Kapitel 14
Wir sind jetzt anders
Im Februar 1972 war Elder Spencer W. Kimball der Verzweiflung nahe. Zwar hatte die Strahlentherapie gegen den Kehlkopfkrebs gewirkt, doch jetzt war seine ohnehin schon geschwächte Stimme so angegriffen, dass er nur noch flüstern konnte. Auch sein schwaches Herz machte ihm Angst und entkräftete ihn zusätzlich. „Es geht mit mir definitiv bergab“, schrieb er in sein Tagebuch.
Mit Rücksicht auf Elder Kimballs angeschlagene Gesundheit reduzierte die Erste Präsidentschaft seine Reisetätigkeit. Er nahm an der Weihung des Ogden- und des Provo-Tempels teil, berief angehende Missionare und beriet die neugeschaffene Abteilung Geschichte der Kirche und ihren wachsenden Expertenstab. Elder Kimball war dankbar, dem Herrn immer noch auf diese Weise dienen zu können – doch seine Sorge, der Kirche zur Last zu fallen, wuchs.
Als sich sein Zustand verschlechterte, baten er und Camilla Präsident Harold B. Lee und Präsident N. Eldon Tanner um ein Gespräch. Dr. Russell M. Nelson schloss sich ihnen an und brachte sein medizinisches Fachwissen ein.
„Ich werde wohl bald sterben“, meinte Elder Kimball. „Ich spüre, wie mir das Leben entweicht. Wenn es weiter so bergab geht, glaube ich, dass ich nur noch etwa zwei Monate zu leben habe.“
Er erklärte den Anwesenden, um sich wieder erholen zu können, bedürfe es einer komplizierten Operation. Dr. Nelson, der sich mit dieser Art von chirurgischem Eingriff auskannte, schilderte den Vorgang, der sich aus zwei verschiedenen Operationen zusammensetzte. „Zunächst muss die defekte Aortenklappe entfernt und durch eine künstliche ersetzt werden“, erklärte er. „Danach muss die Blutversorgung durch die linke Koronararterie durch einen Bypass wiederhergestellt werden.“
„Welche Risiken hat dieses Verfahren?“, fragte Präsident Lee.
Das ließe sich aufgrund des fortgeschrittenen Alters von Elder Kimball nicht abschätzen, meinte Dr. Nelson. „Bei Patienten dieser Altersgruppe haben wir keine Erfahrung mit diesen beiden Eingriffen. Ich kann nur sagen, dass sie mit einem extrem hohen Risiko verbunden sind.“
„Ich bin ein alter Mann und bereit zu sterben“, sagte Elder Kimball müde. „Der Herr könnte mich sofort heilen und so lange am Leben lassen, wie es ihm beliebt. Aber warum sollte er das wollen, wo ich doch immer älter werde und andere das Gleiche tun können, was ich tue, und dazu noch besser?“
Präsident Lee sprang auf. „Spencer“, rief er und schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch, „du wurdest berufen! Du wirst nicht sterben. Du musst alles Nötige tun, um für dich zu sorgen und weiterzuleben!“
„Nun gut“, sagte Elder Kimball, „dann lasse ich mich operieren.“
Zwei Monate später betraten auf der anderen Seite der Vereinigten Staaten – in Hampton im US-Bundesstaat Virginia – die Osmond-Brüder Alan, Wayne, Merrill, Jay und Donny die Bühne des dortigen Stadions. Ein paar tausend Mädchen kreischten vor Begeisterung. Die Brüder im Alter von vierzehn bis zweiundzwanzig Jahren trugen mit funkelndem Strass besetzte weiße Overalls mit Schlaghose und hohem Kragen. Als sie zu singen und zu tanzen begannen, waren die Fans nicht mehr zu halten.
Olive Osmond saß hinter der Bühne. Sie fand es putzig, wie die Mädchen ihre Söhne anhimmelten. Olive und ihr Mann George Osmond hatten während des Zweiten Weltkriegs im Salt-Lake-Tempel geheiratet. Nie hätten sie gedacht, dass ihre Kinder Popmusikstars werden und zu den berühmtesten Mitgliedern der Kirche weltweit zählen würden. Ihre beiden ältesten Söhne, Virl und Tom, waren schwerhörig. Ein Arzt hatte deswegen Olive und George von weiteren Kindern eindringlich abgeraten. Aber das Paar bekam noch sieben weitere, die alle gesund waren.
Schon in jungen Jahren lernten Alan, Wayne, Merrill, Jay und Donny, mehrstimmig miteinander zu singen, und traten bald regelmäßig in einer landesweit ausgestrahlten Fernsehshow auf. Als sie jedoch älter wurden, wollten sie ihr konservatives Repertoire durch Stücke mit modernerem Sound austauschen.
