Kapitel 11
Auch in anderen Ländern
Anfang Oktober 1968 befand sich Isabel Santana bereits im zweiten Jahr an der Benemérito de las Américas. Die kircheneigene Schule zählte mittlerweile zwölfhundert Schüler – mehr als doppelt so viele wie bei Isabels Ankunft. Der Campus war rasant gewachsen: Es gab eine neue Aula, die auch als Turnhalle diente, einen kleinen Lebensmittelladen, zwei Geschäfte, ein Empfangsgebäude sowie fünfunddreißig zusätzliche Wohngebäude. Anfang des Jahres war Präsident N. Eldon Tanner in Mexiko-Stadt eingetroffen, um die neuen Gebäude zu weihen. Auch der Tabernakelchor war gekommen und untermalte den Anlass musikalisch.
Isabel und ihre jüngere Schwester Hilda hatten sich in der Schule rasch eingewöhnt. Isabel war zwar von Natur aus zurückhaltend, wollte aber auf keinen Fall, dass ihre Schüchternheit ihrer Ausbildung im Weg stand. Sie fand eine gute Freundin, lernte, mit den kulturellen Unterschieden zurechtzukommen, und bemühte sich nach Kräften, auch auf Leute zuzugehen, die sie noch nicht kannte.
Zudem erwies sie sich als fleißige Schülerin. Regelmäßig wandte sie sich an Lehrer und Verwaltungskräfte und bat sie um Rat. Einer ihrer Mentoren war Efraín Villalobos. Er hatte in seiner Jugend ebenfalls kircheneigene Schulen in Mexiko besucht und im Anschluss daran an der Brigham-Young-Universität Agrarwissenschaften studiert. Er hatte viel Sinn für Humor, und Isabel und die anderen Schüler in Benemérito fanden ihn sehr zugänglich. Sie waren ja weit weg von daheim und sahen in ihm nicht nur jemanden, der sie unterrichtete. Er gab ihnen auch Führung und war für sie eine Art Vaterfigur.
Eine weitere Lehrerin, die sie beflügelte, war Leonor Esther Garmendia. Sie unterrichte die Fächer Physik und Mathematik. In Isabels erstem Schuljahr hatte Leonor in der Klasse die Frage gestellt, wer denn Mathe möge. Jede Menge Hände gingen nach oben. Dann fragte sie, wer das Fach nicht so gern habe. Isabel meldete sich.
„Wieso magst du Mathe nicht?“, fragte Leonor.
„Weil ich da keinen Durchblick habe“, entgegnete Isabel.
„Den Durchblick wirst du hier noch bekommen.“
Leonors Unterricht war beileibe kein Zuckerschlecken. Doch manchmal gab sie den Schülern eine Rechenaufgabe und bat dann jeden der Reihe nach, zu ihr ans Pult zu kommen und sie mit ihr gemeinsam durchzusprechen. Schon bald war Isabel in der Lage, Aufgaben im Kopf zu lösen – eine Fähigkeit, die sie sich früher nie zugetraut hätte.
Wie viele ihrer Mitschüler musste auch Isabel Lernen und Arbeitsalltag unter einen Hut bringen. Um das Schulgeld niedrig zu halten, kam die Kirche für den größten Teil der Ausbildungskosten auf. Es blieb aber immer noch einiges zu zahlen, und so betätigten sich etliche Schüler als Raumpfleger oder arbeiteten in der Molkerei, die der Lehranstalt angegliedert war. Isabel hatte eine Stelle als Telefonistin in der Telefonzentrale der Schule gefunden. Stunde um Stunde saß sie in einer engen Kabine und vermittelte über eine Schalttafel mit Steckkontakten und Nummern Anrufe auf dem gesamten Campus. Die Arbeit forderte sie nicht allzu sehr, und so brachte sie zum Zeitvertreib oft ein Buch mit.
Zur selben Zeit gab es unter Studenten weltweit Protestkundgebungen, die sich gegen die jeweilige Regierung richteten. Auch in Mexiko-Stadt gingen viele Studierende auf die Straße und demonstrierten für mehr wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit. Unter anderem missbilligten sie den Einfluss der Vereinigten Staaten auf die politische Führungsriege Mexikos. In den Augen der Studenten lieferte der Kalte Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion den mächtigen Nationen einen Vorwand, kleinere, schwächere Nachbarstaaten dominieren zu können.
