Kapitel 4
Die Mission der Kirche
Am Morgen des 2. September 1958 blickte Präsident David O. McKay aus nahezu sechstausend Metern Höhe auf die Erde herab. Vier Monate waren vergangen, seit er den Tempel in Neuseeland geweiht hatte, und schon saß er wieder im Flugzeug, diesmal auf dem Weg nach England, um den Tempel in London zu weihen. Obwohl es für den Propheten nichts Neues war, über den Wolken zu fliegen – hatte er doch, seit er an der Spitze der Kirche stand, bereits mehr als vierhunderttausend Kilometer im Flugzeug zurückgelegt –, war er immer noch von der Leichtigkeit und Geschwindigkeit des Fliegens beeindruckt. Kein Präsident der Kirche vor ihm war so weit und so schnell gereist.
Beim Blick aus dem Flugzeug dachte er darüber nach, wie rasch sich die Welt verändert. Erst im vergangenen Jahr hatten die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten Satelliten in die Erdumlaufbahn gebracht, und nun schien die ganze Welt vom Gedanken an die Raumfahrt wie gebannt zu sein. Präsident McKay glaubte jedoch, dass sich in den nächsten Jahrzehnten noch weitaus bemerkenswertere Veränderungen ergeben würden, insbesondere für die Kirche.
„Das große Wachstum der letzten fünfundzwanzig Jahre kann zu noch größerem Wachstum und Gutem in der Welt führen“, sagte er zu den Heiligen, die mit ihm flogen, „wenn wir die Möglichkeiten wirklich gut zu nutzen verstehen, die uns der Herr eröffnet.“
Präsident McKay war besonders optimistisch, was die Britische Mission betraf. Apostel Heber C. Kimball hatte die Mission im Jahr 1837 eröffnet. Seitdem waren auf den Britischen Inseln rund einhundertfünfzigtausend Menschen der Kirche beigetreten. Mehr als die Hälfte von ihnen, so auch die Eltern von Präsident McKay, waren nach Utah ausgewandert. Präsident McKay selbst hatte in Großbritannien zwei Missionen erfüllt – zunächst als junger Missionar in den späten 1890er Jahren und dann als Präsident der Europäischen Mission in den frühen 1920er Jahren.
Doch die Auswanderungswelle, zwei Weltkriege, die Wirtschaftskrise und das immer noch anhaltende falsche Bild in der Öffentlichkeit waren lange der Grund dafür gewesen, dass die Kirche in Großbritannien nicht nennenswert wuchs, und nun lebten dort nur noch etwa elftausend Heilige. Der neue Tempel hatte jedoch auch bei den Briten großes Interesse an der Kirche geweckt.
Präsident McKay traf am 4. September in London ein, und drei Tage später kamen die Heiligen aus dem Vereinigten Königreich sowie anderen Orten in Europa zur Weihung zusammen. Der Tempel stand südlich von London auf dem Gelände eines alten englischen Herrenhauses. Das knapp dreizehn Hektar große Gelände wies weitläufige Rasenflächen, uralte Eichen und eine Vielzahl von Sträuchern und Blumen auf. In einem flachen Becken spiegelten sich das schlichte Mauerwerk und der kupferne Turm des Tempels.
Präsident McKay weinte, als er das Gebäude sah. „Stellen Sie sich das nur vor! Ich habe lange genug gelebt, um in England einen Tempel zu bauen“, meinte er.
Vor dem Weihungsgebet sprach der Prophet mit großer Ergriffenheit über die Kirche in Großbritannien. „Dies ist der Beginn einer neuen Ära“, sagte er, „und wir hoffen und beten um eine neue Ära besseren Verständnisses bei allen ehrlichen Menschen allenthalben.