Viele junge Leute mochten Rockmusik mit ihren treibenden Beats und den E-Gitarren. Doch einigen Führern der Kirche war diese Art von Musik zu provokativ. Olive und George teilten diese Bedenken. Dennoch war die gesamte Familie der Ansicht, Rockmusik könne auch das Gute fördern. Olive war überzeugt, dass ihre Söhne einen positiven Einfluss auf die Welt haben könnten, vorausgesetzt, ihre Musik könne das richtige Publikum erreichen.
„Ihr habt eine besondere Mission“, mahnte sie ihre Jungs. „Gott hat euch dieses Talent aus einem bestimmten Grund gegeben.“
1970 nahmen die Brüder einen Song mit dem Titel „One Bad Apple“ auf, bei dem Merrill und Donny den Gesangspart übernahmen. Die Platte war ein Hit und machte die Jungen praktisch über Nacht zu Berühmtheiten. Nun taten Olive und George umso mehr, um ihren Söhnen zu helfen, die Gebote zu halten. Während andere Rockstars tranken und Drogen nahmen, befolgten die Osmonds das Wort der Weisheit. Statt auf wilde Partys zu gehen, hielten die Brüder mit der Familie den Familienabend ab, gingen zur Kirche und luden auf Tournee auch zu geistigen Andachten ein.
Als sie schon recht berühmt geworden waren, wurden die Brüder von Präsident Joseph Fielding Smith empfangen, der sie an ihre Pflicht erinnerte, stets das Evangelium zu verbreiten. Auch sein Ratgeber Harold B. Lee erinnerte sie später daran, dass die Welt sie beobachte und ihr Handeln auf die Kirche zurückfallen könne. Er legte ihnen ans Herz, moralisch bedenkliche Situationen zu meiden und für ihre Überzeugung einzutreten.
„Es gibt immer zwei mögliche Entscheidungen“, erklärte er ihnen. „Wählt immer die, die euch dem celestialen Reich am nächsten bringt.“ Dann zitierte er die Worte des Erretters aus der Bergpredigt: „So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“
Schon bald verknüpften viele Menschen in den Vereinigten Staaten die Osmonds mit der Kirche. Bei Gesprächen mit der Presse erwähnte Olive fast immer ihre Religion und deren Einfluss auf den gesunden Lebensstil und die fröhliche Musik der Familie. Auch die Jungen sprachen in Interviews offen über ihren Glauben, und Fans stellten in ihren Briefen oft Fragen zur Kirche. Da die Kirche in den Vereinigten Staaten besonders schnell gewachsen war, gab es in den Städten, in denen die Osmonds auftraten, in der Regel auch eine Gemeinde oder einen Zweig. Dadurch konnten Fans unkompliziert mit Missionaren in Kontakt kommen und weitere Mitglieder der Kirche kennenlernen.
In der Tat waren in den Church News unlängst Auszüge aus Briefen von Leuten veröffentlicht worden, welche die Kirche über die Osmonds kennengelernt hatten. So hatte beispielsweise ein Fan begonnen, über die Kirche zu recherchieren, nachdem er erlebt hatte, wie glücklich und eng verbunden Familie Osmond war. „Ich wusste, dass es etwas mit eurer Religion zu tun hat“, hieß es in dem Brief.
Bei einem Konzert in Virginia gesellte sich der achtjährige Jimmy, der jüngste der Osmonds, bei einem Lied zu seinen Brüdern auf die Bühne. Olive blieb mit ihrer zwölfjährigen Tochter Marie hinter der Bühne und beantwortete die Fragen eines Lokalreporters.
„Ich versuche, ein Zuhause fern von daheim zu schaffen“, erklärte Olive. Sie war der Ansicht, die Familie sei jetzt, da alle zusammen auf Tournee waren, näher zusammengerückt. Unterdessen arbeiteten die Brüder an einem anspruchsvollen neuen Album – es sollte tiefgründiger und persönlicher werden als alles, was sie bisher produziert hatten.
„Die Jungs tun das, was Gott für sie vorgesehen hat“, sagte Olive. „Ihre Fans schauen auf sie, weil meine Jungs ihnen etwas geben können.“
Einen Monat darauf, am Morgen des 12. April 1972, machte sich Dr. Russell M. Nelson bereit, eine Operation am offenen Herzen durchzuführen. Er hatte in seinem Leben schon hunderte von Operationen durchgeführt – aber noch nie hatte ein Apostel des Herrn vor ihm auf dem OP-Tisch gelegen. Obwohl Dr. Nelson wegen des Eingriffs gebetet und die Durchführungsschritte genau bedacht hatte, war er sich keineswegs sicher, ob er – oder sonst ein Chirurg – die Operation erfolgversprechend vornehmen könne.
