Geschichte der Kirche
Kapitel 8: Es geht darum, Seelen zu retten


Kapitel 8

Es geht darum, Seelen zu retten

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Kleine Kiste voller uruguayischer Münzen

Als frischgebackene Präsidentin der Primarvereinigung in Colonia Suiza in Uruguay stützte sich Delia Rochon sehr auf ihren Leitfaden. Das Handbuch war von der Kirche speziell für PV-Lehrkräfte und -Führungsverantwortliche in Gebieten erstellt worden, die einer Mission unterstanden, und Delia betete häufig, wie sie die Unterlagen am besten einsetzen könne. Der Leitfaden war entstanden, bevor das Korrelationskomitee der Kirche damit begonnen hatte, all ihr Material zu prüfen und zu vereinfachen – daher umfasste er dreihundert Seiten. Dennoch war Delia dankbar für die vielen Anregungen für Aufgaben und Bastelanleitungen. Zwar waren die PV-Kinder beim Unterricht gelegentlich laut und nicht ganz bei der Sache, doch Delia blieb geduldig. Wenn sie sich danebenbenahmen, konnte sie immer die Eltern um Hilfe bitten.

Bei der Unterrichtsvorbereitung fühlte sich Delia verpflichtet, sich strikt an das offizielle Material der Kirche zu halten. Eines Tages stieß sie auf eine Anleitung, wie die jährlich stattfindende Geldsammelaktion für das PV-Kinderkrankenhaus in Salt Lake City zu organisieren sei. Die Aktion hatte 1922 erstmals stattgefunden. Seitdem wurde alljährlich jedes PV-Kind ermuntert, bedürftigen Kindern dadurch zu helfen, dass es Centbeträge spendete. Einen Cent hatte Delia noch nie zu Gesicht bekommen, und über das Kinderkrankenhaus wusste sie auch recht wenig. Nach bedürftigen Kindern hingegen musste sie nicht lange Ausschau halten – von denen gab es in ihrer PV-Klasse genug. Doch sie und Zweigpräsident Victor Solari fanden, sie sollten dennoch eine Geldsammelaktion mit Centbeträgen für das Krankenhaus durchführen.

Anstelle von Cent bat Delia die Kinder, Vintenes zu spenden – die uruguayische Münze mit dem geringsten Zahlwert. Einer der Väter baute eine kleine Holzkiste, die Delia an eine Wand im Gemeindehaus hängte. In der Primarvereinigung verkündete sie, das Geld werde kranken Kindern zugutekommen, achtete aber auch darauf, dass auf die Kinder kein Druck ausgeübt wurde. Sie wollte nicht, dass irgendjemand Vintenes spendete, die er selber dringend benötigte.

In den darauffolgenden Monaten warf Delia keinen Blick in die Kiste und verriet auch nicht, wer gespendet hatte und wer nicht. Ab und an brachten die Kinder Vintenes mit, gelegentlich spendeten auch die Eltern ein paar Münzen, um die Primarvereinigung zu unterstützen. Wenn jemand hin und wieder eine Münze einwarf, hörte sie es klimpern, und die Kinder quittierten das Geräusch mit Klatschen.

Als die Missionsführer den Zweig Colonia Suiza besuchten, beschloss Delia, die Kiste endlich zu öffnen. Sie war viel voller, als sie erwartet hatte. Sie zählte das Geld und stellte fest, dass die Kinder Münzen im Gegenwert von fast zwei Dollar gespendet hatten. In Delias Händen fühlten sich die Münzen wie ein Vermögen an.

Mehr noch, sie erkannte, dass die Vintenes für den Glauben und die Opferbereitschaft der PV-Kinder und deren Familien standen. Wie einst das Opfer der Witwe war jede Münze aus Liebe zu den Mitmenschen und zum Erretter gespendet worden.


Zwei Tage vor Weihnachten 1964 saß Suzie Towse angespannt im Zug. Ihre Mission im Britischen Gebietsbüro der Bauabteilung der Kirche war zu Ende. Jetzt war sie auf dem Weg zurück nach Beverley. Ihre Eltern waren froh, dass sie endlich nach Hause kam. Dennoch waren sie immer noch verstimmt darüber, dass sie sich gegen den Willen der Eltern entschieden hatte, ihre Mission zu Ende zu bringen. Seit neun Monaten hatte sie kaum etwas von ihnen gehört.