Hinzu kam erschwerend, dass Mexiko-Stadt sich gerade darauf vorbereitete, die Olympischen Sommerspiele auszurichten – zum ersten Mal sollten die Olympischen Spiele in einem lateinamerikanischen Land stattfinden. Am 2. Oktober 1968, zehn Tage vor Eröffnung der Olympischen Spiele, entluden sich die Spannungen: Mexikanische Streitkräfte eröffneten auf dem Platz der Drei Kulturen im Stadtteil Tlatelolco in Mexiko-Stadt das Feuer auf die Demonstranten; im Kugelhagel fanden fast fünfzig Menschen den Tod. In den Wochen darauf verhafteten die Behörden führende Vertreter der Studentenbewegung, wobei Regierung und Medien versuchten, die Brutalität des Massakers von Tlatelolco herunterzuspielen.
Benemérito lag unweit des Ortes, wo sich das Blutbad abgespielt hatte. Als Isabel von den Morden erfuhr, war sie von tiefer Trauer erfüllt. Immerhin fühlte sie sich an der Schule sicher. Die meisten Schüler und Lehrer dort hatten sich von den politischen Protesten ferngehalten.
Doch eines Nachmittags meldete sich ein Anrufer bei der Schule und drohte damit, deren Busse zu entwenden. Isabel erschrak, geriet aber nicht in Panik. „Wer spricht dort?“, fragte sie.
Doch der Anrufer legte auf.
Sie wusste nicht recht, was sie tun sollte. Also stellte sie über die Schalttafel eine Verbindung zu Kenyon Wagner her, dem Schuldirektor.
„Isabel“, beruhigte er sie, „wir kümmern uns darum.“
Letztendlich entpuppte sich der Anruf als leere Drohung, und Isabel war erleichtert, dass nichts Schlimmeres geschehen war. Benemérito war für sie zu einer Oase geworden, einem friedlichen Ort, wo sie sich mit dem Evangelium befassen und sich weiterbilden konnte.
Sie wusste: Solange sie dort war, hatte sie Schutz.
Am Morgen des 10. November 1968 kamen rund 230 Heilige zu einer Distriktskonferenz in Görlitz an der Ostgrenze der DDR zusammen – unter ihnen Henry Burkhardt. Das dreistöckige, als Versammlungsort dienende Gebäude war baufällig. Rund um die Fenster bröckelte der Verputz herunter und legte die Ziegelsteine frei.
Plötzlich war im Gemeindehaus freudige Erregung zu spüren. Sehr zur Überraschung der Anwesenden fand sich Apostel Thomas S. Monson bei der Konferenz ein. Seit sieben Jahre zuvor die Mauer errichtet worden war, hatten sie nur selten Gelegenheit gehabt, mit einer Generalautorität zusammenzukommen.
Elder Monson war kurz zuvor die Aufsicht über die deutschsprachigen Missionen anvertraut worden, und Henry, der den Vorsitz über die Kirche in der DDR innehatte, freute sich sehr auf die Zusammenarbeit mit ihm. Elder Monson war einundvierzig – nur wenige Jahre älter als Henry. Aber – und das machte ihn in Henrys Augen zu etwas ganz Besonderem – er war ein Apostel. Wie mochte er wohl sein? Ob sie miteinander auskommen würden?
Als Elder Monson das Gemeindehaus betrat, waren diese Fragen auf einen Schlag so gut wie weggewischt. Er war bodenständig und hatte ein einnehmendes Wesen. Zwar konnte er kein Deutsch – und Henry sprach kein Englisch –, aber sie wurden dennoch Freunde.