Mehr vom Geist der Nächstenliebe, mehr vom Geist der Liebe, weniger Streit und Zank“, erklärte er. „Das ist die Mission der Kirche.“
Anfang 1959 bestiegen Schwester Nora Koot und ihre Mitarbeiterin, Elaine Thurman, einen Zug – zusammen mit einer Gruppe von Jugendlichen der Heiligen der Letzten Tage aus Tai Po, einem ländlichen Bezirk im Nordosten Hongkongs. An diesem Abend fand in einem gemieteten Saal in der Stadt ein Tanzabend der Kirche statt, und die Jugendlichen waren deswegen ein wenig nervös. Es waren alles neue Mitglieder der Kirche, und keiner von ihnen hatte jemals viel Zeit in der Stadt verbracht. Sie wussten auch gar nicht, was sie erwartete.
Selbst Nora wusste nicht so recht, was sie erwartete. Bei dem Tanzabend handelte es sich um den ersten Grün-Gold-Ball der Kirche in Hongkong. Der Grün-Gold-Ball war nach den offiziellen Farben der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung der Kirche benannt und war seit den 1920er Jahren das Ereignis im Jahr, auf das sich die Jugendlichen in der Kirche schon freuten – vor allem in Gegenden, wo die Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigungen der Jungen Männer und der Jungen Damen gut vertreten waren. Bei solchen Bällen hatten die jungen Leute die Gelegenheit, Mitglieder der Kirche kennenzulernen, und die amerikanischen Missionare wollten den chinesischen Heiligen diese Tradition gern nahebringen. Immerhin war die Kirche in Hongkong im vergangenen Jahr um mehr als neunhundert neue Mitglieder gewachsen.
Die Zugfahrt in die Stadt dauerte etwa eine Stunde. Als Nora, Elaine und die Jugendlichen aus Tai Po ankamen, stellten sie fest, dass der Ausschuss der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung in der Mission, der ausschließlich aus amerikanischen Missionaren bestand, alles getan hatte, damit der Tanzabend einem Grün-Gold-Ball in den Vereinigten Staaten in nichts nachstand. Von der Decke hingen goldene und grüne Luftschlangen, und fünfhundert Luftballons warteten hoch über der Tanzfläche darauf, am Ende des Abends durch Ziehen an einer Schnur heruntergelassen zu werden. Für das leibliche Wohl war mit Keksen und Punsch gesorgt.
Doch als der Ball begann, geriet etwas in Schieflage. Ein Lautsprecher war mit einem Plattenspieler verbunden, und die Missionare spielten beliebte amerikanische Tanzmusik. Die Organisatoren hatten nur wenige Stühle im Raum aufgestellt – in der Hoffnung, dass die jungen Leute durch die spärlichen Sitzgelegenheiten auf die Tanzfläche gelockt würden. Doch die Masche funktionierte nicht. Kaum jemand tanzte.
Nach einer Weile begannen einige Heilige aus Hongkong, die Musik zu spielen, die sie mochten, und mit einem Schlag war alles anders. Die Missionare hatten offenbar den Geschmack der Einheimischen nicht getroffen. Sie hatten Instrumentalstücke gespielt, obwohl die chinesischen Heiligen Lieder mit Gesang wollten. Die Heiligen tanzten auch lieber zu langsamen Walzern, Cha-Cha-Cha und Mambo, was die Missionare wiederum nicht spielten. Sobald sich jedoch die Musik änderte, drängten sich alle auf die Tanzfläche und tanzten.
Trotz des holprigen Starts wurde der Grün-Gold-Ball ein Erfolg. Kurz bevor der Tanzabend enden sollte, wurden allerdings die Luftballons losgemacht, die nun auf die Tanzenden herabpurzelten. Die chinesischen Heiligen dachten, der Ball sei vorbei, und drängten sich flugs durch die Tür. Die Missionare versuchten noch, sie zurückzurufen, damit sie wenigstens ein Schlussgebet sprechen konnten, aber vergeblich. Fast alle waren schon weg.
Den ganzen Abend über hatte Nora es genossen, den Heiligen aus Tai Po zuzuschauen, wie sie sich unter die anderen jungen Leute aus der Region mischten. Die Arbeit in Tai Po war einer der Höhepunkte ihrer bisherigen Mission, und die Zeit dort hatte ihr Zeugnis gestärkt.