Suzie bereute ihre Entscheidung nicht. Ihre Tätigkeit in der Bauabteilung hatte sie und hunderte weiterer junger Frauen und Männer dem Vater im Himmel nähergebracht, und sie alle kehrten mit gestärktem Glauben und wertvoller Berufserfahrung nach Hause zurück. Ihre Arbeit hatte zur Fertigstellung von fast dreißig Bauprojekten auf den britischen Inseln beigetragen, darunter einem wunderschönen Gemeindehaus in Beverley. Über vierzig weitere Projekte befanden sich noch in Abwicklung. Als Suzie so über ihre Arbeit nachdachte, kam ihr das Motto der Baumissionare in den Sinn: „Wir bauen Kirchengebäude und erbauen damit Menschen.“

Nun, da ihre Mission beendet war, konnte sich Suzie auf ein neues Kapitel in ihrem Leben freuen. Ein Jahr zuvor hatten die Missionsführer ihr und anderen Baumissionaren gestattet, über Weihnachten nach Hause zu fahren. Bei einem Silvesterball war Geoff Dunning, der demselben Zweig wie sie angehörte und mit dem sie befreundet war, auf sie zugegangen und hatte sie bei einem Walzer zum Tanz aufgefordert. Sie wusste ja, dass er dem Eingliederungskomitee des Zweigs angehörte, also nahm sie ihn ein bisschen auf den Arm. „Geoff“, sagte sie, „du musst es mit der Eingliederung ja nicht gleich übertreiben.“

Das war der Beginn einer intensiven Brieffreundschaft, und wenige Monate später feierten sie Verlobung. Geoff hatte Suzie sogar einen Diamant-Verlobungsring per Post geschickt, und der Postbote war vor ihr auf die Knie gegangen, als er ihn überbrachte. Nach Suzies Mission wollten sie sich im London-Tempel siegeln lassen. Zunächst mussten sie sich jedoch standesamtlich trauen lassen. Die Trauung sollte im Gemeindehaus in Beverley stattfinden.

Auf Suzies Wunsch hin hatte Geoff zuvor mehrmals ihre Eltern in der Hoffnung aufgesucht, deren Gefühle im Hinblick auf Suzie und die Kirche besänftigen zu können. Anfangs biss Geoff bei Suzies Mutter zwar auf Granit, doch bald konnte sie sich für ihn erwärmen.

Als Suzie in Beverley ankam, schlossen ihre Eltern sie in die Arme. Sie sagten ihr jedoch auch, dass sie nicht bei der Trauung dabei sein würden, denn die fände ja im Gemeindehaus der Kirche statt. Zutiefst enttäuscht beteten Suzie und Geoff darum, Suzies Eltern würden einen Herzenswandel erleben.

Im Zuge ihrer Eingewöhnung in das Leben nach der Mission stellte Suzie fest, dass sich ihr Zweig während ihrer Abwesenheit verändert hatte – nicht nur wegen des neuen Gemeindehauses. In ganz Großbritannien nahmen sich die Missionare nun mehr Zeit für die Unterweisung Interessierter und bezogen bei Evangeliumsgesprächen nach Möglichkeit gleich die ganze Familie ein. Vorschnelle Taufen, Baseballspiele und die hierfür ursächlichen ambitionierten Missionsziele gehörten der Vergangenheit an. Präsident McKay wurde nicht müde, sich gegen solcherlei Praktiken auszusprechen, und hatte die örtlichen Führungsverantwortlichen angewiesen, auf die betroffenen Jugendlichen zuzugehen und alles zu tun, um diese neuen Mitglieder bei der Stange zu halten.

„Sie gehören der Kirche an und stehen daher unter unserer Hut“, erklärte er. „Es geht darum, Seelen zu retten – es geht nicht um Statistiken. Wir müssen uns um diese Jungen und Mädchen kümmern.“

Zehn Tage vor ihrer Trauung wurden die Gebete von Suzie und Geoff erhört. Suzies Eltern hatten sich nun doch entschieden, bei der Trauung dabei zu sein. Ihr Vater wollte sie nach vorne führen, und ihre Mutter erklärte sich bereit, den Hochzeitsempfang im Gemeindehaus zu organisieren.