Die Versammlung begann um zehn Uhr. Die Heiligen trugen ein Lächeln im Gesicht und waren sichtlich dankbar dafür, dass Elder Monson gekommen war. Einige von ihnen waren mit Sicherheit Spitzel – Mitglieder, die dem Ministerium für Staatssicherheit berichteten, was ihre Brüder und Schwestern so sagten und taten. Die meisten von ihnen konnte Henry seinem Empfinden nach zwar ziemlich sicher identifizieren, er versuchte jedoch nicht, ihnen Einhalt zu gebieten. Ihm war es lieber, die Behörden wurden von Spitzeln aus den Reihen der Heiligen informiert, die die Wahrheit über die Kirche sagten, als von weniger wohlwollenden Informanten.
Was ihn jedoch wirklich störte, waren die vielen Einschränkungen, die ihm und den anderen Ostdeutschen auferlegt waren. Die Kirche unter diesen Bedingungen zu leiten bedeutete für ihn, auf Dauer sechs Tage pro Woche von seiner Familie getrennt zu sein – und das, obwohl seine Frau Inge und er gerade ihr zweites Kind, Tobias, bekommen hatten. Jedes Mal, wenn er mit der Staatssicherheit zu tun hatte – was oft der Fall war –, war man bemüht, ihm die Vorteile des kommunistischen Systems schmackhaft zu machen. Die konnte er aber nicht erkennen. Wenn er über die Zustände im Land und über ein System nachdachte, das die Heiligen dazu verleitete, ihre Brüder und Schwestern zu bespitzeln, fragte er sich: „Wie ist so etwas denn nur möglich?“
Auch Elder Monson gingen die Zustände in der DDR sichtlich nahe. Als er bei der Konferenz aufstand, um zu den Heiligen zu sprechen, stiegen ihm Tränen in die Augen. Er hob an zu sprechen, doch seine Stimme stockte vor Rührung. Schließlich sagte er: „Wenn Sie den Geboten Gottes treu bleiben, werden Sie alle Segnungen empfangen, derer sich die Mitglieder der Kirche auch in anderen Ländern erfreuen.“
Damit hatte Elder Monson Henry und den anderen Anwesenden all das verheißen, was die Heiligen ersehnten. Doch damit diese Verheißung zur Realität werden konnte, musste sich in der DDR so manches ändern. Als die Führer der Kirche vorgeschlagen hatten, in der DDR einen Pfahl zu gründen, lehnte Henry mit der Begründung ab, dies werde die unerwünschte Aufmerksamkeit der Staatssicherheit erregen. Und da die DDR ihre Grenzen geschlossen hielt, waren auch die Segnungen des Tempels außer Reichweite. Jeder Antrag eines Mitglieds, in die Schweiz reisen zu dürfen, um den Tempel dort zu besuchen, wurde abgelehnt.
Dennoch war eine wunderbar geistige Atmosphäre zu spüren. Elder Monson segnete die Heiligen, und am Ende der Versammlung sangen alle voller Inbrunst:
Etwa zur selben Zeit war sich Joseph William Billy Johnson im westafrikanischen Ghana sicher, das wahre Evangelium Jesu Christi gefunden zu haben. Sein Freund Frank Mensah hatte ihm vier Jahre zuvor ein Buch Mormon und weitere Bücher und Broschüren der Kirche überreicht. Weder im Nachbarland Nigeria noch in Ghana gab es eine Gemeinde der Kirche. Frank wollte das ändern.
„Ich habe das Gefühl, du bist derjenige, der mir dabei helfen soll“, hatte er zu Billy gesagt.
Seitdem hatten sie in und um Accra, der Hauptstadt Ghanas, vier inoffizielle Gemeinden der Kirche gegründet. Sie standen mit dem Hauptsitz in Salt Lake City in Verbindung und wussten daher, dass die Kirche zögerte, Missionare nach Westafrika zu schicken. Aber LaMar Williams und andere hatten sie ermutigt, sich mit dem Evangelium zu befassen und mit gleichgesinnten Gläubigen zusammenzukommen. Als sie erfuhren, dass Virginia Cutler – eine Professorin an der Brigham-Young-Universität – in Accra war, um an der Universität von Ghana einen Lehrstuhl für Hauswirtschaft einzurichten, trafen sie sich mit ihr und kamen von da an zu einer wöchentlichen Sonntagsschule zusammen.