Doch einige Monate nach dem Grün-Gold-Ball hieß es, dass sie weiterziehen musste. Präsident Heaton sandte sie nämlich nach Taiwan, einer Insel, die beinahe siebenhundert Kilometer weiter östlich lag.
Im selben Jahr war Elder Spencer W. Kimball vom Kollegium der Zwölf Apostel beim ersten Anblick von Rio de Janeiro in Brasilien entzückt. Die hochragenden grünen Berge und die Wolkenkratzer am Strand waren in den Morgennebel gehüllt. Aber vom Deck ihres Ozeandampfers aus konnten Elder Kimball und seine Frau Camilla die berühmteste Sehenswürdigkeit der Stadt leicht erkennen: Cristo Redentor, jene prachtvolle, achtunddreißig Meter hohe Statue des Erretters, die den Hafen ziert.
Rio de Janeiro war die erste Station der Kimballs auf ihrer zweimonatigen Reise durch die südamerikanischen Missionen der Kirche. Etwa achttausend Heilige lebten in Südamerika, und die Zweige auf dem gesamten Kontinent wuchsen stetig. Im Bestreben, diese Mitglieder zu unterstützen, hatten Präsident McKay und seine Ratgeber vor kurzem die Ausweitung des Bauprogramms der Kirche auf Südamerika genehmigt und den Bau von fünfundzwanzig Gemeindehäusern bewilligt.
Als nun Elder Kimball die Heiligen in Südamerika aufsuchte, wollte er vor allem wissen, was sie brauchten, und herausfinden, wie die Kirche ihnen helfen könne, das Werk des Herrn voranzubringen. Sowohl er als auch seine Frau waren in unmittelbarer Nähe zu indigenen Stämmen aufgewachsen, die an der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko lebten. Und einige Jahre nach seiner Berufung ins Kollegium der Zwölf Apostel hatte Elder Kimball von Präsident George Albert Smith den Sonderauftrag erhalten, unter den indigenen Völkern der Welt geistlich zu wirken. Seitdem hatte er an Konferenzen und Programmen für diese Heiligen in Nordamerika teilgenommen, und er hoffte, Ähnliches in Südamerika vollbringen zu können.
Vor allem aber freute sich Elder Kimball darauf, sich mit den vielen Heiligen zu unterhalten, die er auf seiner Reise kennenlernen würde. Anderthalb Jahre zuvor hatten Ärzte die vom Krebs befallenen Stimmbänder aus seinem Rachen entfernt. Eine Zeit lang hatte er befürchtet, nie wieder sprechen zu können. Aber nach vielen Gebeten und Priestertumssegen lernte er, sich in einem rauen Flüsterton zu verständigen. Für dieses Wunder war er dem Vater im Himmel dankbar.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Brasilien besuchten Elder Kimball und seine Frau Argentinien, wo die Kirche in insgesamt fünfundzwanzig Zweigen an die zweitausendsiebenhundert Mitglieder hatte. Seit der Ankunft der Missionare in Argentinien in den 1920er Jahren hatten sich Zweige der Kirche auch in weiteren spanischsprachigen Ländern der Region etabliert. In den 1940er Jahren kamen Missionare nach Uruguay, Guatemala, Costa Rica und El Salvador. Und in den 1950er Jahren begann man, das wiederhergestellte Evangelium auch in Chile, Honduras, Paraguay, Panama und Peru zu verkünden.
Nach einigen Tagen in Argentinien machten sich die Kimballs westwärts auf den Weg nach Chile, wo die Kirche sieben Zweige und etwa dreihundert Mitglieder hatte. Chile gehörte seit 1955 zur Argentinischen Mission, und viele Missionare fanden, dass gerade in diesem Land das Evangelium am besten angenommen wurde.
