten Chuck zum Sieger. Kitione nahm die Niederlage sportlich hin. „Das hat Spaß gemacht“, sagte er. „Dieser Woodworth ist ein guter, schneller Boxer – und ein richtig netter Typ.“
Mosese schickte Chuck am nächsten Tag ein Telegramm. „Vielen Dank für diesen großartigen Kampf – und den Sieg“, stand darin. Chucks Antwort bestand darin, dass er umgehend so viel Geld überwies, dass Familie Muti für den Rest ihrer Mission versorgt war und das Ehepaar außerdem zum Tempel nach Neuseeland reisen konnte.
Einige Monate später verhaftete auf der anderen Seite der Welt die Polizei in der Deutschen Demokratischen Republik den siebenundzwanzig Jahre alten Henry Burkhardt. Er kehrte soeben in den östlichen, von den Kommunisten kontrollierten Sektor Berlins zurück, nachdem er sich mit Burtis Robbins, dem Präsidenten der Norddeutschen Mission, im westlichen Sektor der Stadt getroffen hatte. Der Grenzübertritt in das von den Alliierten kontrollierte Westberlin war zwar nicht illegal, doch da Henry diese Möglichkeit so oft nutzte, machte er sich verdächtig.
Es war fast ein Jahrzehnt her, seit Deutschland in die Bundesrepublik (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) geteilt worden war. Beide Länder waren weiterhin wichtige Akteure im Kalten Krieg zwischen den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und ihren jeweiligen Verbündeten. Westberlin lag mitten im Gebiet der DDR und war daher zu einem Symbol des Widerstands gegen den Kommunismus geworden. Die DDR wiederum war zwischenzeitlich schon zu einem der sowjetisch geprägten Länder in Mittel- und Osteuropa geworden.
Während die rivalisierenden Mächte um die globale Vorherrschaft wetteiferten, entwickelte sich ein Wettlauf an stärkeren Waffenarsenalen und immer ausgefeilterer Technologie. Vertrauen zwischen den gegnerischen Nationen gab es nur selten. Jeder könnte ja Geheimnisse an den Feind weitergeben.
Henry leistete keinen Widerstand, als ihn die Polizei auf ein Revier in Königs Wusterhausen, einer Stadt außerhalb Ostberlins, brachte. Die Stasi, die Geheimpolizei der DDR, hatte ihn und seine Familie schon seit einiger Zeit im Visier. Durch seine Berufung als Erster Ratgeber in der Missionspräsidentschaft hatte er regelmäßig Kontakt zu Präsident Robbins und weiteren amerikanischen Führern der Kirche. Dies und seine häufigen Besuche in Westberlin machten ihn zu einem potenziellen Staatsfeind.
Er war jedoch nichts dergleichen. Nach ihrer Siegelung im Schweizer Tempel im November 1955 waren Henry und seine Frau Inge in die DDR zurückgekehrt und hatten sich den zahlreichen Auflagen, die die Regierung für praktizierende Gläubige erlassen hatte, gefügt. Es gab keine ausländischen Missionare oder Führungskräfte im Land, und Henry konnte nicht direkt mit den Vertretern der Kirche in Salt Lake City kommunizieren. Er und die Heiligen mussten ihre Ansprachen für die Abendmahlsversammlung immer im Vorhinein den Regierungsbeamten vorlegen, bevor sie sie halten durften.
Die Tätigkeit als ranghöchster Führer der Kirche in der DDR hielt Henry in Atem. Er bekam Inge und die neugeborene Tochter Heike nur bei kurzen Besuchen zuhause zu Gesicht. Ansonsten bereiste er die ganze Mission und kümmerte sich um die fünftausend Heiligen, die in fünfundvierzig Zweigen im ganzen Land verteilt waren.
