Kapitel 7
Kinder desselben Gottes
Anfang Oktober 1963 bereitete die Ortsgruppe der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People), einer schwarzen Bürgerrechtsbewegung, in Salt Lake City eine friedliche Protestkundgebung vor, die während der Generalkonferenz auf dem Tempelplatz stattfinden sollte. Da der bevorstehende Protest in den gesamten Vereinigten Staaten für Schlagzeilen sorgte, hofften die Organisatoren, die Demonstration werde die Führer der Kirche dazu bewegen, ihre Haltung zu den Bürgerrechten klarzustellen.
Zwar befürwortete die kircheneigene Tageszeitung Deseret News schon seit 1956 die schrittweise Aufhebung der Rassentrennung, doch Utah lag, was die Verabschiedung von Bürgerrechtsgesetzen anging, noch immer hinter benachbarten Bundesstaaten zurück. Die NAACP hoffte, eine eindeutige Stellungnahme der Kirche werde die Gesetzgeber dazu bewegen, allen Einwohnern Utahs den gleichen Schutz und die gleichen Chancen zu garantieren.
Proteste dieser Art waren zu dieser Zeit in den Vereinigten Staaten durchaus an der Tagesordnung. Im selben Jahr hatte US-Präsident John F. Kennedy bereits ein Bürgerrechtsgesetz eingebracht, das die Diskriminierung von Afroamerikanern und weiterer Menschen anderer Hautfarbe verhindern sollte. Einige Monate darauf war die NAACP Mitorganisator eines großen Protestmarsches in der Hauptstadt Washington, der sich gegen die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit in den Vereinigten Staaten richtete. Auf der Schlusskundgebung hielt Dr. Martin Luther King Jr., ein prominenter Bürgerrechtler, eine mitreißende Rede, die viele dazu bewog, sich der Rassendiskriminierung entgegenzustellen.
Sterling McMurrin war Professor für Philosophie an der University of Utah und hatte von der geplanten Protestaktion auf dem Tempelplatz gehört. Also sorgte er dafür, dass die Vorsitzenden des Ortsverbands der NAACP in Salt Lake City mit Hugh B. Brown aus der Ersten Präsidentschaft zusammenkamen.
Am Abend des 3. Oktober hieß Präsident Brown den Vorsitzenden des NAACP-Ortsverbandes, Albert Fritz, sowie weitere Organisatoren des Protestes im Verwaltungsgebäude der Kirche willkommen. Auch N. Eldon Tanner, der am selben Tag als Nachfolger von Henry D. Moyle in die Erste Präsidentschaft berufen worden war, stieß zu der Runde hinzu.
Bei dem Treffen fragten die Organisatoren, ob die Kirche beabsichtige, sich offiziell für die Bürgerrechte einzusetzen.
„Ihnen ist bestimmt bekannt“, sagte Präsident Brown, „dass sich die Kirche nicht in politische Angelegenheiten einmischt.“ Lange Jahre hatte die Kirche politische Neutralität gewahrt.
Die Organisatoren konterten mit dem Argument, die Kirche äußere sich häufig zu Fragen der Moral. Ihrer Ansicht nach seien Bürgerrechte den moralischen Fragen zuzuordnen.
Präsident Brown stimmte ihnen zu, doch weder er noch Präsident Tanner fanden, dass eine Protestkundgebung in aller Öffentlichkeit notwendig sei. Sie sagten zu, mit Präsident McKay zu sprechen und sich dafür stark zu machen, dass die Kirche eine Bürgerrechtsdeklaration veröffentliche.
Nach dem Treffen baten Präsident Brown und Präsident Tanner Sterling McMurrin, ihnen beim Aufsetzen einer Erklärung zu helfen, die Präsident McKay zur Genehmigung vorgelegt werden sollte. Albert Fritz bat unterdessen die Mitglieder der NAACP eindringlich, die Demonstration auf Eis zu legen und der Kirche Zeit zu gewähren, die Deklaration zu verfassen. Einige Demonstranten hatten schon Schilder gemalt, doch man kam überein, mit der Kundgebung noch mindestens eine Woche zu warten.
Am Samstag, dem 5. Oktober, teilte Präsident Brown der Vereinigung mit, Präsident McKay habe eine Erklärung genehmigt, die Präsident Brown am darauffolgenden Vormittag bei der Generalkonferenz verlesen werde.