Von der Argentinischen Mission aus reisten die Kimballs nach Uruguay, um mit den Heiligen in Montevideo und weiteren Städten zusammenzukommen. Anschließend kehrten sie nach Brasilien zurück, um sich die Mission genauer anzusehen. Auf ihrer Reise durch den Süden Brasiliens machten sie auch in der Stadt Joinville Halt, wo die Kirche in jenem Land die ersten Erfolge zu verzeichnen gehabt hatte. Dort lernte Elder Kimball ein Mitglied kennen, das nicht das Priestertum tragen durfte, weil es afrikanischer Abstammung war. Der Mann war bedrückt, denn er ging davon aus, dass die Einschränkungen beim Priestertum ihn daran hinderten, überhaupt auch nur irgendeine Berufung in der Kirche auszuüben.
„Ich darf nicht mal den Türdienst übernehmen, oder?“, fragte er.
Elder Kimball war das Herz schwer. „Sie können überall dort dienen, wofür Sie das Priestertum nicht brauchen“, sagte er und hoffte, dass diese Zusicherung dem Mann etwas Trost schenkte.
Bei anderen Versammlungen in Brasilien sah Elder Kimball nicht allzu viele Schwarze unter den Heiligen, was ihn zu der Annahme veranlasste, dass die Einschränkungen beim Priestertum kein unmittelbares Hindernis für die Kirche in Brasilien darstellten. Er stellte jedoch bald fest, dass fast vierzig Prozent der brasilianischen Bevölkerung afrikanischer Abstammung war, was Fragen zum künftigen Wachstum der Kirche dort aufwarf, insbesondere in den nördlichen Bundesstaaten, wo der Anteil der schwarzen Bevölkerung deutlich höher war.
Die Reise führte die Kimballs schließlich auch nach São Paulo, wo sie Hélio da Rocha Camargo und seine Frau Nair kennenlernten, die sich der Kirche nicht lange nach ihrem Mann angeschlossen hatte. Das Ehepaar brachte den einjährigen Sohn Milton zu Elder Kimball und bat ihn um einen Priestertumssegen. Milton war gesund zur Welt gekommen, doch in letzter Zeit hatten seine Gliedmaßen an Kraft verloren und waren zunehmend unkoordiniert gewesen. Die Ärzte befürchteten, dass er an Polio erkrankt sein könnte – einer Krankheit, die zu Lähmungserscheinungen führte und an der viele Kinder und Erwachsene auf der ganzen Welt erkrankt waren. Elder Kimball segnete den Jungen, und am nächsten Tag waren die Camargos überglücklich, als Milton sich an den Stäben seines Kinderbettchens hochzog und zum ersten Mal auf beiden Beinen stand.
Elder Kimball erhielt in Südamerika viele weitere Anfragen wegen eines Priestertumssegens, und er freute sich, den Menschen auf diese Weise dienen zu können. Er musste jedoch überrascht feststellen, dass entgegen den üblichen Gepflogenheiten in der Kirche viele Jungen und Männer nicht im Priestertum aufrückten und daher nicht das Amt hatten, das sie hätten haben können. Hélio zum Beispiel hatte seinen Sohn wegen eines Segens zu Elder Kimball gebracht, weil er selbst nicht das Melchisedekische Priestertum trug, obwohl er seit fast zwei Jahren aktives Mitglied der Kirche war.
Außerdem hörte Elder Kimball, dass die Missionare oft lange zögerten, die Verantwortung für Zweige und Distrikte an die einheimischen Heiligen abzugeben. Folglich hatten nur wenige Mitglieder in Südamerika Erfahrung als Führungsverantwortliche oder Lehrer in der Kirche. Und die Missionare waren so sehr mit Aufgaben beschäftigt, die eigentlich die Heiligen vor Ort erfüllen sollten, dass sie kaum Zeit hatten, das Evangelium zu verkünden.
Am Ende seiner Reise stand für Elder Kimball fest, dass es einiges zu ändern gab. Viele Heilige außerhalb Nordamerikas besuchten Zweige in Distrikten oder Missionen, die oftmals von Mitgliedern aus den Vereinigten Staaten geleitet wurden. Die Gründung von Pfählen in diesen Gebieten würde mehr einheimischen Heiligen die Möglichkeit geben, selbst in der Kirche zu dienen.
