Kapitel 17
Es gibt kein Zurück
Am Morgen des 10. Oktober 1975 kamen mit Röhren und Keuchen auf dem Campus der Brigham-Young-Universität einige glänzende Oldtimer in Gang. Sie sollten die Parade zum Gründungstag der Bildungseinrichtung anführen. Tausende von Dozenten, Studenten und Ehemaligen, welche die vielen Colleges und Vereinigungen der Universität repräsentierten, marschierten flotten Schrittes hinter den Autos her. In der Ferne schimmerte an einem Berghang östlich des Campus ein riesiges, weiß getünchtes „Y“ im Sonnenlicht.
Die Brigham-Young-Universität feierte ihre Gründung jedes Jahr im Herbst. Doch 1975 jährte sich die Gründung zum hundertsten Mal. Zur Feier des Tages fuhren Präsident Spencer W. Kimball und seine Frau Camilla im ersten Wagen, einem roten Cadillac, Baujahr 1906. Passend zur nostalgischen Atmosphäre der Parade trug Präsident Kimball einen altmodischen Derby-Hut und einen gestreiften Anzug. Schwester Kimball hielt sich einen Sonnenschirm aus schwarzer Spitze über den Kopf.
Obwohl seine Kleidung an die Vergangenheit erinnerte, hatte Präsident Kimball den Blick auf die Zukunft gerichtet. Da die Kirche nun schnell zu einer weltweiten Organisation heranwuchs, erschien es nicht richtig, für einige Heilige Programme und Dienstleistungen anzubieten, für andere hingegen nicht. Die Verantwortlichen hatten bereits die kirchenweiten Sportturniere in Salt Lake City abgeschafft. 1974 hatte die Erste Präsidentschaft zudem angekündigt, dass die Kirche die fünfzehn Krankenhäuser veräußern werde, die sie im Westen der Vereinigten Staaten betrieb. Im darauffolgenden Jahr hatte Präsident Kimball angekündigt, dass alle jährlich stattfindenden Konferenzen der allgemeinen Hilfsorganisationen – der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung, der Sonntagsschule, der Primarvereinigung und der Frauenhilfsvereinigung – abgeschafft werden, da sie in Salt Lake City stattfanden und im Allgemeinen nur den Heiligen in und um Utah zugutekamen.
„Da die Entfernungen immer größer werden und die Zahl der Mitglieder stark zunimmt“, erklärte er, „scheint es höchste Zeit zu sein, einen weiteren großen Schritt in Richtung Dezentralisierung zu machen.“
Die Bedeutung der neuen Gebietskonferenzen war ein Beweis für das Augenmerk, das die Kirche auf ihre weltweite Mitgliederschaft legte. Allein im Jahr 1975 hatte Präsident Kimball bei großen Konferenzen in Brasilien, Argentinien, Japan, den Philippinen, Taiwan, Hongkong und Südkorea den Vorsitz innegehabt. Die Kirche berief zudem mehr Missionare als je zuvor. Auf seinen Reisen als Apostel hatte Präsident Kimball an die Kinder, die er kennenlernte, Silberdollars verteilt und sie gebeten, einen Missionsfonds anzulegen. Als Präsident der Kirche forderte er jetzt jeden jungen Mann auf, auf Mission zu gehen, und hielt die Heiligen in jedem Land dazu an, eigene Missionare zu stellen.
Während seines Aufenthalts in Japan hatte er Pläne für den Bau eines Tempels in Tokio bekanntgegeben – des ersten in Asien. Und erst kurz zuvor, auf der Generalkonferenz im Oktober, hatte er Männer in ein neues Priestertumskollegium berufen, das Erste Kollegium der Siebziger. Laut Lehre und Bündnisse sollte das Kollegium der Zwölf Apostel „sich an die Siebziger … wenden, wenn sie Hilfe benötigen“. Die Mitglieder des neuen Kollegiums sollten also die Zwölf Apostel unterstützen, bei örtlichen Konferenzen den Vorsitz führen und weltweit neue Pfähle gründen. Obwohl bisher nur wenige Männer in das neue Kollegium berufen worden waren, sollte es bis zu siebzig Mitglieder haben.
Das Jubiläum der Brigham-Young-Universität veranlasste Präsident Kimball auch dazu, über die Zukunft der Universität nachzudenken. Mit rund fünfundzwanzigtausend Studenten war die BYU die größte der vier Hochschuleinrichtungen der Kirche, zu denen auch das Ricks College in Idaho, die Brigham-Young-Universität Hawaii auf Oahu und das LDS Business College in Salt Lake City zählten. Die BYU war zudem die größte Privatuniversität in den Vereinigten Staaten. Die Studenten dort und an allen Bildungseinrichtungen der Kirche hielten sich an einen Ehrenkodex, der hohe Maßstäbe in Bezug auf Moral, Ehrlichkeit und Anstand setzte.