Darin hieß es: „Es gibt in dieser Kirche keine Lehren, Glaubenssätze oder Gepflogenheiten, die darauf ausgerichtet sind, einem Menschen den vollen Genuss seiner Bürgerrechte zu verwehren, ungeachtet von Ethnie, Hautfarbe oder Religion. Wir glauben, dass alle Menschen Kinder desselben Gottes sind und dass es moralisch verwerflich ist, wenn Einzelpersonen oder Gruppierungen jemandem das Recht auf Arbeit und Einkommen, den Zugang zu allen Bildungsmöglichkeiten oder eines seiner Bürgerrechte verwehren.“
Weiter hieß es darin: „Wir rufen alle Menschen überall – ob sie der Kirche angehören oder nicht – dazu auf, sich für die bürgerliche Gleichstellung aller Kinder Gottes einzusetzen. Alles Geringere unterwandert unser hohes Ideal, dass nämlich alle Menschen Brüder sind.“
Die Erklärung machte in Salt Lake City und andernorts Schlagzeilen, und Albert Fritz setzte durch, dass die NAACP im Verlauf der Konferenz keinerlei Kundgebungen abhielt. Er war zuversichtlich, dass seine Organisation und die Kirche am selben Strang ziehen könnten.
„Wenn wir in Eintracht zusammenarbeiten“, so Fritz, „werden sich die Verhältnisse in unserem Bundesstaat zum Besseren wenden.“
Das ganze Jahr 1963 über bereiste Hélio da Rocha Camargo die verschiedensten Orte in Brasilien. Nicht lange nach Elder Spencer W. Kimballs Reise nach Südamerika im Jahr 1959 hatte er das Melchisedekische Priestertum empfangen und war nun Ratgeber in der Präsidentschaft der Brasilianischen Mission. In vielen Teilen des Landes wuchs die Kirche sehr rasch, und so erforderte es seine Berufung, dass er mit Mitgliedern in weit entfernt liegenden Städten wie Rio de Janeiro, Belo Horizonte, Recife und Brasília – der neu erbauten Hauptstadt Brasiliens – zusammenkam.
Im Verlauf der letzten vier Jahre hatten sich in Lateinamerika mehr als fünfunddreißigtausend Menschen der Kirche angeschlossen. 1961 war in Mexiko-Stadt der erste spanischsprachige Pfahl der Kirche gegründet worden. Im gleichen Zeitraum hatte sich die Zahl der Missionen in Südamerika mehr als verdoppelt. Es gab jetzt zwei Missionen in Brasilien, zwei in Argentinien, eine in Uruguay, eine in Chile und eine Mission für Peru und Bolivien gemeinsam.
Jede dieser Missionen hatte zum Ziel, überall das Evangelium zu verbreiten, den Mitgliedern zu helfen, treu nach dem Glauben zu leben, und die ersten Pfähle in Südamerika zu gründen. Die Gründung solcher Pfähle würde den Mitgliedern nicht nur mehr Vollmacht an die Hand geben, die Kirche zu führen und darin Aufgaben zu erfüllen – auch Führungspositionen würden dann von Einheimischen besetzt werden.
Wayne Beck, der Präsident der Brasilianischen Mission, und sein Vorgänger Grant Bangerter waren beide der Meinung, die beste Möglichkeit, die Mitglieder auf die Aufgaben vorzubereiten, die in einem Pfahl auf sie warteten, bestehe darin, vor Ort Führungsverantwortliche heranzubilden und zu schulen. Da Hélio früher als Geistlicher in einer Methodistengemeinde gewirkt hatte, war er ein idealer Kandidat für eine Führungsposition innerhalb der Kirche, und so hatte ihm Präsident Bangerter rasch verantwortungsvolle Aufgaben übertragen.
In einer von Hélios ersten Berufungen mit Führungsverantwortung – Ratgeber in einer Distriktspräsidentschaft – war er mit zwei weiteren brasilianischen Heiligen tätig. Die neuen Aufgaben waren ihm zunächst fremd gewesen. Er fragte sich, worin ihr Zweck bestehe, und suchte das Gespräch mit Präsident Bangerter. „Ich mache hier nichts, was von Wert ist“, meinte er.