Billy hatte große Freude daran, anderen vom Evangelium zu erzählen. Er arbeitete in der Im- und Exportbranche, wollte aber seinen Job aufgeben und sich mehr der Missionsarbeit widmen. Seine Frau konnte sich für seinen Glauben nicht erwärmen. „Diese Kirche ist so neu“, meinte sie. „Ich will nicht, dass du deine Arbeit aufgibst.“
Doch Billy wollte unbedingt mehr Zeit dafür haben, das Evangelium zu verkünden. „In mir brennt etwas, was ich nicht zurückhalten kann“, entgegnete er ihr.
Religion war für Billy schon seit langem wichtig. Seine Mutter Matilda war praktizierende Methodistin, die ihn im Glauben an Gott erzogen und ihm beigebracht hatte, Gottes Wort zu lieben. In der Schule hatte sich Billy, wenn Pause war und die anderen spielten, oft zurückgezogen, um Kirchenlieder zu singen und zu beten. Einem seiner Lehrer fiel das auf und er sagte ihm, eines Tages werde er Priester werden.
Mit zunehmendem Alter wurde Billys Glaube durch bemerkenswerte Träume und Visionen gefestigt. Kurz nachdem Frank Mensah ihn mit dem wiederhergestellten Evangelium bekanntgemacht hatte, sprach Billy ein Gebet. Dabei sah er die Himmel sich öffnen und eine Schar von Engeln mit Posaunen erschien, die ein Loblied auf Gott anstimmten. „Johnson, Johnson, Johnson!“, hörte er eine Stimme rufen. „Wenn du so in meinem Werk arbeitest, wie ich es dir gebiete, werde ich dich und dein Land segnen.“
Billy und Frank und ihre Glaubensansichten stießen jedoch auch auf Ablehnung. Einige waren der Ansicht, sie seien einer falschen Kirche aufgesessen. Andere wiederum beschuldigten sie, nicht an Jesus Christus zu glauben. Was sie sagten, verletzte Billy. Er fragte sich, ob er denn in die Irre geführt worden sei. Daraufhin fastete er. Nach drei Tagen ging er bei sich zuhause in ein Zimmer, wo er Abbildungen der Präsidenten der Kirche an die Wand geheftet hatte. Er kniete nieder und bat Gott im Gebet um Hilfe.
„Ich möchte diesen Propheten gerne begegnen“, flehte er. „Ich möchte, dass sie mich anleiten.“
In der darauffolgenden Nacht erschien ihm Joseph Smith im Traum und sagte ihm: „Schon bald werden Missionare kommen. Der Prophet der Kirche, Präsident McKay, denkt an euch.“
Dann kam im Traum ein anderer auf ihn zu und sprach ihn an. Er stellte sich als Brigham Young vor. „Johnson, wir sind bei dir“, versicherte er. „Verliere nicht den Mut!“ Im Verlauf der Nacht erschien Billy jeder neuzeitliche Prophet bis hin zu George Albert Smith.
Billys Wunsch, mehr Zeit für die Verkündigung des Evangeliums zu erübrigen, bewog ihn bald dazu, seinen Job zu kündigen. Er zog in die südwestlich von Accra liegende Stadt Cape Coast, wo er eine Farm betreiben und eine neue Gemeinde gründen wollte. Seine Frau trug diese Entscheidung nicht mit. Sie zog nicht mit dem Rest der Familie um, sondern ließ sich von Billy scheiden und überließ ihm das Sorgerecht für ihre vier kleinen Kinder.
Billy war zutiefst erschüttert, fand aber Unterstützung bei seiner Mutter Matilda. Auch sie hatte ihre Zweifel, ob Billys Idee, seinen Job aufzugeben und mit der Familie nach Cape Coast zu ziehen – in eine Stadt, in der es bereits zahlreiche Glaubensgemeinschaften gab –, wirklich gut sei und ob er dort Erfolg haben könne. Doch Billy war das einzige ihr verbliebene Kind und sie war auf ihn angewiesen, also ging sie mit ihm.