1971 hatte Dallin Oaks, ein junger Juraprofessor von der Universität Chicago, BYU-Präsident Ernest Wilkinson abgelöst. Unter seiner Leitung hatte die Universität mehr Möglichkeiten für Dozentinnen und Studentinnen geschaffen, die juristische Fakultät J. Reuben Clark Law School gegründet und andere akademische Programme erweitert.
In jüngster Zeit war die Universität jedoch in die Kritik geraten, weil einige Punkte ihres Ehrenkodex gegen die neuen Bundesgesetze zur Chancengleichheit zu verstoßen schienen. Präsident Oaks und der Treuhänderausschuss waren besorgt, dass diese Vorschriften die BYU zwingen könnten, Einrichtungen wie getrennte Unterkünfte für Männer und Frauen abzuschaffen. Entschieden setzten sich Oaks und der Ausschuss für den Grundsatz der Chancengleichheit im Bildungswesen und am Arbeitsplatz ein. Sie lehnten jedoch jedes Gesetz ab, das Überzeugungen und Praktiken der Kirche untergraben und der Universität Regelungen aufzwingen würde, die die Religionsfreiheit gefährdeten.
Bislang war das Problem ungelöst. Dennoch war Präsident Kimball als Vorsitzender des Treuhänderausschusses der Brigham-Young-Universität unnachgiebig, wenn es um die Einhaltung der kirchlichen Maßstäbe ging. Er war der Meinung, dass der Fokus der Universität auf sowohl weltliches als auch geistiges Lernen der Schlüssel zu ihrem künftigen Erfolg sei, auch wenn sie sich dadurch von anderen Hochschulen unterschied.
Nach der Parade zum Gründungstag sprach Präsident Kimball auf einer großen Versammlung über seine Vision für das zweite Jahrhundert der BYU. „Diese Universität teilt mit anderen Hochschulen die Hoffnung und die Mühen, die damit verbunden sind, Wissensgrenzen noch weiter auszudehnen“, erklärte er, „aber wir wissen auch, dass durch den Vorgang der Offenbarung der Menschheit noch ‚viel Großes und Wichtiges‘ gegeben wird, dessen intellektuelle und geistige Wirkung weit über das hinausgeht, was man sich vorstellen kann.“
Er legte den Dozenten und Studenten ans Herz, das Studium „zweisprachiger“ anzugehen. „Als Wissenschaftler der Kirche müssen Sie mit Ihren Berufskollegen autoritativ und herausragend in der Sprache der Wissenschaft sprechen“, erklärte er, „und gleichermaßen müssen Sie die Sprache für Geistiges beherrschen.“
Er forderte die Universität auf, glaubensvoll auf die Zukunft zuzugehen und den Weisungen des Herrn zu folgen, Zeile um Zeile. Er bezeugte, dass die Universität voranschreiten werde. „Wir verstehen es so“, erklärte er, „dass Bildung ein Teil des Werkes unseres Vaters ist und dass die heiligen Schriften die Grundkonzepte für die Menschheit enthalten.
Wir erwarten – wir hoffen nicht einfach –, dass die Brigham-Young-Universität eine führende Rolle unter den bedeutenden Universitäten der Welt einnehmen wird“, fuhr er fort. „Dieser Erwartung möchte ich hinzufügen: Sie wird als Universität unter allen Universitäten weltweit einzigartig sein!“
Etwa zu dieser Zeit kamen Vertreter einer protestantischen Kirche aus den Vereinigten Staaten nach Cape Coast in Ghana. Sie wollten mit Billy Johnson sprechen. Sie hatten gehört, dass Billy mächtige Wunder vollbracht hatte, und hofften, ihn und seine Mitgläubigen dazu zu bringen, sich ihrer Kirche anzuschließen. Etwa viertausend Ghanaer in einundvierzig Gemeinden bezeichneten sich als Heilige der Letzten Tage. Fünf dieser Gemeinden betreute Billy. Die Vertreter der protestantischen Kirche brauchten jemanden, der die Leitung ihrer ghanaischen Gemeinden übernahm, und dafür schien Billy ihnen der richtige Mann zu sein.
Billy und seine Glaubensgenossen erklärten sich bereit, mit den Besuchern in einem städtischen Gemeindezentrum einen Gottesdienst zu feiern. Die Amerikaner begrüßten sie mit Geschenken wie Seife und Kosmetika. „Ihr freundlichen Menschen müsst unsere Brüder sein“, sagten sie, „und wir sollten uns zusammenschließen.“ Sie bedrängten Billy und die anderen, doch nicht länger auf die Missionare zu warten. „Sie werden nicht kommen.“
Einer der Besucher drängte Billy, sich ihnen anzuschließen und in ihrer Kirche eine Führungsrolle zu übernehmen. „Wir bezahlen dich dafür“, erklärte er. „Wir entlohnen eure Geistlichen.“ Sie boten zudem an, Billy zu unterstützen, damit er in die Vereinigten Staaten reisen könne, und versprachen, seine Gemeinde mit Musikinstrumenten und einem neuen Kirchengebäude auszustatten.