Auf seinen eigenen Wunsch hin hatte Dr. Nelson am Vortag einen Segen von Präsident Lee und Präsident Tanner erhalten. Sie legten ihm die Hände auf und segneten ihn, dass er die Operation fehlerfrei werde durchführen können. Sie versicherten ihm, es gäbe keinen Grund, die eigene Unzulänglichkeit zu fürchten. Der Herr habe ihn dazu auserkoren, diese Operation durchzuführen.
Die Operation begann um acht Uhr. Im Operationssaal bekam Elder Kimball von einem Facharzt für Anästhesie eine Narkose, und Dr. Nelsons Assistent, zahlreiche OP-Schwestern und weitere Mitglieder des Operationsteams standen bereit. Eine Herz-Lungen-Maschine war einsatzbereit, um Elder Kimballs Blut mit Sauerstoff zu versorgen und durch seinen Körper zu pumpen.
Unter Dr. Nelsons Leitung ersetzte das Team die defekte Herzklappe durch eine Prothese – eine kleine Kunststoffkugel in einem Metallgehäuse. Die Prothese war etwa halb so groß wie der Umfang seines Daumens.
Nach dem Einsetzen der künstlichen Herzklappe begann Dr. Nelson, die Wunde zu nähen. Mit einem präzisen Stich nach dem anderen verband er den Ring an der Basis der Prothese langsam mit dem umliegenden Gewebe.
Anschließend widmete er seine Aufmerksamkeit dem Bypass für das verschlossene Herzkranzgefäß, das den Blutfluss zum Herzen blockierte. Er fand eine Arterie, die in Elder Kimballs Brust verlief, durchtrennte sie am unteren Ende und platzierte die Arterie direkt unterhalb des blockierten Blutgefäßes. Erneut nähte der Chirurg mit winzigen, filigranen Fäden, bis die gesunde Arterie fest verankert war.
Während Dr. Nelson arbeitete, staunte er, wie reibungslos die Operation verlief. Sie erforderte tausende von komplizierten Vorgängen und eine überaus sorgfältige Operationstechnik. Und doch war nicht ein einziger Fehler aufgetreten. Als es schließlich über vier Stunden nach Operationsbeginn an der Zeit war, Elder Kimball von der Herz-Lungen-Maschine zu trennen, aktivierte das medizinische Personal sein Herz mit einem Stromstoß, woraufhin es sofort wieder zu schlagen begann.
Nach der Operation rief Dr. Nelson Präsident Lee an. Die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel waren im Tempel versammelt. Sie fasteten und beteten für Elder Kimball. Dr. Nelson beschrieb die Operation und sagte scherzhaft zu Präsident Lee, er fühle sich wie ein Baseball-Werfer, der gerade ein perfektes Spiel geliefert habe. Der Herr hatte seine Fähigkeiten groß gemacht und ihm erlaubt, die Operation genau so durchzuführen, wie es im Priestertumssegen verheißen worden war.
Präsident Lee war überglücklich. „Bruder Kimball macht gute Fortschritte und ist nicht mehr an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen“, sagte Dr. Nelson den Aposteln. „Der Herr hat Ihre Gebete erhört.“
Der einundvierzigjährige Helvécio Martins war im selben Monat gerade in Rio de Janeiro auf dem Heimweg von der Arbeit, als ihn ein Stau zum Anhalten zwang. Die Autoschlange vor ihm schien endlos, und es sah nicht danach aus, als würde sich der Stau demnächst auflösen.
Helvécio nutzte die Zeit, um über die spirituelle Unzufriedenheit nachzudenken, die er schon seit Jahren verspürte. Von Jugend an hatte er hart gearbeitet, um sich aus der Armut zu befreien. Im Alter von elf Jahren hatte er die Schule abgebrochen und war Orangenpflücker geworden. Als seine Familie dann nach Rio zog, arbeitete er als Kurier. Seine Arbeitgeber vertrauten ihm und schätzten seinen Fleiß. Schließlich lernte er Rudá Tourinho de Assis kennen, heiratete sie und wurde von ihr ermutigt, auf die Abendschule zu gehen.
Nach vielen Jahren beharrlichen Lernens machte Helvécio das Abitur und erwarb schließlich ein Universitätsdiplom in Rechnungswesen. Anschließend war er für eine Ölgesellschaft tätig und leitete nach einiger Zeit bereits eine Abteilung mit über zweihundert Mitarbeitern.