Matilda nahm den Glauben ihres Sohnes an. Sie hatte Billy zwar nicht ernst genommen, als er ihr zum ersten Mal von seinen neuen Glaubensansichten erzählte, doch sie hatte miterlebt, welch guten Einfluss dieser Glaube auf ihn und auf diejenigen hatte, die er unterwies. Da war ihr klargeworden, dass ihr Sohn etwas Besonderes gefunden hatte. Sie wusste, dass es ihr und vielen anderen ein Segen sein würde, wenn die Kirche in Ghana Fuß fasste. Aus dieser Gewissheit schöpfte sie Mut.
Als sich die Familie in Cape Coast niedergelassen hatte, kümmerte sich Matilda um Billys Kinder, während er die Gründung seiner neuen Gemeinde in Angriff nahm. Sie unterstützte ihn auch moralisch, sprach ihm Mut zu und half, wo sie konnte, um die Gemeinde zu stärken.
„Ganz gleich, unter welchen Umständen wir leben, wie auch immer die Zukunft aussieht“, versicherte sie, „ich bin bereit, ehrlich für die Kirche einzustehen.“
Nachdem die Sängerinnen des Songjuk-Waisenhauses ihr Album mit Stan Bronson veröffentlicht hatten, traten sie bald regelmäßig auf Militärstützpunkten auf und waren häufig im amerikanischen und koreanischen Fernsehen zu sehen. Der Mädchenchor kam bei allen gut an – sogar der Präsident von Südkorea und der US-Botschafter waren offenbar von dem Chor begeistert.
Hwang Keun Ok genoss die Zusammenarbeit mit Stan und den Sängerinnen sehr. Das Gruppengeschehen hatte einen guten Einfluss auf die Waisenmädchen. Zum einen mussten sie, um mitsingen zu dürfen, ihre Hausaufgaben pünktlich erledigen. Aber noch mehr als das freute sich Keun Ok darüber, dass durch den Gesang das Selbstwertgefühl der Mädchen zunahm. Auch mit zunehmendem Bekanntheitsgrad blieben sie unter ihren und Stans Fittichen. Behutsam geleiteten beide die Sängerinnen durch jede Probe, jeden Auftritt und jede Aufnahme.
Sie wollten die Mädchen im Waisenhaus nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft unterstützen. Als Stan im Jahr zuvor in den Vereinigten Staaten auf Urlaub gewesen war, hatte er in seiner Heimatstadt veranlasst, dass jedes Mädchen zu Weihnachten einen neuen Mantel oder eine Puppe erhalten solle. Dann bat er einen Freund, der Koreanisch sprach, sich als Weihnachtsmann zu verkleiden und die Geschenke zu überbringen. Später hatten er und Keun Ok die Idee, in den Vereinigten Staaten dazu aufzurufen, den Mädchen eine monatliche finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen.
Nach seiner Entlassung aus der Armee gründete Stan in Utah eine Stiftung zum Wohle der Mädchen. Er sprach auch bei Firesides, gab Benefizkonzerte und produzierte Alben, um den Mädchen und ihrem Bedarf an finanziellen Mitteln mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die Stiftung konnte in Südkorea ihre Arbeit jedoch nicht ohne eine Lizenz der Regierung aufnehmen, denn diese hatte ausländischen Organisationen jedwede Form von Sozialarbeit im Lande untersagt. Glücklicherweise konnte Keun Ok ihre Beziehungen zur Regierung und die Popularität der kleinen Sängerinnen in die Waagschale werfen, um eine Lizenz für Stans Stiftung zu erhalten.
Im Verlauf der Vorbereitungen zur Gründung der Stiftung hatte Stan ein beeindruckendes Buch mit dem Titel Tender Apples gelesen. Es handelte von einer Frau, die der Kirche angehörte und sich für Risikokinder einsetzte. Keun Ok und ihm gefiel der Titel, und so kontaktierte er die Autorin und bat sie, die Stiftung Tender Apples Foundation nennen zu dürfen. Sie stimmte zu. Keun Ok richtete ein Zimmer in ihrem zweistöckigen Haus in Seoul als Sitz der gemeinnützigen Stiftung in Korea ein, und Stan arbeitete dort, wenn er im Lande war. Bald darauf wurde die Gesangsgruppe in Tender Apples umbenannt.