Im Mai 1958 – einen Monat nach der Weihung des Neuseeland-Tempels – hatte die Kirche in Auckland einen Pfahl gegründet. Es war der erste Pfahl außerhalb Nordamerikas und Hawaiis. Elder Kimball war der Ansicht, dass man bald auch mancherorts in Argentinien und Brasilien einen Pfahl gründen könne, und er spornte die Missionsführer an, auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Außerdem kam er zu dem Schluss, dass die Kirche durchaus eine neue Mission in Chile und Peru und eine zweite Mission in Brasilien eröffnen könne.
„Wir kratzen bei unserer Arbeit in diesem Land nur an der Oberfläche“, teilte er der Ersten Präsidentschaft kurz nach seiner Rückkehr mit. „Die Zeit ist gekommen, um in den Ländern Südamerikas verstärkt Missionsarbeit zu betreiben.“
Nora Koot kam Ende Juli 1959 in Taiwan an, etwa drei Jahre nachdem Präsident Heaton die erste Gruppe von Missionaren der Heiligen der Letzten Tage auf die Insel gesandt hatte. Mit einer Mitgliederzahl von weniger als dreihundert Heiligen war die Kirche in Taiwan weder so groß noch so gut organisiert wie die Kirche in Hongkong. Dennoch fanden die Missionare dort unter der großen Zahl chinesischer Flüchtlinge, die wie Nora hauptsächlich Mandarin sprachen, Menschen, die sich für das Evangelium interessierten.
Nachdem sie sich in ihrer neuen Umgebung ein wenig eingelebt hatten, suchten Nora und ihre Mitarbeiterin Dezzie Clegg Madame Pi Yi-shu auf, die in Taiwan dem obersten Gesetzgebungsorgan angehörte. Madame Pi war mit Noras Stiefmutter zur Schule gegangen, und die hatte Nora ein Empfehlungsschreiben an ihre alte Freundin mitgegeben. Nora wollte Madame Pi gern darlegen, welche Segnungen die Kirche den Menschen in Taiwan zu geben vermochte.
Bei ihrer Zusammenkunft wiesen Nora und Dezzie das Schreiben vor, woraufhin Madame Pi sie bat, sich doch zu setzen. Ein Diener brachte ein wunderschönes Teeservice, und Madame Pi bot ihren Gästen Earl-Grey-Tee an.
Das Trinken dieser Art von Tee war zwar gegen das Wort der Weisheit, aber Nora wusste auch, dass es in diesem Kulturkreis unhöflich war, den Tee des Gastgebers abzulehnen. Doch im Laufe der Jahre hatten die Missionare und Mitglieder höfliche Methoden entwickelt, keinen Tee zu trinken, auch wenn er angeboten wurde. So hatte Konyil Chan, ein chinesischer Heiliger in Hongkong, der sich mit der gesellschaftlichen Etikette gut auskannte, den Missionaren empfohlen, den Tee einfach anzunehmen und ihn dann diskret beiseitezustellen. „Die Chinesen zwingen einen Bekannten niemals, Tee zu trinken“, hatte er ihnen versichert.
Nora und Dezzie lehnten den Tee dankend ab und erklärten Madame Pi, dass sie nach Taiwan gekommen seien, um den Menschen hier zu zeigen, wie man ein gesetzestreues und gutes Mitglied der Gesellschaft ist. Madame Pi bot ihnen jedoch immer wieder den Tee an.
„Verzeihen Sie, Madame“, sagte Nora schließlich, „wir trinken keinen Tee.“
Madame Pi wirkte fast schon erschrocken. „Ja warum denn nicht?“, erkundigte sie sich.
„Die Kirche lehrt uns, einen Grundsatz zu befolgen, den wir als das Wort der Weisheit bezeichnen. Dadurch bleibt unser Körper gesund und unser Verstand klar“, erwiderte Nora. Dann erklärte sie, dass die Mitglieder keinen Kaffee, Tee oder Alkohol trinken und weder Tabak noch Drogen wie Opium konsumieren. Zu jener Zeit riet die Kirche durch ihre Führer und in Veröffentlichungen auch von allen anderen Getränken ab, die Stoffe mit Suchtpotenzial enthielten.