Am 6. März 1965 kamen viele von Suzies Freunden aus der Bauabteilung der Kirche zur Eheschließung nach Beverley. Eine Woche darauf fuhren Suzie und Geoff zum Londoner Tempel, um sich siegeln zu lassen. Während sie im Tempel waren, richtete Suzies Mutter ein Häuschen in Beverley her, welches das Ehepaar für sich gekauft hatte.

Als Suzie über die Herausforderungen nachsann, die sie gemeistert hatte, dachte sie an das, was ihr Missionspräsident ihr gesagt hatte, als ihr schwer ums Herz gewesen war: „Der Herr wird einen Weg bereiten.“ Jetzt wusste sie, dass er genau das getan hatte.


Im darauffolgenden Monat kamen Ruth Funk und das für die Lehrpläne für Erwachsene zuständige Komitee in Salt Lake City mit fast zwei Dutzend Führungsverantwortlichen aus verschiedenen Organisationen der Kirche zusammen, um einen Plan für den Unterricht in der Frauenhilfsvereinigung, den Priestertumskollegien und der Sonntagsschule vorzulegen. Der Entwurf war das Ergebnis dreijähriger intensiver Beschäftigung des Komitees mit den bisherigen Unterrichtsplänen der Kirche. Thomas S. Monson war eineinhalb Jahre zuvor in das Kollegium der Zwölf Apostel berufen worden und leitete die Versammlung in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Komitees.

Der für das neue Korrelationsprogramm zuständige Koordinierungsrat für die gesamte Kirche hatte zuvor bereits mehrere wichtige Änderungen eingeführt. Dazu gehörte die Gründung von Priestertumsführungskomitees und Gemeinderäten. Diese sollten die Führungsverantwortlichen vor Ort in die Lage versetzen, gemeinsam besser für ihre Mitmenschen da zu sein. Als Reaktion auf Sorgen wegen der Stabilität des häuslichen Umfelds und der Familie propagierte der Koordinierungsrat auch zwei Programme, die auf das intensivere Studium des Evangeliums abzielten – das Heimlehren und den Familienabend.

Diese Programme waren in der Kirche ja eigentlich bereits tief verwurzelt. Seit der Zeit des Propheten Joseph Smith hatte es Lehrer gegeben, die für eine Gemeinde oder einen Häuserblock zuständig waren und die Heiligen regelmäßig zuhause aufsuchten, um sich um deren geistiges und zeitliches Wohlergehen zu kümmern. Beim Heimlehrprogramm wurde diese Praxis insofern abgeändert, als dass nun die Priestertumsträger die Aufgabe hatten, jeden Monat ihre Mitbrüder und -schwestern zuhause zu besuchen, dort christlichen Dienst am Nächsten zu leisten und eine zuvor abgestimmte Botschaft der Kirche zu überbringen.

Der Familienabend war eigentlich bereits 1915 in der Kirche eingeführt worden. Präsident Joseph F. Smith und seine Ratgeber hatten damals die Heiligen dazu angehalten, sich mindestens einen Abend im Monat für den Evangeliumsunterricht und Aktivitäten mit der Familie freizuhalten. Nun sollten die Heiligen den Familienabend jede Woche abhalten und hierzu einen Leitfaden nutzen, den die Kirche kurz zuvor herausgegeben hatte.

Der Abgleich der Lehrpläne für die gesamte Kirche zog sich allerdings hin. Ursprünglich hatte Elder Harold B. Lee gedacht, die verschiedenen Korrelationskomitees hätten die Unterrichtspläne für alle Altersgruppen im Jahr 1963 fertigstellen können. Die Abgabefrist wurde jedoch auf 1966 verlängert, da die Gestaltung der Lektionen für das Familienabendprogramm Vorrang hatte.

Als Elder Monson den versammelten Führungsverantwortlichen den Entwurf für den Lehrplan vorstellte, räumte er ein, die Erstellung des neuen Unterrichtsmaterials sei eine Herausforderung – insbesondere vor dem Hintergrund, dass in der Vergangenheit die Organisationen in der Regel ihre Lehrpläne eigenverantwortlich verfasst hätten.