Eines Tages zeigten einige der Mädchen Stan einen Eintrag im Wörterbuch und kicherten dabei. Sie wussten, dass Stan der Kirche angehörte, da sie schon bei Versammlungen der Kirche auf einem amerikanischen Militärstützpunkt gesungen hatten. Wie die meisten Koreaner hatten sie jedoch wenig Ahnung von der Kirche und ihren Lehren. Als sie nun den Begriff „Mormonen“ im Wörterbuch nachschlugen, stand dort als Definition „Volk mit verschrobenen Umgangsformen“.
„Nun“, fragte Stan die Mädchen, „findet ihr mich verschroben?“
„O nein“, versicherten sie ihm.
„Findet ihr Frau Hwang vielleicht verschroben?“
Den Mädchen verschlug es den Atem. Keines von ihnen hatte geahnt, dass ihre Leiterin auch „Mormonin“ war.
Stan erzählte Keun Ok, was vorgefallen war. Sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die protestantischen Träger des Waisenhauses von ihrer Mitgliedschaft in der Kirche erfahren würden, und machte sich auf die Reaktion gefasst.
Sie musste nicht lange warten. Nachdem die Träger in Erfahrung gebracht hatten, dass Keun Ok der Kirche angehörte und einige der Mädchen im Waisenhaus Interesse an der Kirche hatten, stellten sie sie vor die Wahl: Sie sollte sich entweder von der Kirche abwenden oder aber ihr Amt niederlegen. Für Keun Ok gab es da nur eine Option.
Sie packte ihre Sachen und verließ das Waisenhaus. Mehrere der älteren Mädchen, die Keun Ok sehr liebgewonnen hatten, suchten bald ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und folgten ihr. Als die Mädchen bei ihr anklopften, war ihr klar, dass sie eine Möglichkeit finden musste, sich um sie zu kümmern.
In Utah hatte Truman Madsen nur gute Nachrichten für sein Komitee, das die Entstehungsgeschichte der Kirche erforschte. Im Laufe des Sommers 1968 hatten ihm Historiker Berichte von ihren Forschungsreisen in den Osten der Vereinigten Staaten geschickt. Dank der Finanzierung durch die Erste Präsidentschaft konnten sie Bibliotheken und Archive durchforsten, historische Dokumente sichten und wichtige Daten und Fakten bestätigen.
„Es war ein großartiger Sommer!“, stellte Truman fest. Er war zuversichtlich, dass die Historiker der Kirche nun besser darauf vorbereitet waren, den Behauptungen von Wesley Walters über die erste Vision etwas entgegenzusetzen.
Zu ihren bedeutendsten Entdeckungen in jenem Sommer zählten eindeutige Beweise dafür, dass es in der Nähe von Joseph Smiths Zuhause im Jahr 1820 tatsächlich zu einer religiösen Erweckungsbewegung gekommen war. Milton Backman, Professor für Geschichte und Religion an der Brigham-Young-Universität, stellte fest, dass Joseph Smith die Erregung über das Thema Religion ganz allgemein beschrieben hatte, ohne bestimmte Orte zu nennen. Dadurch war er nun zu dem Schluss gekommen, Wesley Walters hätte seine Forschungen zu sehr auf Palmyra konzentriert. Nachdem Milton wochenlang historische Berichte im Westen des Bundesstaates New York durchforstet hatte, entdeckte er, dass die Region um Palmyra in den Jahren 1819 und 1820 tatsächlich von einer Welle religiösen Eifers erfasst worden war – genau so, wie es der Prophet Joseph Smith in seinem Bericht von 1838 über die erste Vision geschildert hatte.
In den Monaten darauf arbeitete Truman mit weiteren Historikern an Artikeln über die erzielten Ergebnisse. Er hatte vor, sämtliche Forschungsergebnisse in den BYU Studies zu veröffentlichen, einer von der Brigham-Young-Universität herausgegebenen wissenschaftlichen Zeitschrift.