„Was würden Sie denn gerne machen?“, erkundigte sich Präsident Bangerter.
„Am liebsten würde ich daheim in meinem Zweig unterrichten“, lautete Hélios Antwort. „Bestimmt wäre ich ein guter Lehrer.“
Präsident Bangerter erklärte ihm dann, die einheimischen Heiligen seien von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Kirche in ihrem Land. Als Mitglied der Distriktspräsidentschaft komme Hélio eine Schlüsselrolle bei der Berufung und Schulung von örtlichen Führern und Lehrern zu.
„Jetzt ist die Zeit, da der Herr sich Diener erweckt, um sein Werk in Südamerika mit Macht aufzubauen“, betonte der Präsident. „Einige sind dazu berufen, diese Last zu tragen, und diese Berufung ist an Sie ergangen.“
Plötzlich sah Hélio seine Führungsaufgabe in neuem Licht. Innerhalb weniger Wochen waren er und die übrigen Mitglieder der Distriktspräsidentschaft zielgerichtet bei der Arbeit.
In der Folge schulte Hélio viele einheimische Führungskräfte – eine Aufgabe, die er auch in seiner Berufung in der Missionspräsidentschaft weiterführte. Als Ratgeber sowohl von Präsident Bangerter als auch von Präsident Beck brachte er seinen Mitbrüdern und -schwestern bei, wie sich die Abendmahlsversammlung verbessern lässt, rief zur Teilnahme an Bauprojekten auf und tat so manches zur Stärkung der Zweige. Überall dort, wo die Kirche in der Mission gut Fuß gefasst hatte, unterschieden sich die Abläufe in den Zweigen und Distrikten kaum von denen in Gemeinden und Pfählen. Taufen und Konfirmierungen wurden nun von einheimischen Priestertumsträgern vollzogen.
Hélios Frau Nair war Ratgeberin in der Primarvereinigung der Mission und trug dort ihren Teil dazu bei, die Schwestern auf künftige Führungsaufgaben im Pfahl vorzubereiten. Wie in den Pfählen in der gesamten Kirche seinerzeit üblich, hielt die PV-Präsidentschaft alljährlich eine Konferenz für Führungs- und Lehrkräfte ab. In dem von ihr gestalteten Teil gab Nair Anregungen, wie man kleine Kinder unterweist, für eine höhere Anwesenheit in der Primarvereinigung sorgt, die vorhandenen Lehrpläne nutzt und Anschauungsmaterial wirkungsvoll einsetzt.
„Wir bitten Gott, seinen Segen auf allem ruhen zu lassen, was Sie für die Kinder tun“, sagte sie auf der PV-Konferenz im Jahr 1963, „und wir beten dafür, dass er uns im Glauben stärken und mit dem Wunsch beseelen möge, nach den Grundsätzen des Evangeliums zu leben und uns voller Begeisterung dem Werk zu widmen, womit er uns betraut hat.“
Hélio machte seine Berufung in der Missionspräsidentschaft mit dem gleichen Eifer groß wie einst als Geistlicher bei den Methodisten. Einmal sagte er zu Präsident Bangerter, wer ein wahrer Jünger sein wolle, brauche in der Sache Christi uneingeschränkte Hingabe und unbedingtes Engagement.
„Jeder gute Methodist weiß das“, zeigte sich Hélio überzeugt. Und er war der Ansicht, auch ein Heiliger der Letzten Tage sollte das verinnerlichen.
Das Jahr 1963 neigte sich dem Ende zu, und Walt Macey, vierundvierzig Jahre alt und Miteigentümer dreier Lebensmittelgeschäfte in Salt Lake City, war ganz ruhelos. Er fragte sich, ob seine Geschäfte wie bislang sonntags wirklich geöffnet haben sollten. Von klein auf war ihm beigebracht worden, dass der Sabbat heilig und ein Tag der Ruhe ist. In letzter Zeit war ihm jedoch aufgefallen, dass etliche Heilige – so wie alle anderen auch – sonntags einkaufen gingen.