„Eine Einigung wird nicht leicht zu erzielen sein“, befand er. „Halten wir uns an das, was uns der Herr in den heiligen Schriften ans Herz legt – in 3 Nephi, wo es heißt: ‚Es soll unter euch keine Auseinandersetzungen geben.‘“

Im Zuge der Sitzung stellte auch Ruth die Pläne des Komitees für den Lehrplan vor, der für die Frauen gedacht war. Bei der Ausarbeitung des Entwurfs hatte das Komitee Frauen befragt, die sich in unterschiedlichsten Lebensumständen befanden – verheiratet, unverheiratet, geschieden oder verwitwet. Der Entwurf trug den vielen Zwängen Rechnung, denen Frauen in der modernen Welt ausgesetzt waren, und unterstrich ihre Bestimmung in Gottes ewigem Plan.

Ruth erklärte, der neue, für die Frauen gedachte Lehrplan hebe – genau wie auch der für die Männer – hervor, wie wichtig das Priestertum sei und welche Rolle der Familie als Zentrum zukomme, wo das Evangelium gelernt wird. Hauptziel des Lehrplans sei es, die Frauen dazu zu inspirieren, nach dem Evangelium zu leben, es ihren Mitmenschen nahezubringen und sich ihrer mitfühlend anzunehmen, sich praktische Kenntnisse in der Haushaltsführung anzueignen und durch die Lehren Christi ihr allgemeines Wohlbefinden zu fördern.

In den Monaten nach der Entwurfspräsentation war Ruth beeindruckt davon, wie gut Belle Spafford sowie die übrigen FHV-Schwestern mit Führungsverantwortung mit dem Komitee zusammenarbeiteten. Aber nicht jeder freute sich über die anstehenden Veränderungen. Als Ruth und weitere Komiteemitglieder Anpassungen am Lehrplan vorschlugen, waren einige Mitglieder des FHV-Hauptausschusses dagegen.

Doch Ruth war der Ansicht, dass Korrelation notwendig sei. So war sie in der Lage, trotz des Gegenwinds auf Kurs zu bleiben. Sie erkannte, wie sehr die Korrelation die Mitglieder und die Kirche stärkte. Die Herausforderung bestand darin, den Skeptikern zu helfen, den gleichen Blickwinkel einzunehmen.


Ungefähr zur gleichen Zeit bemühte sich LaMar Williams immer noch um ein Dauervisum für Nigeria. Er wollte unbedingt seine Pflichten als Präsidierender Ältester des Landes erfüllen. Doch wie sollte er, wenn ihn die Behörden nicht ins Land ließen?

Nach seinem ersten Besuch in Nigeria im Jahr 1961 hatte er lediglich ein weiteres Kurzzeitvisum erhalten, das ihm im Februar 1964 einen zweiwöchigen Aufenthalt im Land ermöglichte. Damals hatten er und seine Freunde Charles Agu und Dick Obot sich bemüht, bei der Behörde um die Zulassung von Missionaren in Nigeria anzusuchen. Doch der zuständige Beamte lehnte ein Treffen mit ihnen ab.

Zutiefst enttäuscht über seinen mangelnden Erfolg kehrte LaMar nach Utah zurück, wollte seine Freunde in Westafrika aber keinesfalls aufgeben. Mit seiner Hilfe wurde ein Stipendienfonds eingerichtet, der mehreren nigerianischen Studenten den Besuch der Brigham-Young-Universität ermöglichte. Die Studenten trafen Anfang 1965 ein, und zwei von ihnen, Oscar Udo und Atim Ekpenyong, schlossen sich der Kirche an.

Unterdessen erfuhr Dick Obot, dass seine Gruppe Gläubiger – die vor Ort unter der Bezeichnung „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ bekannt war – nunmehr von der Regierung anerkannt worden war. Das deutete darauf hin, dass sich manch einer in Nigeria das Herz hatte erweichen lassen. LaMars Bemühungen, nigerianischen Studenten zu einer Ausbildung zu verhelfen, und die unermüdliche Überzeugungsarbeit seiner Freunde in Nigeria hatten offenbar Früchte getragen. Die nigerianische Regierung weigerte sich zwar weiterhin, ihm ein Dauervisum auszustellen, doch immerhin erhielt LaMar im August 1965 ein weiteres Kurzzeitvisum. Mit Präsident McKays Zustimmung kehrte LaMar im Oktober nach Nigeria zurück.