Zur gleichen Zeit war Hugh Nibley weiterhin mit dem Studium der Papyrusfragmente aus dem Metropolitan Museum of Art beschäftigt. Als die Kirche die Artefakte erwarb, waren viele begierig gewesen, zu erfahren, was sie über das Buch Abraham und dessen Übersetzung verrieten. Über ein Jahrhundert lang waren ja Joseph Smiths Deutung der drei im Buch Abraham abgebildeten „Faksimiles“ schließlich immer wieder angezweifelt worden. Diese Faksimiles waren den Abbildungen in den Papyri nachgebildet und glichen in vielen Einzelheiten genau den Darstellungen auf gebräuchlichen Schriftrollen aus ägyptischen Gräbern, die anscheinend gar nichts mit Abraham oder seiner Zeit zu tun hatten.
Frühere Analysen und Übersetzungen der Fragmente hatten bestätigt, dass es sich um funeräre Texte handelte, die Jahrhunderte nach Abrahams Lebzeiten entstanden waren. Weder die Kirche noch Hugh bestritt diese Forschungsergebnisse. Hugh war jedoch der Ansicht, weitere Studien könnten mehr Licht in das Dunkel bringen, das auf dem Papyrus und der Übersetzung des Propheten lastete. 1968 und 1969 veröffentlichte er über ein Dutzend Artikel, in denen er aus seinem Wissen über alte Kulturen und Sprachen schöpfte und mehrere Thesen über das Buch Abraham und dessen Anklänge an die altägyptische Religion und Kultur aufstellte. Er stellte zum Beispiel fest, einige der stärksten Indizien für die Echtheit des Buches Abraham bestünden darin, dass es große Ähnlichkeit mit anderen Texten aus alten Tempelanlagen und jahrtausendealten Überlieferungen über Abraham aufwies, von denen Joseph Smith wohl kaum wissen konnte. Aus Hughs Schriften ging auch hervor, dass das Buch wichtige Erkenntnisse über das Priestertum, die Tempelverordnungen und den Erlösungsplan bereithielt.
Im Frühjahr 1969 erschienen die von Trumans Komitee erzielten Forschungsergebnisse in den BYU Studies. Die aktuellsten Informationen über die erste Vision kamen darin ebenso zum Zuge wie zuverlässige geschichtliche Belege für Joseph Smiths Zeugnis. Zwei der Komiteemitglieder, Leonard Arrington und James Allen, stellten eine Übersicht der über die Anfangszeit der Kirche veröffentlichten Artikel und Bücher zusammen. Milton Backman verfasste einen Artikel über seine Nachforschungen zu der religiös motivierten Umtriebigkeit bei Palmyra. Für einen weiteren Artikel zeichnete Dean Jessee, Archivar im Büro des Geschichtsschreibers der Kirche, verantwortlich. Er schrieb über Joseph Smiths Berichte über die erste Vision. Weitere Artikel behandelten ähnliche Themen. Truman war der Ansicht, diese Abhandlungen würden nicht nur der Verteidigung des Glaubens dienen, sondern noch etwas anderes aufzeigen: Zur Erlangung eines vollständigeren Verständnisses von der Geschichte der Wiederherstellung war es wertvoll, dass die Heiligen an einem Strang zogen. Er wies darauf hin, dass sich viele Briefe, Tagebücher und weitere Dokumente, die für Historiker von großem Nutzen sein könnten, im Besitz von Mitgliedern der Kirche befänden.
Im Vorwort zu der aktuellen Ausgabe der BYU Studies schrieb er daher: „Es ist extrem wichtig, alle Dokumente zu sammeln, zu erforschen und sie auszuwerten. Doch selbst, wenn hundert Köpfe daran arbeiteten, wäre die Aufgabe zu umfangreich. Wir alle müssen einbezogen werden.“
Unterdessen führte Henry Burkhardt in der DDR unter den Heiligen, für die er zuständig war, mehrere Änderungen ein. Nachdem Elder Monson nach Görlitz gekommen war, hatte die Erste Präsidentschaft in Dresden eine Mission gegründet und Henry zum Präsidenten berufen. Kurze Zeit später kehrte Elder Monson zurück, um die Mission einzurichten, Henry zum Amt eines Hohepriesters zu ordinieren und ihn in seine neue Berufung einzusetzen.