Wohin er auch blickte – Restaurants, Tankstellen und Geschäfte waren sonntags geöffnet. Auch sein langjähriger Geschäftspartner Dale Jones war der Ansicht, die gemeinsam betriebenen Lebensmittelgeschäfte müssten an allen Wochentagen offen sein. Sonntags war in den Geschäften viel los, und Walt fand das Argument stichhaltig, Einkaufsmöglichkeiten am Sonntag würden den Familien helfen, die nur das Wochenende zum Einkaufen nutzen konnten. Nur wenige Familien hatten zwei Autos. Da der Ehemann in der Regel mit dem Auto die Woche über zur Arbeit fuhr, war der Sonntag ein wichtiger Einkaufstag.
Doch Walt hatte sich mit dem Entschluss, die Läden sonntags geöffnet zu halten, nie richtig wohlgefühlt. Der Gedanke, dass er die jungen Leute, die er beschäftigte, davon abhielt, den Gottesdienst zu besuchen, bereitete ihm Kummer. Einige Jahre zuvor hatte er Dale gesagt, auf ihrer unternehmerischen Tätigkeit würde Segen ruhen, wenn sie sonntags geschlossen hätten. Dale widersprach. „Das machen wir auf keinen Fall“, erwiderte er. Damit war das Thema für ihn erledigt.
Unlängst hatte jedoch Joseph Fielding Smith, der Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel, ein paar Worte mit Walt gewechselt, die diesem ziemlich zu schaffen machten. Präsident Smith und seine Frau Jessie waren Stammkunden in seinem Geschäft im Westen von Salt Lake City. Eines Tages ging Präsident Smith zur Fleischabteilung, wo Walt gerade arbeitete.
„Bruder Macey“, hob er ohne Umschweife an, „hängen Sie bitte das Schild im Fenster ab.“ Da im Schaufenster viele Schilder hingen, fragte Walt, welches er denn meine.
„Das Schild mit der Aufschrift ‚Sonntags geöffnet‘“, erwiderte Präsident Smith. Er informierte Walt, er kaufe lieber in Geschäften ein, die den Sabbat heilighielten und daher sonntags geschlossen seien. Damit drehte er sich um und ging hinaus. Seither hatte Walt ihn nicht mehr im Laden gesehen.
Präsident Smith war seit über einem halben Jahrhundert Apostel. Er hatte im Lauf seiner Amtszeit mitansehen müssen, wie die Achtung vor dem Sabbat unter der Christenheit in aller Welt immer geringer geworden war. Er und andere Führer der Kirche räumten zwar ein, dass es durchaus auch nachvollziehbare Gründe gab, am Tag des Herrn zu arbeiten. Sie sorgten sich jedoch, der Sonntag werde einfach ein weiterer, der Freizeit und dem Kommerz gewidmeter Tag. Immer wieder hatten sie sich dagegen ausgesprochen, den Sabbat für Sportveranstaltungen, Kinobesuche, Einkäufe oder sonstige Unternehmungen zu nutzen, für die sich ein anderer Tag genauso gut eignete. Wie kein anderer Apostel seiner Zeit rief Joseph Fielding Smith die Heiligen immer wieder dazu auf, den Tag des Herrn heiligzuhalten.
„Wir müssen aufhören, den Sabbat zu missachten“, hatte er auf der Frühjahrs-Generalkonferenz 1957 erklärt. „Wenn Sie, die Sie Ihr Geschäft am Sabbat bisher geöffnet hatten, es nunmehr an diesem Tag geschlossen halten, den Sabbat heilighalten und sich sonntags den Aufgaben widmen, die der Herr Ihnen übertragen hat, und seine Gebote halten, dann verheiße ich Ihnen, dass es Ihnen wohlergehen wird.“
Zwei Jahre darauf predigte die Erste Präsidentschaft diesen Grundsatz erneut und rief die Heiligen auf, sonntags nicht mehr einkaufen zu gehen.
Nach dem Gespräch mit Präsident Smith war Walt entschlossen, sich zu bessern. Er hatte den Eindruck, er erfülle einfach nicht das, was seines Wissens richtig war.
Erneut sprach er Dale darauf an, die Läden am Sonntag geschlossen zu halten, was dieser jedoch nicht einmal in Betracht ziehen wollte. „Weißt du“, meinte Walt daraufhin, „mir bedeutet das sehr viel. Dann mach mir ein Übernahmeangebot, oder ich mache dir eins.“
Einen Monat später stimmte Dale zu, die Partnerschaft aufzulösen. Er übernahm zwei Geschäfte und Walt übernahm das dritte. Walt beschloss, sein Geschäft unter einem neuen Namen weiterzuführen: Macey’s.