Wann immer sich ein Mitglied gegen die Regierung aussprach, jemanden zur Auswanderung in die Vereinigten Staaten ermunterte oder seine Schulden nicht bezahlte, wurde Henry damit in Verbindung gebracht. Als die Polizei zwei Jahre zuvor versucht hatte, ostdeutsche Missionare daran zu hindern, ein dortiges Mitglied zu besuchen, reichte er eine formelle Beschwerde bei der Regierung ein, in der er die Rechte der Missionare geltend machte und um eine „bessere Zusammenarbeit“ seitens der Polizei bat. Er pflegte bewusst einen höflichen und diplomatischen Umgang mit den Regierungsbeamten, was ihm in der Regel zugutekam.
Auf dem Polizeirevier in Königs Wusterhausen wurde Henry die ganze Nacht über verhört. In seinem Auto befanden sich ein paar Geschenke von Präsident Robbins sowie Material für das Büro der Kirche in Ostdeutschland. Als die Polizei all dies sah, beschuldigte sie Henry, gegen das in der DDR geltende Verbot verstoßen zu haben, als Staatsbürger Spenden von ausländischen Organisationen anzunehmen. Er hatte, wie sie es ausdrückten, einen „Verstoß gegen das Wirtschaftsrecht“ begangen.
Davon hatte Henry noch nie etwas gehört. Im Verhör gab er an, dass er jeden Monat nach Westberlin fahre. „Der einzige Grund für mein Treffen mit Herrn Robbins“, erklärte er, „ist der, mit ihm über religiöse Angelegenheiten und die damit verbundenen finanziellen Belange zu sprechen.“
Auch Geschenke vonseiten des Missionspräsidenten seien nichts Ungewöhnliches. „Ich habe bei jedem unserer monatlichen Treffen Geschenke in dieser Form oder in Form von Medikamenten erhalten“, gab Henry an. „Wir bekommen auch Pakete per Post, die aus dem Ausland an unser Büro in Dresden geschickt werden.“
Die Polizei konfiszierte die Geschenke, durchsuchte Henrys Aktenkoffer und wühlte in einigen Missionsberichten, die er mit sich führte. Da sie nichts Verdächtiges fanden, befahlen sie Henry, den offiziellen Bericht über sein Treffen mit Präsident Robbins zu lesen, zu bestätigen und zu unterschreiben. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits weit nach vier Uhr morgens. Später am Tag wurde er schließlich aus der Haft entlassen.
Henrys Verhaftung hätte viel schlimmer ausgehen können. Als die Polizei etwa einen ostdeutschen Missionar mit einer Ausgabe der Kirchenzeitschrift Der Stern erwischte, wie sie damals im deutschsprachigen Raum hieß, hatte sie ihn für neun Monate ins Gefängnis gesteckt. Henry und andere hatten versucht, den Missionar aufzumuntern, aber sie konnten nur wenig für ihn tun. Er hatte gestanden, die Zeitschrift zu besitzen, und die Regierungsbeamten waren – zumindest in diesem Fall – unnachgiebig.
Solche Begegnungen mit der Polizei veränderten Henry. Er hatte keine Angst mehr vor den Behörden, vor allem, wenn er oder die Heiligen nichts verbrochen hatten. Es war an der Tagesordnung, für das Evangelium Risiken eingehen zu müssen.
Er hatte sich an das Gefühl gewöhnt, ständig mit einem Bein im Gefängnis zu stehen.
Am Morgen des 12. April 1958 erblickten Mosese und Salavia Muti zum ersten Mal den Tempel in Neuseeland. Er stand hundertzwanzig Kilometer südlich von Auckland auf dem Kamm eines grasbewachsenen Hügels mit Blick auf ein weitläufiges Flusstal. Wie der Schweizer Tempel sah er schlicht und modern aus. Er hatte weißgestrichene Mauern aus Stahlbeton und nur einen Turm, der mehr als fünfundvierzig Meter in die Höhe ragte.