Nun bekam er Einladungen zu Events mit Prominenten, zu denen Rudá und er mit ihren beiden Kindern Marcus und Marisa gern gingen. Dieser Lebensstil übertraf alles, was Helvécio sich einst hatte vorstellen können.
Doch trotz seines Erfolges spürte Helvécio ein ungestilltes Sehnen. Rudá und er hatten sich mit verschiedenen Religionen befasst, an spiritistischen Sitzungen teilgenommen und in der Folge auch unterschiedliche christliche Konfessionen erforscht. Egal, wohin sie sich wandten – sie spürten, dass etwas fehlte.
Da saß Helvécio nun im Stau, und seine Frustration wuchs. Er öffnete die Fahrertür und stieg hinaus auf die Straße. „Mein Gott“, betete er, „ich weiß, dass du hier irgendwo bist, aber ich weiß nicht, wo. Ist es möglich, dass du nicht siehst, wie orientierungslos meine Familie und ich sind? Ist es möglich, dass du nicht erkennst, dass wir nach etwas suchen – und nicht einmal wissen, wonach? Warum hilfst du uns nicht?“
Als er seinen Appell beendet hatte, löste sich der Stau langsam auf. Helvécio kehrte zum Auto zurück und fuhr weiter. Den Vorfall vergaß er recht bald.
Zwei Wochen später fand das Ehepaar Martins eine Karte, die unter der Haustür durchgeschoben worden war. Auf der einen Seite befand sich ein Bild des Erretters, auf der anderen eine Übersicht, wann Versammlungen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage stattfanden.
Die Karte machte Helvécio neugierig. Er nahm sie am nächsten Tag sogar zur Arbeit mit.
„Chef, gehen Sie nicht dorthin“, warnte einer seiner Angestellten. „Das ist eine Kirche für Nordamerikaner. Wenn Sie dort niemanden kennen, würde ich an Ihrer Stelle nicht einmal daran denken, hinzugehen.“
Helvécio glaubte seinem Angestellten und legte das Interesse an der Kirche erst einmal auf Eis. Doch kurze Zeit später standen zwei Missionare, Thomas McIntire und Steve Richards, vor der Tür von Familie Martins. Schon in dem Moment, als sie das Haus betraten, bemerkte Helvécio, wie sich eine angenehme Ruhe ausbreitete.
Die Missionare stellten sich vor. „Wir können einen Segen für Ihre Familie aussprechen, wenn Sie das möchten“, boten sie an.
„Gern“, erwiderte Helvécio. Aber zuerst hatte er einige Fragen.
Nachdem er sich allgemein über die Kirche erkundigt hatte, warf Helvécio eine schwierige Frage auf – eine Frage, die ihn als Nachkomme von afrikanischen Sklaven direkt betraf. „Der Hauptsitz Ihrer Kirche befindet sich doch in den Vereinigten Staaten“, sagte er. „Wie behandelt Ihre Religion denn Schwarze? Dürfen sie in die Kirche gehen?“
Elder McIntire wirkte verlegen. Er fragte: „Sir, wollen Sie das wirklich wissen?“
„Sicher“, antwortete Helvécio.
Elder McIntire erklärte, dass Schwarze sich taufen lassen und als Mitglieder der Kirche an den Versammlungen teilnehmen konnten, aber nicht das Priestertum tragen oder den Tempel besuchen durften. Helvécio und Rudá nahmen die Antwort hin und stellten weitere Fragen über das Priestertum und das Evangelium. Die Missionare beantworteten jede Frage ruhig und ausführlich.
Als die Missionare gingen, waren bereits viereinhalb Stunden vergangen. An jenem Abend besprachen Helvécio und Rudá, was sie von den Missionaren gehört hatten. Sie waren von der Unterweisung der Missionare beeindruckt und hatten das Gefühl, dass ihre Fragen umfassend beantwortet worden seien.
Kurze Zeit später besuchte das Ehepaar Martins zum ersten Mal eine Abendmahlsversammlung. Der Gottesdienst war wunderschön, und die Gemeinde hieß sie herzlich willkommen. Bald darauf kam auch der Zweigpräsident bei ihnen vorbei und stellte ihnen zwei Männer als ihre Heimlehrer vor.
Als die Familie weiterhin die Kirche besuchte und sich mit den Missionaren traf, wuchs ihr Glaube. Eines Tages nahmen sie an einer besonders beeindruckenden Versammlung des Distriktes Rio de Janeiro teil. Da wussten sie, dass sie sich der Kirche anschließen mussten.