Kurz darauf stand in den Deseret News, Macey’s werde sonntags nicht geöffnet haben. Am selben Abend erhielt Walt spät um Viertel nach elf einen Anruf. Schwester Smith war am Telefon. „Der Präsident möchte mit Ihnen sprechen“, kündigte sie an.
Dann reichte sie den Hörer weiter an ihren Mann. „Bruder Macey“, sagte er, „wie ich der heutigen Zeitung entnehme, bleibt ihr Geschäft sonntags künftig geschlossen. Ich bin wieder Ihr Kunde.“
Kurze Zeit später sah Walt Präsident Smith wieder in seinem Geschäft einkaufen.
Anfang 1964 war Belle Spafford schon über achtzehn Jahre lang als Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung im Amt. Die Organisation hatte weltweit mehr als eine Viertelmillion Mitglieder. In über sechstausend Gemeinden und Zweigen kamen die Frauen regelmäßig zusammen, um voneinander zu lernen und sich mitfühlend derer anzunehmen, die der Fürsorge bedurften. Die Frauenhilfsvereinigung beschaffte sich die zur Durchführung ihrer vielen Programme, Veranstaltungen und Initiativen notwendigen Gelder selbst und verwaltete sie auch selbst. Die von ihr herausgegebene Zeitschrift Relief Society Magazine sah ihrem fünfzigjährigen Jubiläum entgegen.
Präsidentin Spafford war ungemein stolz auf ihre FHV-Schwestern. „Heute, wo wir Frauen uns in vielerlei Bereichen engagieren und viele von uns berufstätig sind, ist es erfreulich, dass die Durchschnittsanwesenheit in den regelmäßigen Versammlungen unserer Vereinigung ansteigt“, hatte sie kürzlich auf der jährlich stattfindenden FHV-Konferenz angemerkt. „Wir sind dankbar, dass Sie sich der Frauenhilfsvereinigung so hingebungsvoll widmen und ein rechtschaffenes Leben führen.“
Präsidentin Spafford und ihre Ratgeberinnen, Marianne Sharp und Louise Madsen, sollte im neuen Jahr eine mehrere Monate andauernde Reisetätigkeit erwarten.
Im Rahmen des neuen Korrelationsprogramms sollte die FHV-Präsidentschaft der Kirche gemeinsam mit dem FHV-Hauptausschuss in der ersten Jahreshälfte Pfahlkonferenzen besuchen und dort die örtlichen Präsidentinnen der Frauenhilfsvereinigung schulen sowie Gespräche mit Pfahlpräsidentschaften, Hoheräten, Bischofschaften und weiteren Führungsverantwortlichen in Pfahl und Gemeinde führen. Durch diese Konferenzen eröffneten sich ihnen zusätzliche Möglichkeiten, die Priestertumsführer über das Wirken der Frauenhilfsvereinigung zu informieren.
Da die Kirche immer mehr Pfähle außerhalb der Vereinigten Staaten gründete, reiste die Präsidentschaft also auch häufiger ins Ausland. Erst kurz zuvor hatte sie in Pfählen in Australien, Neuseeland und Samoa Schulungen abgehalten und im Frühjahr auch die Heiligen in Europa besucht.
Wo immer in der Welt sie eine Pfahlkonferenz besuchten, zeigten Präsidentin Spafford und ihre Mitschwestern vom Hauptausschuss den Stehbildfilm Das Erwachen (The Awakening), der den Stellenwert der FHV hervorhob. Stehbildfilme entwickelten sich – vor allem, weil sie kostengünstig waren und leicht vorgeführt werden konnten – zu einem beliebten Lehrmittel innerhalb und außerhalb der Kirche. Anhand einer auf eine Leinwand projizierten Abfolge von Bildern erzählte Das Erwachen die fiktive Geschichte einer Mary Smith, die der Kirche angehörte und deren schwach gewordener Glaube durch die Frauenhilfsvereinigung und durch Besuche von Mitgliedern ihrer Gemeinde erneut entfacht wurde. Auf den letzten Bildern waren Mary und ihre Familie wieder in die Kirche zurückgekehrt und bereiteten sich auf die Siegelung im Tempel vor.