Nach seiner Ankunft in Lagos kam LaMar mit einem Anwalt zusammen, der zuversichtlich war, ihm sowohl ein Dauervisum verschaffen als auch die offizielle staatliche Anerkennung der gesamten Kirche erreichen zu können. Zwei Tage später sprach LaMar mit gut einem Dutzend Kommunikationsbeauftragter der Regierung über die Kirche. Anschließend flog er nach Enugu, Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaats im Südosten Nigerias, zu einem Termin mit dem dortigen Staatsminister, der aus Respekt vor LaMars Glauben in dessen Gegenwart weder Kaffee noch Tee oder Alkohol zu sich nehmen wollte.

Überall, wo LaMar hinkam, fragten ihn Fremde, ob sie sich der Kirche anschließen könnten. LaMar versicherte ihnen, sie würden sich taufen lassen können, sobald die Kirche in Nigeria offiziell aufgerichtet sei. Eines Sonntags kamen über vierhundert Menschen zusammen, um ihn sprechen zu hören.

Am 6. November hatte LaMar einen Termin im Büro des Premierministers in Enugu. In der Folge wurde sein Visum um neunzig Tage verlängert, und ein Regierungsbeamter bereitete die für die amtliche Eintragung der Kirche in Nigeria erforderlichen Papiere vor. Als LaMar in sein Hotelzimmer zurückkehrte, hatte er allen Grund zur Freude. Nach all den Jahren der Hürden und des Hinhaltens konnte nun vielleicht die Genehmigung, die er benötigte, um sich ans Werk zu machen, endlich erteilt werden.

Da klopfte es an der Tür. Der Privatsekretär des Staatsministers überbrachte ihm ein Telegramm vom Hauptsitz der Kirche.

„Verhandlungen in Nigeria abbrechen“, hieß es darin. „Sofort abreisen.“ Unterzeichnet war es von der Ersten Präsidentschaft, weitere Erklärungen gab es keine.


Zu der Zeit, als LaMar Williams Nigeria verließ, war Giuseppa Oliva ins italienische Palermo zurückgekehrt und vertraute auf die Verheißung, die Kirche werde eines Tages in die Stadt kommen. Ein Jahrhundert zuvor hatten sich Missionare zwar darum bemüht, die Kirche in Italien aufzurichten, doch waren die Bestrebungen damals nur von kurzer Dauer gewesen. Viele der damaligen Bekehrten waren Protestanten – Waldenser – aus Nordwestitalien, die bald darauf nach Utah auswanderten. In den 1860er Jahren zogen sich die Missionare dann aus Italien zurück. Giuseppa wollte jedoch nicht einfach nur dasitzen und auf die Rückkehr der Missionare warten. Bald nachdem sie aus Argentinien zurückgekommen war, fing sie an, ihren Verwandten, Nachbarn und Freunden vom Evangelium zu erzählen.

So mancher empfand ihren Enthusiasmus als abschreckend, und zuweilen wurde ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen oder sie wurde des Hauses verwiesen. Doch eines Tages fragte sie einer ihrer Brüder, Antonino Giurintano, wieso sie denn nicht die katholische Messe besuche. Als sie ihm von der Kirche, von Joseph Smith und vom Buch Mormon erzählte, war seine Neugier geweckt. Jahrelang hatte er den Gottesdienst verschiedener Kirchen besucht, doch keine Konfession hatte ihm das geben können, wonach er suchte.

Seit diesem Tag sprach Giuseppa fast jeden Tag mit ihm über das wiederhergestellte Evangelium. Zu ihrer großen Freude wünschte er sich bald, getauft zu werden. In Sizilien gab es aber keine Missionare, weshalb dort niemand diese heilige Handlung vollziehen konnte.

Derzeit war die Schweizer Mission für Italien und mehrere Nachbarländer zuständig – doch Missionare waren auch dort dünn gesät. Zwar gab es in Italien einige kleine Gemeinden auf amerikanischen Militärstützpunkten, doch hatte die Kirche erst kurz zuvor die Bewilligung erhalten, im Land das Evangelium zu verkünden. Die dreißig oder vierzig in Italien befindlichen Missionare waren hauptsächlich im Norden tätig, weit entfernt von der Insel, die Giuseppa und Antonino ihr Zuhause nannten. Nichtsdestotrotz schrieb Antonino ans Missionsbüro und erhielt im Gegenzug von Rendell Mabey, dem Missionspräsidenten, eine Auswahl an Literatur der Kirche sowie ein Buch Mormon.