Henrys Frau Inge wurde zum Missionsdienst an seiner Seite berufen. Schon als Elder Monson dem Ehepaar Burkhardt das erste Mal begegnet war, hatte es ihn beunruhigt, dass die beiden nur wenige Stunden pro Woche miteinander verbrachten. „Was Sie tun, ist nicht ganz in Ordnung“, meinte er zu Henry. Nun stand Inge also, was die Leitung der Mission anbelangte, an der Seite ihres Mannes, begleitete ihn regelmäßig auf seinen Reisen und erledigte zeitweise Aufgaben im Missionsbüro.
Wenn mit Problemen zu rechnen war, zog Henry es jedoch vor, allein zu reisen. Was die Kirche so machte, wurde zwar noch immer von der Staatssicherheit überwacht, doch seit Henry – ein Bürger aus ihren eigenen Reihen – zum Missionspräsidenten berufen worden war, misstraute man der Kirche etwas weniger als zuvor. Solange die Heiligen keine außerplanmäßigen Versammlungen abhielten, kein Material der Kirche druckten oder vervielfältigten oder unbedacht handelten, wurden sie von der Regierung in Ruhe gelassen. Es stand ihnen frei, Abendmahlsversammlungen abzuhalten, heimlehren zu gehen und sich zu den Versammlungen der Frauenhilfsvereinigung, der Sonntagsschule, der Primarvereinigung sowie zu den Priestertumsversammlungen zusammenzufinden.
Henry bemühte sich, Vorsicht walten zu lassen. Viele Heilige in der DDR machten sich Sorgen, sie könnten den Kontakt zur Gesamtkirche verlieren, und wünschten sich mehr gedrucktes Material. Gelegentlich gestattete die Regierung den Heiligen, größere Mengen gedruckten Materials einzuführen, zum Beispiel Gesangbücher oder heilige Schriften. In aller Regel mussten sie aber mit dem auskommen, was sie hatten. Da sich das Verbot, Material der Kirche zu drucken und zu vervielfältigen, auf Druckverfahren wie den Matrizendruck bezog, umging Henry die Auflagen, indem er vertrauenswürdige freiwillige Helfer bat, Leitfäden unter Verwendung von Kohlepapier abzutippen.
Dem Buchstaben des Gesetzes wurde damit Genüge getan, und Henry sah sich gerechtfertigt, auf diese Weise Leitfäden zu erstellen und zu verteilen. Dennoch hinterließ diese Praxis ein ungutes Gefühl. Die Religionsfreiheit wurde mitunter auch durch ungeschriebene Gesetze beschnitten, die nicht unbedingt im ganzen Land einheitlich waren. Henry wusste nur zu gut, dass die Stasi keinen Grund brauchte, um ihn zu verhaften. Wenn ein Beamter schlecht aufgelegt war und ihn mit ausländischen Leitfäden erwischte, konnte Henry leicht in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.
Die Bedingungen waren zwar nicht ideal, doch die Kirche machte weiter. Beachtlich war, dass es 1968 siebenundvierzig Taufen gegeben hatte. In dem Jahr, als Elder Monson die Mission Dresden gründete, gab es in der DDR in siebenundvierzig Zweigen und sieben Distrikten insgesamt 4641 Heilige. Die Mitglieder besuchten die Versammlungen, gingen heimlehren und führten Veranstaltungen durch, wann immer dies möglich war. Sie stellten sogar eine „Genealogische Arbeitswoche“ auf die Beine und reichten für die Tempelarbeit vierzehntausend Namen ein.
Als Henry über seine neue Berufung nachdachte, verpflichtete er sich, dass er und seine Familie alles tun wollten, was die Aufgabe erforderte. „Es soll jetzt unsere Aufgabe sein, mit ganzer Kraft am Aufbau der Kirche zu arbeiten“, schrieb er in sein Tagebuch. „Mit Inge zusammen hoffe ich, alle Aufgaben zu meistern und auch meine eigenen Schwachheiten zu überwinden.“