Jahrelang war es üblich gewesen, dass Präsidentin Spafford und ihre Ratgeberinnen diejenigen waren, die das Schulungsmaterial der Frauenhilfsvereinigung sichteten und genehmigten. Das Erwachen zum Beispiel war von FHV-Schwestern des Pfahls Butler in Salt Lake City geschrieben und produziert und anschließend von der Präsidentschaft der Frauenhilfsvereinigung der Kirche als Material zur Vorführung in allen Pfählen übernommen worden.
Nun war jedoch kurz zuvor die Zuständigkeit für die Entwicklung von Lehrplänen der einzelnen Organisationen in die Hände von Elder Harold B. Lee und den neu geschaffenen Koordinierungsrat für die gesamte Kirche gelegt worden. Die Frauenhilfsvereinigung verwendete zwar noch keine korrelierten Unterrichtspläne, doch das Komitee war bereits an alle Organisationen der Kirche mit der Bitte herangetreten, zukünftige Unterrichtskonzepte sowie das zu verwendende Material zur Genehmigung einzureichen. Präsidentin Spafford befürwortete die neue Herangehensweise, und als Mitglied des Koordinierungsrats war sie in die Korrelation des Unterrichtsmaterials eingebunden.
Am 24. Juni 1964 reiste Präsidentin Spafford in den Osten der Vereinigten Staaten. Bei der Weltausstellung in New York fand der „Tag der Frauenhilfsvereinigung“ statt. Wie bereits bei der Weltausstellung 1893 anlässlich des vierhundertsten Jahrestages der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus betrachtete die Kirche die Ausstellung als Gelegenheit, ihre Botschaft auf globaler Ebene zu verbreiten. Sie errichtete eine riesige, dem Salt-Lake-Tempel nachempfundene Ausstellungshalle und bot verschiedene Vorführungen an, die den Erretter und sein Evangelium in den Mittelpunkt stellten, darunter einen sehr gefragten fünfzehnminütigen Film mit dem Titel Des Menschen Suche nach Glück, der den Besuchern den Plan der Erlösung nahebrachte.
Der Tag der Frauenhilfsvereinigung war dergestalt ausgerichtet, dass Leistungen von Frauen, die der Kirche angehörten, zur Schau gestellt wurden. Höhepunkt des Tages waren die Auftritte eines FHV-Chors, der sich aus Müttern aus den Pfählen New Yorks und umliegender Städte zusammensetzte. Die Gesangsdarbietungen zogen viele Zuhörer an und Präsidentin Spafford fand, dass der Chor mit jedem Auftritt besser wurde. Auf der Ausstellung herrschte gewaltiger Trubel, doch wenn die Frauen Kirchenlieder und sonstige geistliche Chormusik anstimmten, schien sich der Wirbel ein wenig zu legen. Präsidentin Spafford hatte das Gefühl, Engel würden den Chor verstärken.
Nach einer Aufführung fragte sie ein Reporter, warum es eigentlich keinen Chor gebe, der aus Vätern besteht.
„Das“, meinte sie, „liegt daran, dass wir eine Frauenorganisation sind.“
Etwa zur gleichen Zeit nahm Giuseppa Oliva in der Kapelle eines noch nicht ganz fertiggestellten Gemeindehauses in Quilmes in Argentinien Platz. Die Heiligen, die an jenem Vormittag die Distriktskonferenz besuchten, sahen der Fertigstellung freudig entgegen – es war immerhin das erste Gemeindehaus in diesem Land, das im Rahmen des Bauprogramms der Kirche von Missionaren errichtet worden war. Wie viele weitere Gemeindehäuser weltweit stand auch dieses für den jahrelangen, hingebungsvollen Dienst und die Opferbereitschaft der Heiligen vor Ort.