„Wir sind jetzt anders“, sagte der dreizehnjährige Marcus eine Woche darauf, als die Familie von der Sonntagsschule nach Hause fuhr. „Eure Gesichter leuchten, und ich weiß, woher das kommt – vom Evangelium Jesu Christi.“
Helvécio brachte das Auto am Straßenrand zum Stehen. Die ganze Familie brach in Freudentränen aus. Als sie am selben Abend zur Abendmahlsversammlung ins Gemeindehaus zurückkehrten, sagten sie ihrem Zweigpräsidenten, sie seien zur Taufe bereit.
Etwa zur selben Zeit fragte der Manager der Osmonds, Ed Leffler, die Familie, ob sie nicht auch in England auftreten wolle. Der Song der Brüder „Down by the Lazy River“ und Donnys Soloaufnahme von „Puppy Love“ waren Hits in den Vereinigten Staaten und in Kanada. Jeder in Nordamerika schien die Osmond-Brüder zu kennen, und nun wurden auch die Teenager in Europa auf sie aufmerksam.
„Sicher“, sagte Olive, „aber nur unter einer Bedingung: Ich möchte die Queen treffen!“
Sie machte einen Scherz, aber Ed nahm ihre Bemerkung ernst. „Mal sehen, ob sich das arrangieren lässt“, antwortete er.
Kurze Zeit später teilte Ed der Familie mit, dass er einen Auftritt vor Königin Elisabeth II. und ihrem Ehemann Prinz Philip arrangiert hatte. Olives Wunsch sollte also in Erfüllung gehen. George und sie erhielten eine Einladung zu einer Privataudienz mit dem Königspaar in der Konzertpause.
Olive konnte es kaum glauben. Sie kaufte für diesen Anlass ein passendes Kleid und weiße Handschuhe. Zudem besorgte sie eine funkelnagelneue Ausgabe der heiligen Schriften – und sie wollte es wagen, sie der Queen zu schenken.
Die Osmonds kamen im Mai in London an und verbrachten einige Tage damit, ihre Songs zu proben. Die Vorstellung fand am 22. Mai 1972 im London Palladium statt, einem berühmten Theater im Stadtteil West End. Es war ein im Fernsehen übertragenes Wohltätigkeitskonzert mit Sängern, Schauspielern und Komikern aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten.
Olive und George saßen während der ersten Hälfte der Show mit Marie im Publikum. In der Pause klopfte Lew Grade, der Organisator der Show, sachte auf Georges Arm. „Kommen Sie schnell“, sagte er.
Olive und George standen auf und eilten Lew hinterher. Noch vor dem Verlassen der Sitzreihe bemerkte Olive jedoch, dass sie ihr Geschenk für die Queen unter dem Sitz vergessen hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, ob sie es dort lassen sollte. Aber sie hatte einen Großteil der vergangenen Nacht damit verbracht, ihre Lieblingsschriftstellen für die Queen zu markieren und zu kommentieren. Und sie wusste, dass eine solche Gelegenheit nie wiederkehren würde. Sie drehte sich um, lief zu ihrem Platz zurück und schnappte sich das Buch.
Lew führte George und sie zur Queen. Olive knickste vor dem Königspaar, wechselte ein paar Worte mit den beiden und ging weiter, ohne ihr Geschenk zu überreichen. Dann blickte sie zurück und sah, dass George stehengeblieben war, um mit Prinz Philip über gemeinsame Interessen – Jagen und Angeln – zu sprechen.
Olive bemerkte ein weiteres Mitglied der Königsfamilie, das in der Nähe stand, und ging zu ihm, ihr Exemplar der heiligen Schriften fest in der Hand. „Könnten Sie bitte der Queen dieses kleine Geschenk geben, wenn ich weg bin?“, fragte sie.
Der Mann sah Olive mit einem Augenzwinkern an. „Elisabeth!“, rief er. „Mrs. Osmond hat dir ein Geschenk mitgebracht.“
„Wie reizend“, antwortete die Queen. „Kommen Sie doch bitte herüber.“
Das war Olive peinlich, doch sie tat, wie ihr geheißen. „Ich wollte Ihnen ein Geschenk mitbringen“, erklärte sie und wusste kaum, woher sie die passenden Worte nahm. „Aber ich wusste nicht, was man einer Königin überhaupt schenken darf – deshalb habe ich Ihnen das Wertvollste mitgebracht, was ich besitze.“
„Können Sie es denn entbehren?“, fragte die Queen.
„Ja“, antwortete Olive, „ich selbst besitze auch so ein Buch.“
Die Queen betrachtete die heiligen Schriften. Dann sagte sie: „Herzlichen Dank, Mrs. Osmond. Ich werde diese Ausgabe in Ehren halten. Ich stelle sie auf meinen Kaminsims.“
Nun entspannte sich Olive und plauderte noch kurz mit der Queen über ihre Familie. Dann kehrten die Osmonds an ihren Platz zurück, um den Auftritt ihrer Jungs anzusehen.