Am Abend des 22. November 1965 wurde Giuseppa von einem unerwarteten Besuch ihres Bruders überrascht. Antonino erzählte ihr, dass endlich zwei Männer von der Kirche eingetroffen seien. Giuseppa rief ihren Mann und ihren Sohn herbei, dann folgten sie Antonino zu seinem Haus.

Einer der Besucher stellte sich Giuseppa als Präsident Mabey vor. Er war groß, guter Laune, kam aus Amerika und sprach kein Wort Italienisch. Der andere Besucher, ein älterer Italiener, hieß Vincenzo di Francesca. Er gehörte der Kirche an und wohnte, wie es der Zufall wollte, auf Sizilien – rund vier Stunden entfernt. Als Vincenzo in New York 1910 seine Ausbildung zum protestantischen Geistlichen durchlief, hatte er eines Tages ein Buch Mormon gefunden, dem der Einband fehlte. Er verschlang das Buch und glaubte an dessen Botschaft von Jesus Christus. Manchmal hielt er sogar Predigten mit Inhalten aus dem Buch, und als er nach Italien zurückkehrte, erfuhr er mehr über die Kirche und nahm Kontakt mit ihr auf. Nachdem er jahrelang hatte warten müssen, bis jemand mit der nötigen Priestertumsvollmacht nach Sizilien kam, war er 1951 endlich getauft worden.

Mehrere Stunden lang unterhielten sich Giuseppa und ihre Familie mit Vincenzo und Präsident Mabey. Anschließend entschied der Missionspräsident, dass Antonino für die Taufe bereit sei.

Am Morgen danach kauften Giuseppa, Antonino, Präsident Mabey und Vincenzo passende weiße Kleidung und fuhren mit einem Taxi zu einer wenig belebten Meeresbucht, wo sie den Taufgottesdienst abhalten konnten. Eine kleine Ausbuchtung diente als Umkleide und die Felsen am Ufer boten eine Sitzgelegenheit, wo sich Vincenzo hinsetzen und als Taufzeuge amtieren konnte.

Hand in Hand staksten Präsident Mabey und Antonino über die spitzen Steinchen am Strand. Der Missionspräsident trotzte der Kälte und den hohen Wellen, sprach das Taufgebet und tauchte Antonino unter. Die Männer kehrten ans Ufer zurück, zogen sich um und Vincenzo konfirmierte Antonino schließlich als Mitglied der Kirche.

Während Giuseppa den Taufgottesdienst verfolgte, war sie von Liebe und Freude erfüllt. Innerlich noch aufgewühlt, schickte sie bald darauf einen Brief an ihre Tochter Maria, die noch in Argentinien lebte. „Antonino hat sich der Kirche angeschlossen!“, schrieb sie begeistert. Er war der Erste, der sich seit ihrer Rückkehr nach Palermo hatte taufen lassen.

  1. Rochon, Come and See, Seite 9ff.; Rochon, Interview, Seite 6ff., 21; Primarias de las misiones: Manual de lecciones. Para los grupos menores, niños de 4, 5 y 6 años de edad, übersetzt von Eduardo Balderas, La Iglesia de Jesucristo de los Santos de los Últimos Días, Salt Lake City 1962; Solari, Erinnerungsinterview, Seite 3f.

  2. Rochon, Interview, Seite 32ff.; Rochon, Come and See, Seite 13ff.; PV-Kinderkrankenhaus, Rundschreiben, Primarvereinigung, Akten des PV-Kinderkrankenhauses, HAK; LaVern Parmley, Ansprache, Konferenz der Primarvereinigung, 7. April 1966, Protokolle des Hauptausschusses der Primarvereinigung, HAK

  3. Rochon, Come and See, Seite 14f.; Rochon, Interview, Seite 32–35; Markus 12:41-44; Thema: Primarvereinigung

  4. Dunning, Interview per E-Mail, 21. Juli 2021; Dunning, „My Life and Legacy“, Seite 6, 16, 23; Dunning, Erinnerungsinterview, Seite 7, 19f.; „News Notes at Home and Abroad“, Church News, 28. März 1964, Seite 2; John Butcher, „A Closing Thought“, Millennial Star, Oktober 1964, Seite 365; Construction Era, Juli 1970, Seite 10; Dunning und Dunning, „Conversion Story at Beverley“, Seite 6, 13; Thema: Bauprogramm