Giuseppa und ihr Mann Renato kamen ursprünglich aus Sizilien. Wie viele Italiener waren sie nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Suche nach besser bezahlter Arbeit mit der ganzen Familie nach Argentinien ausgewandert. Sich an ein neues Land, eine neue Kultur und eine neue Sprache zu gewöhnen, war schwierig gewesen, und doch hatten sie sich in Südamerika mit ihren fünf Kindern häuslich niedergelassen und fühlten sich wohl. Sieben Jahre nach dem Wegzug aus Sizilien begegnete Giuseppa Missionaren der Kirche, und deren Botschaft fiel bei ihr und ihren beiden Töchtern auf fruchtbaren Boden. Inzwischen waren die beiden Töchter mit jungen Männern aus der Kirche verheiratet.
Doch etwas bedrückte Giuseppa die ganze Konferenz hindurch. Eine Wirtschaftskrise hielt das Land fest umklammert. Die Lebenshaltungskosten stiegen in Argentinien jährlich um zwanzig Prozent, und die Unternehmen gerieten bei den Gehaltszahlungen in Verzug, was dazu führte, dass viele Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. Angesichts der großen wirtschaftlichen Unsicherheit war Renato, der von Beruf Korbmacher war, nach Sizilien zurückgekehrt und wollte seine Familie nachholen.
Doch Giuseppa zögerte noch, ihre neue Heimat aufzugeben. Fünf Jahre zuvor hatte Elder Spencer W. Kimball Argentinien besucht, und seither war die Zahl der Mitglieder dort auf über achttausend gestiegen. Die Zweige waren stark, und durch den Zehnten, den die treuen Heiligen zahlten, war die Argentinien-Mission erstmals seit ihrem Bestehen finanziell unabhängig. Die Zahl der Bekehrtentaufen nahm zu – hierdurch wurden Gemeinden wie die von Giuseppa gestärkt.
In Italien hingegen gab es keinen einzigen Zweig der Kirche. Sollte sich Giuseppa entschließen, zu Renato nach Europa zurückzukehren, müsste sie auf die Segnungen des regelmäßigen Versammlungsbesuchs verzichten. Renato hatte sich nicht der Kirche angeschlossen und würde daher auch nicht das Abendmahl spenden oder sonst eine heilige Handlung des Priestertums für sie vollziehen können.
Als die Vormittagsversammlung der Distriktskonferenz zu Ende war, suchte Giuseppa das Gespräch mit Arthur Strong, dem Präsidenten der Argentinien-Mission, und erzählte ihm von ihrem Dilemma. Sie sagte, sie wolle eigentlich bei ihren Töchtern in Argentinien bleiben, meinte aber auch, sie werde in Europa an der Seite ihres Mannes gebraucht.
Präsident Strong hörte aufmerksam zu und empfahl ihr dann die Rückkehr nach Italien. „Das ist der Ort, wo Sie hingehören“, zeigte er sich überzeugt.
„Aber was soll ich denn dort ohne die Kirche machen?“, fragte Giuseppa.
„Die Kirche wird an Ihrem Wohnort entstehen“, verhieß er. „Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“
Giuseppa war skeptisch. Konnte so etwas denn wirklich möglich sein? Doch sie beschloss, auf den Herrn zu vertrauen und nach Italien zurückzukehren. Bisher hatte sie ihr Glaube schließlich noch nie in die Irre geführt.
Im Juni 1964 fiel dem achtzehn Jahre alten Darius Gray auf, dass er neue Nachbarn bekommen hatte. Als er an deren Haus vorbeiging, spielte dort gerade ein Haufen Kinder im Vorgarten.
„Wir sind Familie Felix!“, rief ihm eines zu. „Wir sind Mormonen!“
Darius war Afroamerikaner und hatte in seiner Jugend mit seinen Eltern die unterschiedlichsten Kirchen besucht, darunter auch einige, in der überwiegend Schwarze anzutreffen waren. Da er sehr an Religion interessiert war, hatte er sich eingehend mit dem Katholizismus, dem Judentum, dem Islam und dem Bahaismus beschäftigt. Aber obwohl er in Colorado lebte – einem Staat, der an Utah grenzt –, wusste er nur wenig über die Heiligen der Letzten Tage. Er war sich sicher, noch nie einem begegnet zu sein.
Im Lauf der darauffolgenden Monate lernte er die neue Familie kennen. John Felix war Funkamateur und brachte Darius das Morsealphabet bei. Johns Frau Barbara war eher daran interessiert, ihm von ihrer Religion zu erzählen. Sie und ihre Kinder überreichten Darius ein Buch Mormon. Erst wollte er es nicht annehmen, doch eigentlich mochte er Bücher, und so nahm er es und begann es zu lesen.