Als sich die Familie später auf den Heimflug vorbereitete, kam Ed Leffler auf Olive zu. „Na, wie warʼs?“, wollte er wissen.
„Auf jeden Fall ein Höhepunkt meines Lebens“, erwiderte Olive. „Ich konnte der Queen sogar ein Buch Mormon schenken.“
„Du hast WAS gemacht?“ Ed war sichtlich verärgert. „Das ist so ziemlich das Schlimmste, was du machen konntest.“ Er erklärte, als Oberhaupt der Kirche von England sei die Queen gar nicht in der Lage, die Lehren des Buches Mormon anzunehmen.
Eds Worte beunruhigten Olive. Sie hatte doch niemanden kränken wollen. Sie war einfach der Meinung gewesen, die Queen habe – ebenso wie jeder andere – ein Recht darauf, das wiederhergestellte Evangelium kennenzulernen. Hatte sie wirklich etwas falsch gemacht?
Sobald die Familie das Flugzeug bestiegen hatte und alle saßen, setzte sich Olive hin und begann, in den Schriften zu lesen. Das Buch blätterte sich auf, und ihr Blick fiel auf Lehre und Bündnisse 1:23: „Damit die Fülle meines Evangeliums durch die Schwachen und die Einfachen bis an die Enden der Welt und vor Königen und Herrschern verkündigt werde.“
Diese Worte trösteten Olive. Ihre Zweifel verflogen, und sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte.
Am Abend des 15. Juni 1972 stand die achtzehnjährige Maeta Holiday mit einem Lächeln auf den Lippen gemeinsam mit über fünfhundert Schulabgängern ihrer Highschool in Südkalifornien in der Turnhalle. In wenigen Augenblicken sollten ihre Klassenkameraden und sie ihr Zeugnis erhalten und den nächsten Lebensabschnitt beginnen. Sie trugen passende Barette und Talare – die Absolventinnen in Rot und die Absolventen in Schwarz.
Für Maeta bedeutete der Abschluss, dass sich ihre Zeit im Vermittlungsprogramm für indigene Schüler dem Ende zuneigte. Bald sollte sie ihre Gastfamilie verlassen und ein neues Leben beginnen. Wie viele andere Teilnehmer des Vermittlungsprogramms plante auch sie, auf die Brigham-Young-Universität zu gehen. Über fünfhundert Indigene, von denen die meisten wie Maeta Navajo waren, studierten bereits an der BYU. Die Universität bot diesen Studenten großzügige Stipendien an, und Maetas Pflegeeltern, Venna und Spencer Black, hatten ihr bei der Beantragung geholfen.
Maeta wusste, dass die Blacks sie auch weiterhin unterstützen würden. Als sie vier Jahre zuvor zu ihnen gekommen war, hatten die beiden Maeta sofort wie eine Tochter behandelt. Sie hatten ihr ein stabiles Zuhause geboten und ihr zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl vermittelt, Teil einer liebevollen Familie zu sein. Obwohl sie schon lange vor ihrem Zusammenleben mit den Blacks Mitglied der Kirche geworden war, zeigten erst diese ihr so richtig, wie eine Familie aussieht, in der die Lehren Jesu Christi im Mittelpunkt stehen.
Nicht alle Schüler aus dem Vermittlungsprogramm hatten allerdings so gute Erfahrungen mit ihrer Gastfamilie gemacht. Einige fühlten sich dort nicht willkommen oder kamen mit ihren Pflegeeltern oder -geschwistern nicht zurecht. Andere widersetzten sich den Bemühungen ihrer Gastfamilie, sie in eine Kultur einzuführen, die sich von ihrer Herkunftskultur unterschied. Doch es gab auch Schüler, die Wege fanden, ihren Wurzeln treu zu bleiben und dennoch die Erfahrungen, die ihnen das Vermittlungsprogramm geboten hatte, zu schätzen. Sie kehrten in ihr Reservat zurück, stärkten dort das Gemeinwesen und lebten als Heilige der Letzten Tage ein erfülltes Leben.