Am Abend lud Billy die Besucher ein, in seinem Haus zu übernachten, während er über ihr Angebot nachdachte. Da er so arm war, erwog er den Vorschlag ernsthaft. Aber er wollte weder Gott noch seinen eigenen Glauben an das wiederhergestellte Evangelium verraten.
Alleine in seinem Schlafzimmer kniend, weinte Billy. „Herr, was soll ich tun?“, betete er. „Ich habe so lange gewartet, und meine Brüder sind nicht gekommen.“
„Johnson, lass dich und die Mitglieder, die du führst, nicht durcheinanderbringen“, erklang da eine Stimme. „Halte an der Kirche fest, und schon bald werden deine Brüder kommen und dir beistehen.“
Billy beendete das Gebet und verließ sein Zimmer. Bald darauf kam einer der Gäste aus einem anderen Zimmer auf ihn zu. „Johnson“, sagte der Mann, „du schläfst nicht?“
„Ich überlege, wie ich mit der Sache umgehen soll“, gab Billy zu.
„Bruder Johnson“, erklärte da der Mann, „ich wollte zu dir kommen und an deine Tür klopfen, um dir zu sagen, dass deine Kirche bereits aufgerichtet ist. Ich darf dich nicht durcheinanderbringen.“ Er sagte, der Herr habe ihm diese Wahrheit offenbart. „Ich darf dir nur ein Bruder sein“, erklärte er. „Mach mit deiner Kirche weiter.“
„Der Herr hat auch zu mir gesprochen“, berichtete Billy. „Dies ist die Kirche des Herrn. Ich darf sie niemandem übergeben.“
Später kamen Vertreter anderer amerikanischer Kirchen mit ähnlichen Angeboten. Billy lehnte sie alle ab. Bald erfuhren Mitverantwortliche seiner eigenen Gemeinde, dass er Geld und Geschenke der Amerikaner zurückwies. Wütend stürmten sie in sein Haus. „Diese Leute sind gekommen, um zu helfen“, sagte einer der Männer. „Sie wollen uns bezahlen.“
„Ich werde die Kirche nicht verkaufen“, erwiderte Billy. „Und wenn es zwanzig Jahre dauert, ich werde auf den Herrn warten.“
„Du hast kein Geld“, wandte ein Mann ein. „Die wollen uns bezahlen.“
„Nein“, sagte Billy, „nein.“
Die Männer schienen kurz davor zu sein, Billy zu verprügeln. Aber er weigerte sich, seine Meinung zu ändern. Schließlich ließen sie ihn in Ruhe. Als sie abzogen, umarmte Billy einen nach dem anderen. Der letzte Mann brach in Tränen aus, als Billy ihn in die Arme nahm.
„Es tut mir leid, dass ich dir wehtue“, beteuerte der Mann. „Bitte Gott, mir meine Sünden zu vergeben.“
Billy weinte mit ihm. „Vater“, betete er, „vergib ihm.“
Im August 1976 sandte Anthony Obinna, der in einem anderen Teil Westafrikas lebte, einen Brief an Präsident Kimball. „Wir wünschen uns sehr, dass Sie Ihr Augenmerk auf Nigeria richten“, schrieb er, „und das Land für die Lehre des wahren Evangeliums unseres Herrn Jesus Christus weihen.“
Zwei Jahre waren vergangen, seit Anthony das letzte Mal von LaMar Williams, seinem Ansprechpartner in der Missionsabteilung, gehört hatte. Lorry Rytting, ein Professor aus den USA, der Mitglied der Kirche war, hatte in der Zwischenzeit ein Jahr lang an einer Universität in Nigeria gelehrt. Anthony und weitere Gläubige hatten sich mit Lorry getroffen und hofften, dass sein Aufenthalt zu einem direkteren Kontakt mit dem Hauptsitz der Kirche führen werde – und vielleicht den Grundstein für eine Mission legen könne. Lorry war nach Utah zurückgekehrt und hatte den Führern der Kirche einen positiven Bericht darüber gegeben, dass Nigeria für das Evangelium bereit sei. Aber es hatte sich noch nichts daraus entwickelt.