  5. Dunning, „My Life and Legacy“, Seite 18, 22; Dunning, Interview per E-Mail, 21. Juli 2021; Dunning, Erinnerungsinterview, Seite 6f.; Suzette Dunning und Geoff Dunning an James Perry, E-Mail, 16. März 2022, Suzette Towse Dunning and Geoffrey Dunning Papers, HAK

  6. Dunning, Erinnerungsinterview, Seite 7; Zweig Beverley, Manuskript der Geschichte und historische Berichte, März 1965; Dunning, Interview per E-Mail, 23. September 2021; Dunning, „My Life and Legacy“, Seite 23

  7. Marion D. Hanks an die Erste Präsidentschaft, 31. Dezember 1962; Alva D. Greene, „Report on the North British Mission“, 10. Juni 1964; A. Ray Curtis und Elaine Curtis, Bericht, 23. Februar 1965, Erste Präsidentschaft, Schriftverkehr mit den Missionen, 1964–2010, HAK; Hanks, Rückblicke, Seite 149, 154; Erste Präsidentschaft an Pfahl- und Missionspräsidenten, 19. Februar 1964, Erste Präsidentschaft, Rundschreiben, HAK; McKay, Tagebuch, 25. Juli 1963 und 15. Dezember 1965

  8. Dunning, „My Life and Legacy“, Seite 23f.

  9. Protokolle des Korrelationskomitees für Erwachsene, 23. April 1965; Abteilung Lehrplan, Protokolle des Priestertumsführungskomitees der Kirche zum Thema Korrelation, 11. März 1965, Seite 277; Monson, Tagebuch, 25. März 1965; Henry A. Smith, „Thomas S. Monson Chosen New Apostle“, Deseret News and Salt Lake Telegram, 4. Oktober 1963, Seite A1

  10. Abteilung Lehrplan, Protokolle des Priestertumsführungskomitees der Kirche zum Thema Korrelation, 11. März 1965, Seite 277ff.; Ludlow, „Church History Events Concerned with Correlation Development“, Seite 2f.

  11. Hartley, „LDS Aaronic Priesthood Offices“, Seite 85f., 90f., 97, 115ff., 128; Home Teaching, Seite A1–A11

  12. Smith, Lund und Penrose, An die Pfahlpräsidenten, Bischöfe und Eltern in Zion, Seite 2f.; Harold B. Lee, in: One Hundred Thirty-Fourth Semi-annual Conference, Seite 83ff.; Abteilung Lehrplan, Protokolle des Priestertumsführungskomitees der Kirche zum Thema Korrelation, 9. Januar 1964, Seite 152, 13. Februar 1964, Seite 161, 9. April 1964, Seite 170ff., 6. Mai 1964, Seite 178f., 3. und 11. Juni 1964, Seite 191, 199, 10. September 1964, Seite 216, 8. Oktober 1964, Seite 225f., 4. November 1964, Seite 230f.; Family Home Evening Manual, Seite III–XIV; „Home Teachers Distribute Family Manuals“, Church News, 19. Dezember 1964, Seite 4; Thema: Familienabend

  13. Abteilung Lehrplan, Protokolle des Priestertumsführungskomitees der Kirche zum Thema Korrelation, 13. Februar 1964 und 11. März 1965, Seite 156f., 278f.; Blumell, „Priesthood Correlation“, Seite 23f.; Themen: Korrelation, Thomas S. Monson

  14. Protokolle des Korrelationskomitees für Erwachsene, 23. April 1965; 3 Nephi 11:28

  15. Protokolle des Korrelationskomitees für Erwachsene, 23. April 1965; Korrelationskomitee für Erwachsene, „Review of Present and Proposed Programs for the Adults of the Church“, Seite 19f.