Maeta jedoch wurde immer noch von den traumatischen Erfahrungen ihrer Kindheit verfolgt. Sie wollte nicht ein Leben wie ihre Eltern oder Großeltern führen. Venna hatte ihr dennoch ans Herz gelegt, ihr Navajo-Erbe in Ehren zu halten. „Du solltest stolz auf das sein, was du bist“, sagte Venna einmal zu ihr. „Gott weiß, dass ihr etwas Besonderes seid – schließlich spricht ja auch das Buch Mormon von eurem Volk.“ Wie viele Heilige damals verstand Venna die Verheißungen im Buch Mormon so, dass sie für die amerikanischen Ureinwohner galten. Wenn sie Maeta betrachtete, sah sie in ihr eine Nachfahrin von Lehi und Saria, die Anspruch auf die durch Bündnisse erworbenen Segnungen hatte.
„Maeta, das wünsche ich dir“, hatte Venna gesagt. „Ich wünsche dir, dass du eines Tages im Tempel heiratest. Und ich möchte, dass du weiterhin zur Kirche gehst. Ich finde, dass du etwas Besonderes bist. Wir haben dich lieb.“
Selbst als Maeta ihr Abschlusszeugnis erhielt, hatte sie noch immer nicht alles verstanden oder annehmen können, was Venna ihr beigebracht hatte. Und so sehr sie ihre Gastfamilie auch bewunderte – sie wusste nicht, ob sie einmal selbst eine gute Ehe führen oder eine liebe Familie haben könnte, denn da Maeta die Scheidung ihrer Eltern und die Mühe ihrer Mutter, für ihre Kinder zu sorgen, so hautnah miterlebt hatte, wollte sie auf keinen Fall heiraten und eine Familie gründen.
Nach ihrem Abschluss erfuhr Maeta, dass sie an der Brigham-Young-Universität aufgenommen worden war. Im Bus nach Provo dachte sie über ihre Zukunft nach – und über ihren Glauben. Die Teilnahme an den Versammlungen der Kirche und am Seminar war ein wesentlicher Bestandteil des Vermittlungsprogramms für indigene Schüler gewesen. Aber wollte sie denn, dass das wiederhergestellte Evangelium auch ihre Zukunft prägte?
„Wenn ich also an der BYU bin, was soll ich dann tun?“, überlegte sie. „Soll ich mich am Kirchenleben beteiligen oder nicht?“
Sie begann, darüber nachzudenken, was sie von Venna und Spencer gelernt hatte. Sie hatte kein einfaches Leben gehabt, aber sie hatte das Glück gehabt, zu den Blacks zu kommen und Teil ihrer Familie zu werden.
„Ich glaube schon an Gott“, dachte Maeta. „Er ist ja die ganze Zeit da gewesen.“
Am 26. August 1972 spürten Isabel Santana und ihr Mann Juan Machuca sogleich die Begeisterung, die in der Luft lag, als sie ihren gelben VW vor dem Auditorio Nacional in Mexiko-Stadt parkten. Über sechzehntausend Heilige aus Mexiko und Mittelamerika hatten sich in dem großen Veranstaltungszentrum zu einer Gebietskonferenz versammelt. Für viele bot sich auf der Konferenz erstmals die Möglichkeit, Generalautoritäten persönlich sprechen zu hören.
Gebietskonferenzen waren neu in der Kirche. Sie waren unter Präsident Joseph Fielding Smith eingeführt worden. Da die meisten Heiligen nicht an der Generalkonferenz in Salt Lake City teilnehmen konnten, boten ihnen regionale Konferenzen die Gelegenheit, zusammenzukommen und Weisung von örtlichen Führern und Generalautoritäten zu erhalten. Die erste Gebietskonferenz hatte 1971 in Manchester in England stattgefunden. Über achtzigtausend Einwohner Mexikos gehörten mittlerweile der Kirche an – die größte Gruppe von Heiligen außerhalb der Vereinigten Staaten und damit ein idealer Ort für eine solche Konferenz.
Isabel und Juan staunten nicht schlecht, als sie sich auf den Weg zum Veranstaltungszentrum machten. Da waren Mitglieder aus ganz Mexiko und sogar aus Guatemala, Honduras, Costa Rica und Panama. Einige waren fast fünftausend Kilometer gereist, um dabei zu sein. Eine Frau aus dem Nordwesten Mexikos hatte fünf Monate lang die Wäsche ihrer Nachbarn geschrubbt, um genug Geld für die Reise zu verdienen. Manch einer hatte seine Reisekosten mit dem Verkauf von Tacos und Tamales, Autowaschen oder Gartenarbeit finanziert. Andere hatten Habseligkeiten verkauft oder sich Geld geliehen, um teilnehmen zu können. Einige fasteten, weil sie nicht einmal Geld fürs Essen hatten. Glücklicherweise bot Benemérito vielen der von weit her angereisten Mitglieder eine Unterkunft.