Madame Pi dachte einen Moment lang darüber nach. „Und was dürfen Sie also trinken?“, fragte sie.
„So einiges“, entgegnete Nora. „Milch, Wasser, Orangensaft, 7 Up, Limonade.“
Madame Pi bat ihren Diener, das Teeservice zu entfernen und den Missionarinnen kalte Milch zu bringen. Dann erklärte sie sich damit einverstanden, dass die Missionarinnen den Menschen in Taiwan das Evangelium verkündeten. „Ich möchte, dass unser Volk zu besseren Staatsbürgern wird, gesünder lebt und gesetzestreuer ist“, sagte sie.
In den folgenden Tagen und Wochen sprach Nora mit vielen Menschen über das wiederhergestellte Evangelium. Die chinesischen Christen zeigten das meiste Interesse an der Kirche, aber auch einige Buddhisten und Taoisten fühlten sich davon angesprochen. Einige Menschen in Taiwan waren Atheisten und zeigten wenig Interesse am Christentum oder an der Kirche. Für andere war es hinderlich, dass es weder das Buch Mormon noch sonstige Literatur der Kirche in chinesischer Sprache gab.
Die Kirche in Taiwan wuchs langsam, aber die Menschen, die sich der Kirche anschlossen, waren sich der Bedeutung des Bundes, den sie bei der Taufe schlossen, sehr bewusst. Bevor sie Heilige der Letzten Tage werden konnten, mussten sie mit den Missionaren sämtliche Lektionen durchgehen, regelmäßig die Sonntagsschule und die Abendmahlsversammlung besuchen, mindestens zwei Monate lang das Wort der Weisheit und das Gesetz des Zehnten befolgen und sich verpflichten, weitere Gebote zu halten. Bis zum festgesetzten Tauftermin waren daher viele, die sich in Taiwan mit den Missionaren trafen, bereits aktiv in ihrem Zweig tätig.
Eine von Noras Hauptaufgaben auf der Insel bestand darin, die Frauenhilfsvereinigung zu stärken. Bis vor kurzem waren alle Frauenhilfsvereinigungen in Taiwan von amerikanischen Missionaren geleitet worden. Dies änderte sich jedoch Anfang 1959, als Präsident Heaton eine Missionarin namens Betty Johnson auf die Insel schickte, um Frauenhilfsvereinigungen zu gründen und in Taipeh und weiteren Städten weibliche Führungskräfte zu schulen. Nun setzten Nora und die anderen Missionarinnen Bettys Arbeit fort und reisten von Zweig zu Zweig, um überall die FHV-Organisationen nach Bedarf zu unterstützen.
Noras Mission endete am 1. Oktober 1959. Auf Mission hatte sie das Evangelium besser kennengelernt und bemerkt, wie ihr Glaube immer stärker wurde. Für sie war das Wachstum der Kirche in Hongkong und Taiwan die Erfüllung jenes Traums vom Propheten Daniel.
Die Kirche war in der Tat wie ein Stein, der sich ohne Zutun von Menschenhand von einem Berg löste und dahinrollte und die ganze Erde erfüllte.
Zu der Zeit, als Nora Koot ihre Mission beendete, arbeitete der siebenundvierzigjährige LaMar Williams im Büro der Missionsabteilung der Kirche in Salt Lake City. Wenn Pfahl- oder Missionsführer Literatur oder Anschauungsmaterial der Kirche benötigten, wie etwa ein Foto, schickte er es ihnen zu. Wollte jemand allgemeine Informationen zur Kirche haben, schickte LaMars Büro Lesestoff – zusammen mit den Kontaktdaten der zuständigen Missionare.
LaMar bearbeitete nicht jede Anfrage persönlich, aber seine Sekretärin sollte ihn benachrichtigen, wenn etwas von einem ungewöhnlichen Ort kam.