  16. Protokolle des Korrelationskomitees für Erwachsene, 9., 23. und 30. Juni 1965, 4. August 1965; Smith, Erinnerungsinterview, Seite 113ff., 148f.; Abteilung Lehrplan, Protokolle des Priestertumsführungskomitees der Kirche zum Thema Korrelation, 10. November 1966, Seite 134

  17. Allen, „West Africa before the 1978 Priesthood Revelation“, Seite 236; Williams, Tagebuch, 20. Januar 1964, 4. und 11. bis 14. Februar 1964, Seite 92–95; McKay, Tagebuch, 11. Januar 1963

  18. Williams, Tagebuch, 14. Februar 1964, 20. Januar 1965, 19. Februar 1965, 7. März 1965, Seite 95, 119f.; Allen, „West Africa before the 1978 Priesthood Revelation“, Seite 233ff.; Brigham-Young-Universität, Protokolle des Führungskomitees im Treuhänderausschuss, 25. März 1965; John Chase an LaMar Williams, 15. Juni 1965, Missionsabteilung, Schriftverkehr nach Afrika und Indien, HAK

  19. Allen, „West Africa before the 1978 Priesthood Revelation“, Seite 234; Gründungsurkunde, Lagos, Nigeria, 29. September 1964, Abschrift, Edwin Q. Cannon Papers, HAK; Dick Obot und andere an LaMar Williams, 29. Oktober 1964, Missionsabteilung, Schriftverkehr nach Afrika und Indien, HAK; Williams, Tagebuch, 20. Januar und 18. Oktober 1965, Seite 119, 153; McKay, Tagebuch, 25. August und 14. Oktober 1965; siehe auch Palmer, Mormons in West Africa, Seite 8; Thema: Nigeria

  20. Williams, Tagebuch, 20., 22. bis 24., 30. und 31. Oktober 1965; 4. und 6. November 1965, Seite 153ff.; „Report on Nigeria“, in: McKay, Tagebuch, 10. November 1965; Erste Präsidentschaft an LaMar Williams, Telegramm, 4. November 1965, Erste Präsidentschaft, Schriftverkehr mit den Missionen, 1964–2010, HAK

  21. Toronto, Dursteler und Homer, Mormons in the Piazza, Seite 1–44, 132–177; Simoncini, Interview, Seite 3; Thema: Italien

  22. Simoncini, Interview, Seite 3; Abner, Erinnerungen an die Italienische Mission, Seite 30f.; Simoncini, „La storia dei primi pionieri del ramo di Palermo“, Seite 1; Arthur Strong an Giuseppa Oliva, 16. September 1965, Abschrift im Besitz der Redaktion; „Italian Zone“, Seite 1; Mabey, „Amazing Swiss Mission“, Seite 1

  23. Toronto, Dursteler und Homer, Mormons in the Piazza, Seite 232–240, 277; Ezra Taft Benson an die Erste Präsidentschaft, 7. Dezember 1964; Erste Präsidentschaft an Ezra Taft Benson, 17. Dezember 1964, Erste Präsidentschaft, Schriftverkehr mit den Missionen, 1964–2010, HAK; Kollegium der Zwölf Apostel, Protokolle des Missionsführungskomitees, 14. Januar 1965; „Missionary Work Resumed in Italy after Lapse of Century“, Church News, 20. März 1965, Seite 12; Ezra Taft Benson an die Erste Präsidentschaft, 11. Oktober 1965, Erste Präsidentschaft, Schriftverkehr mit den Missionen, 1964–2010, HAK

  24. Arthur Strong an Giuseppa Oliva, 17. Dezember 1965, Abschrift im Besitz der Redaktion; Mabey, Tagebuch, 22. November 1965; Mabey, „Sicilian Baptism“, Seite 1; Giurintano, Interview, Seite 2

  25. Vincenzo di Francesca, „Burn the Book“, Improvement Era, Mai 1968, Seite 4–7; Vincenzo di Francesca an Franklin Harris, 8. Mai 1930; Vincenzo di Francesca an Heber J. Grant, 26. Juni 1930; Heber J. Grant an Vincenzo di Francesca, 29. April 1931, Erste Präsidentschaft, diverser Schriftverkehr, HAK; Toronto, Dursteler und Homer, Mormons in the Piazza, Seite 226–229; siehe auch „Berne: Work in Italy Progressing“, Church News, 19. Februar 1966, Seite 4

  26. Mabey, Tagebuch, 22. und 23. November 1965; Mabey, „Sicilian Baptism“, Seite 1f.; Strong, Auszug aus der Autobiografie, Seite 35; Maria Oliva an Omar Esper, E-Mail, 15. Juli 2021, Maria Oliva Family Papers, HAK; „Berne: Work in Italy Progressing“, Church News, 19. Februar 1966, Seite 4