Als die Machucas in der Schlange vor dem Vortragssaal warteten, hielt ein Auto in der Nähe an. Heraus stiegen Spencer W. Kimball und seine Frau Camilla. Vier Monate waren seit der Herzoperation von Elder Kimball vergangen, und er hatte sich bereits so weit erholt, dass er viele seiner Aufgaben im Kollegium der Zwölf Apostel wieder wahrnehmen konnte. Er war sogar später am Nachmittag als Redner eingeplant.
Präsident Joseph Fielding Smith hatte zwar noch an der Planung der Konferenz mitgewirkt, doch er war verstorben, ehe sie stattfand. Sein Tod beendete ein Leben, das viele Jahrzehnte lang hingebungsvoll dem Dienst an der Kirche und den Heiligen gewidmet gewesen war. Als Apostel hatte er zahlreiche Schriften über die Lehre des Evangeliums und über geschichtliche Themen verfasst, Familienforschung und Tempelarbeit forciert und die Philippinen und Korea für die Verkündigung des Evangeliums geweiht. Als Präsident der Kirche genehmigte er die ersten Pfähle in Peru und Südafrika, weitete das Seminar- und Institutsprogramm auf der ganzen Welt erheblich aus, belebte die öffentliche Kommunikation der Kirche neu und verbesserte die Professionalität in den Abteilungen der Kirche.
Bei seiner letzten Generalkonferenz hatte er den Heiligen eingeprägt: „Es gibt kein Werk, in dem wir uns engagieren können, das wichtiger wäre als die Verkündigung des Evangeliums und der Aufbau der Kirche und des Gottesreichs auf der Erde. Und so ermuntern wir alle Kinder unseres Vaters allerorts, an Christus zu glauben, ihn so anzunehmen, wie er von den lebenden Propheten offenbart wurde, und sich der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage anzuschließen.“
Sein Nachfolger Harold B. Lee war inzwischen als Präsident der Kirche eingesetzt worden, sodass Elder Kimball der neue Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel wurde.
Nachdem Isabel und Juan das Auditorio Nacional betreten hatten, nahmen sie inmitten tausender von Gläubigen Platz. Der Zuschauerraum hatte insgesamt vier bestuhlte, um eine Bühne herum angeordnete Ränge. Ein Chor von Heiligen aus dem Norden Mexikos füllte das Podium. Vor den Sängern befanden sich das Rednerpult und der Bereich mit hochlehnigen Stühlen für die Generalautoritäten und die übrigen Redner.
Die Konferenz wurde mit einer Ansprache von Präsident Marion G. Romney eröffnet, der in einer Kolonie von Heiligen im Norden Mexikos geboren worden und dort aufgewachsen war. Er war erst seit kurzem Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft. Auf Spanisch versicherte er die Heiligen in Mexiko und Mittelamerika seiner Liebe und unterstrich, wie sehr er die mexikanische Regierung schätze.
Anschließend ergriff Präsident N. Eldon Tanner das Wort und würdigte die Stärke der Kirche in Mexiko und weiteren spanischsprachigen Ländern Amerikas. „Weltweit gibt es Wachstum, und es werden Führungspersönlichkeiten herangebildet“, erklärte er über einen Dolmetscher. Zur Unterstützung angehender Führungsverantwortlicher war das Handbuch Allgemeine Anweisungen kurz zuvor zusammengestellt und in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt worden, darunter auch ins Spanische. Führer der Kirche auf der ganzen Welt konnten nun die Kirche nach demselben Muster verwalten.
„Es ist großartig, mitzuerleben, wie Menschen das Evangelium annehmen und in die Kirche und das Reich Gottes eintreten“, bezeugte Präsident Tanner, „und sie alle geben Zeugnis für die Segnungen, die sie erhalten, und erkennen, dass dies tatsächlich die Kirche Jesu Christi ist.“
Als Isabel den Rednern zuhörte, war sie glücklich, eine Heilige der Letzten Tage aus Mexiko zu sein. Die Ausbildung in Benemérito hatte sie gelehrt, wie wichtig es ist, der Kirche anzugehören und das wiederhergestellte Evangelium zu einem zentralen Bestandteil des Lebens zu machen. Bei der allerersten Ankunft an der Schule war sie ein schüchternes Mädchen ohne klares Bewusstsein für ihr geistiges Potenzial gewesen. Doch durch ihre Lehrer wurde sie reich gesegnet. Sie hatte das Studium der heiligen Schriften und das Beten in ihren Alltag integriert und ging nun mit Selbstvertrauen und einem glühenden Zeugnis von der Wahrheit durchs Leben.
Umgeben von so vielen Heiligen konnte sie nun gar nicht anders, als innerlich zu jubeln. „Ich bin von hier“, dachte sie. „Und ich gehöre dazu.“