So bekam er mit, dass es eine Anfrage aus Nigeria gab. Eines Tages überreichte ihm seine Sekretärin die Frage eines Pastors namens Honesty John Ekong aus Abak in Nigeria. Honesty John hatte von einem protestantischen Geistlichen eine Broschüre über die Geschichte von Joseph Smith erhalten. Er füllte das Formular aus, worin er um weitere Informationen über die Kirche sowie um einen Besuch der Missionare und den Standort des nächstgelegenen Versammlungsgebäudes der Heiligen der Letzten Tage bat.
LaMar wusste nicht genau, wo Nigeria lag, also schauten er und seine Sekretärin auf der Weltkarte in seinem Büro nach. Da es sich um ein westafrikanisches Land handelte, wussten sie gleich, dass es schwierig sein werde, dieser Bitte nachzukommen. Die einzigen Gemeinden in Afrika befanden sich tausende von Kilometern entfernt an der Südspitze des Kontinents, sodass er weder Missionare entsenden noch die Adresse eines Versammlungshauses angeben konnte. Er wusste auch, dass Honesty John, sollte er ein Schwarzer sein, sich zwar taufen lassen konnte, jedoch nicht das Priestertum tragen könne.
„Wir müssen behutsam vorgehen“, dachte LaMar. Er packte einige Broschüren und Bücher der Kirche ein, darunter sechs Bücher Mormon, und schickte sie an die Adresse von Honesty John.
Kurze Zeit später antwortete der Pastor. „Ich muss mich bei Ihnen für die großzügigen Geschenke bedanken, die Sie mir geschickt haben“, schrieb er. Aus dem Brief konnte LaMar schließen, dass Honesty John zu einer Gemeinde gehörte, die an die Wiederherstellung des Evangeliums glaubte.
In den nächsten Monaten überquerte so mancher Brief zwischen LaMar und Honesty John den Atlantik. Honesty John lud LaMar ein, nach Nigeria zu kommen und seine Gemeinde im Evangelium zu unterweisen. LaMar wollte das Angebot gern annehmen, doch er wusste auch, dass es einige Zeit dauern würde, bis die Erste Präsidentschaft es genehmigen würde, jemanden nach Nigeria zu entsenden. Er ließ die Führer der Kirche jedoch wissen, dass es dort einen Nigerianer gab, der sich weiterführende Informationen wünschte, und schrieb in der Zwischenzeit weiterhin an Honesty John und andere, die sich an ihn wandten.
Im Februar 1960 schrieb LaMar an Honesty John und fragte ihn, ob er denn Zugang zu einem Tonbandgerät habe. Wenn die Kirche schon keine Missionare nach Nigeria berufe, könne er dem Pastor und seiner Gemeinde wenigstens Aufnahmen von Evangeliumslektionen schicken. Leider hatte Honesty John weder ein Abspielgerät noch das Geld, um eines zu kaufen. Aber er schickte LaMar ein Foto von sich. Auf dem Bild war ein junger schwarzer Mann zwischen seinen beiden kleinen Kindern zu sehen. Er trug Anzug und Krawatte und hatte einen ernsten Gesichtsausdruck.
Honesty John teilte LaMar auch mit, dass seine Gemeinde begonnen habe, sich „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ zu nennen. Sie sehnten sich danach, LaMar zu treffen und sich der Kirche anzuschließen. „Wenn jede Seele Flügel hätte“, erklärte er LaMar, „würden alle gerne nach Salt Lake City fliegen, um Sie persönlich zu hören und zu sehen.“
„Ich fühle mich geehrt, dass Sie den Wunsch haben, dass ich nach Nigeria komme“, antwortete LaMar, „aber ich müsste von der Präsidentschaft der Kirche einen solchen Auftrag bekommen.“
Weiter schrieb er: „Ich weiß das Vertrauen zu schätzen, das Sie mir entgegenbringen, und auch Ihren großen Wunsch, Ihrem Volk zu dienen. Ich werde alles tun, was ich durch unseren Briefwechsel für Sie tun kann.“