Was er dort las, sprach ihn im Innersten an. Daher suchte er den Kontakt zu den Missionaren und lud sie zu sich nach Hause ein. Weil sein Vater einige Jahre zuvor verstorben war, wohnten nur Darius und seine Mutter Elsie zusammen. Elsie war überzeugte Christin und immer offen für Gespräche mit Andersgläubigen. Daher konnte sich Darius nicht vorstellen, sie könne etwas dagegen haben, wenn die Missionare zu Besuch kämen.
Während des Termins blieb sie jedoch in ihrem Schlafzimmer. Als die jungen Männer gegangen waren, rief sie Darius zu sich.
„Ich will diese beiden jungen Männer hier nicht mehr sehen“, meinte sie.
„Warum denn nicht?“, fragte Darius erstaunt.
„Das hier ist mein Haus“, entgegnete sie, „und ich will nicht, dass sie wiederkommen.“
Darius war klar, dass es besser sei, nicht weiterzubohren. Trotzdem fiel es ihm schwer, das Thema fallenzulassen. Schließlich fragte er seine Mutter ein weiteres Mal, wieso sie gegen die Missionare sei. Sie erzählte ihm, zwei Missionare der Kirche hätten sie früher einmal zuhause besucht. Kaum seien sie drinnen gewesen, hätte einer der Missionare sie auch schon gefragt, ob sie schwarz sei.
„Ja, natürlich“, lautete ihre Antwort.
Die beiden Missionare hätten daraufhin ohne weitere Erklärung auf dem Absatz kehrtgemacht, und seither hege sie gegenüber der Kirche ungute Gefühle.
Die Geschichte beunruhigte Darius. Zwar glaubte er seiner Mutter, fragte sich aber auch, ob ihre negative Erfahrung nicht etwa nur ein Einzelfall gewesen sein könne.
Darius traf sich weiter mit den Missionaren, und schon kurz darauf beschloss er, sich der Kirche anzuschließen. Am Tag vor seiner Taufe bat er die Missionare jedoch, ihm zu erklären, welche Rolle die ethnische Herkunft in der Kirche spiele. Er fragte sich, inwieweit er davon wohl betroffen sei.
Einen Moment lang sprach niemand. Dann stand einer der Missionare auf, ging langsam in eine Ecke des Zimmers und wandte Darius den Rücken zu. Der andere Missionar antwortete: „Nun, Bruder Gray, für Sie bedeutet das in erster Linie, dass Sie das Priestertum nicht werden tragen dürfen.“
Darius kam sich plötzlich töricht vor. „Mama hatte Recht“, dachte er. Wie konnte er sich unter diesen Umständen der Kirche anschließen? Er wusste, wie es sich anfühlt, aufgrund der Hautfarbe anders behandelt zu werden, und er lehnte es ab, sich als weniger wert zu erachten als seine Mitmenschen.
In der Nacht darauf wickelte sich Darius nach dem Zubettgehen fest in die Decke. Er glaubte an Gott und an die Errettung durch Jesus Christus. Bis heute hatte er an alles geglaubt, was ihm die Missionare beigebracht hatten. Doch nun wusste er nicht, was er tun sollte. Wie konnte er seinen Glauben mit dem in Einklang bringen, was er über die in der Kirche geltende Einschränkung beim Priestertum erfahren hatte?
Er öffnete das Schiebefenster und stützte den Kopf auf die Fensterbank. Tief atmete er die Nachtluft ein und sprach ein Gebet. Als er fertig war, schloss er das Fenster und versuchte zu schlafen. Doch er wälzte sich so lange hin und her, dass er schließlich spürte, er müsse ein weiteres Gebet sprechen. Erneut schob er das Fenster auf und begann zu beten.
Diesmal vernahm er eine klare, hörbare Stimme. „Dies ist das wiederhergestellte Evangelium“, ließ sie ihn wissen, „und du sollst dich ihm anschließen.“
Da wusste Darius, was er zu tun hatte. Am Tag darauf stieg er ins Wasser der Taufe und schloss sich der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage an.