Die Mutis waren gerade rechtzeitig zum Tag der offenen Tür in Neuseeland angekommen. Tausende und Abertausende aus ganz Neuseeland, Australien und den Inseln des Pazifiks wollten den Tempel sehen, und so mussten Mosese und Salavia anderthalb Stunden warten, bevor sie die Führung machen konnten.
Drinnen bewunderten sie die Schönheit des Tempels und staunten über die enormen Opfer der in Neuseeland lebenden Heiligen. Wie das Gemeindehaus in Niue und eine wachsende Zahl von Kirchengebäuden überall in Ozeanien war auch der Tempel größtenteils von Arbeitsmissionaren errichtet worden. Diese Arbeiter waren mit ihrer Familie nach Neuseeland gezogen, um dort nicht nur den Tempel zu bauen, sondern auch die angrenzenden Bauten auf dem Gelände des Church College, einer neuen Highschool der Kirche.
Am Tag nach der Besichtigung des Tempels wurde Mosese gebeten, bei einer Abendmahlsversammlung tongaischer Heiliger in der Gegend zu sprechen. Als er sich dem Pult näherte, war er in Gedanken bei der Verheißung, die George Albert Smith ihm zwanzig Jahre zuvor gemacht hatte, dass nämlich Mosese den Tempel besuchen werde, ohne dass ihm dadurch Kosten entstehen würden. Mosese hatte Chuck Woodworth nichts von dieser Verheißung erzählt. Als der junge Mann die Reise der Mutis zum Tempel bezahlte, hatte er, ohne es zu wissen, eine Prophezeiung erfüllt.
„Ich bin jemand, der für die Worte des neuzeitlichen Propheten Zeugnis ablegt“, sagte Mosese den Anwesenden. „Ich weiß, dass George Albert Smith ein wahrer Prophet Gottes ist, denn meine Frau und ich sind Zeugen seiner Worte geworden.“ Dann sprach er über Chucks Opfer zugunsten der Familie Muti. „Wir sind heute Abend hier dank der unsterblichen Liebe eines einzelnen Mannes“, bezeugte er. „Das werden wir niemals vergessen, komme, was wolle.“
Eine Woche später kam Präsident David O. McKay nach Neuseeland und weihte den Tempel. Durch das Gebäude wurde eine Prophezeiung erfüllt, die er fast vierzig Jahre zuvor gemacht hatte, als er auf seiner ersten Weltreise als Apostel Neuseeland besucht hatte. Damals hatte er einer Gruppe von maorischen Heiligen zugesichert, dass sie eines Tages einen Tempel haben werden. Sein Dolmetscher bei der Ansprache war Stuart Meha gewesen, der soeben die Übersetzung des Endowments in die maorische Sprache zu Ende gebracht hatte.
Im Weihungsgebet würdigte Präsident McKay den Einsatz der Arbeitsmissionare sowie weiterer Heiliger, die für den Bau des Tempels und der Kirchengebäude alles gegeben hatten. „Möge jeder, der etwas gespendet hat, im Geiste getröstet sein, und möge sich sein Lohn vervielfachen“, bat er. „Mögen sie sich der Dankbarkeit von Tausenden, gar Millionen, auf der anderen Seite bewusst sein, für die sich nun die Gefängnistüren öffnen und denen die Befreiung verkündet werden kann.“
Wenige Tage später erhielten Mosese und Salavia das Endowment und wurden für Zeit und Ewigkeit gesiegelt. Im Tempel verspürte Mosese die herrliche Gegenwart Gottes. „Wie könnte ich meinen Vater im Himmel und seinen Sohn Jesus Christus nicht mit allem, was ich habe, lieben, wo ich doch weiß, dass sie im Tempel für mich da waren“, sagte er anschließend. Diese Erfahrung eröffnete ihm eine neue Perspektive auf Gottes ewigen Plan.
„Alles, was ich in der Kirche getan habe und tue, weist auf den Tempel hin“, erkannte er. „Es ist der einzige heilige Ort, an dem die Familie vereint werden und für immer als Einheit fortbestehen kann.“