Anthony war nicht willens, aufzugeben. „Die Lehren Ihrer Kirche verkörpern so viel Gutes, was man bei anderen nicht finden kann“, schrieb er Präsident Kimball. „Gott ruft uns, damit wir gerettet werden, und wir wünschen uns, Sie würden das Werk beschleunigen.“
Kurze Zeit später erhielt Anthony eine Antwort von Grant Bangerter, dem Präsidenten der Internationalen Mission der Kirche, einer Sondermission, die Gebiete betreute, in denen zwar Mitglieder der Kirche lebten, diese jedoch nicht offiziell anerkannt war. Präsident Bangerter erklärte Anthony, er habe Verständnis für seine Situation, müsse ihm aber mitteilen, dass es noch keine Pläne gebe, die Kirche in Nigeria zu gründen.
„Mit dem tiefsten Ausdruck brüderlicher Liebe möchten wir Sie ermutigen, Ihren Glauben so gut es geht auszuüben, bis es der Kirche in der Zukunft möglich sein wird, konkrete Maßnahmen zu ergreifen“, schrieb er.
Anthony und seine Frau Fidelia erfuhren etwa zur selben Zeit, dass ihre Kinder in der Schule wegen ihrer religiösen Überzeugung schikaniert und gedemütigt wurden. Ihre achtjährige Tochter erzählte, dass einige Lehrer sie und ihre Geschwister während des Schulgebets nach vorne riefen, sie zwangen, sich mit erhobenen Händen hinzuknien und ihnen mit einem Stock auf die Hände schlugen.
Unverzüglich suchten Anthony und Fidelia die Lehrer auf, um mit ihnen zu sprechen. „Warum machen Sie das?“, fragten sie. „In Nigeria herrscht Religionsfreiheit!“
Die Kinder wurden nun zwar nicht mehr geschlagen, doch die Familie und ihre Mitgläubigen waren in ihrem Umfeld weiterhin Widerstand ausgesetzt. „Da uns nach wie vor keine Amtsträger der Kirche aus Salt Lake City besucht haben, ernten wir bei einigen Leuten hier nur Spott“, schrieb Anthony im Oktober 1976 an Präsident Bangerter. „Wir setzen alles daran, dass die Wahrheit unter den vielen Kindern unseres Vaters im Himmel in diesem Teil der Welt bekannt wird.“
Anthony wartete auf eine Antwort – aber es kam keine. Hatten seine Briefe Salt Lake City denn nicht erreicht? Er wusste es nicht, also schrieb er erneut.
„Wir werden gewiss nicht müde, Ihnen zu schreiben und Sie zu bitten, hier die Kirche aufzurichten, so wie Sie es in der ganzen Welt getan haben“, bekräftigte er. „Wir in unserer Gruppe folgen aufrichtig den Lehren unseres Erretters Jesus Christus. Es gibt kein Zurück.“
Als Katherine Warren zum ersten Mal vom wiederhergestellten Evangelium hörte, arbeitete sie als Schwesternhelferin im Haus einer kranken Frau im Nordosten der Vereinigten Staaten. Eines Tages hatten zwei Missionare der Kirche an die Tür geklopft.
„Die Dame des Hauses ist bettlägerig“, sagte Katherine ihnen.
„Sagen Sie ihr, dass Älteste der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage vorbeigekommen sind“, antworteten diese und überreichten ihr eine Broschüre mit dem Zeugnis des Propheten Joseph Smith. Katherine nahm sie an sich, und die Missionare machten sich wieder auf den Weg.
Katherine war von den jungen Männern beeindruckt. Doch als ihre Arbeitgeberin davon erfuhr, nahm sie Katherine die Broschüre aus der Hand und warf sie in den Mülleimer.
Katherine war jedoch neugierig und holte sie wieder hervor. Als sie an jenem Tag später von Joseph Smiths erster Vision und dem Buch Mormon las, glaubte sie alles.
Kurze Zeit später erzählte Katherine einer Freundin davon. „Ich glaube, ich habe dieses Buch Mormon“, sagte ihre Freundin, „du kannst es haben.“
Katherine vertraute darauf, dass der Herr sie bei der Suche nach etwas Wichtigem führte. Als sie begann, das Buch Mormon zu lesen, wusste sie: Das war es also, was der Herr sie finden lassen wollte! Doch einige Punkte über die Taufe widersprachen dem, was sie als Kind gelernt hatte. Da vernahm sie eine Stimme, die sie aufforderte, das Buch nicht zu verwerfen. „Glaube alles“, sagte die Stimme.
Kurze Zeit später zog Katherine nach New Orleans in Louisiana und heiratete. Sie wollte unbedingt mit den Heiligen den Gottesdienst feiern. Daher suchte sie im Telefonbuch nach der Adresse und besuchte die örtliche Gemeinde. Sie hatte ein gutes Gefühl in der Kirche und begann, regelmäßig hinzugehen. Doch als Schwarze hatte sie es nicht leicht dort. Einige Leute schienen sich durch ihre Anwesenheit gestört zu fühlen und zeigten ihr die kalte Schulter. Schließlich lernte sie in der Gemeinde eine ältere Dame kennen, Freda Beaulieu, die ebenfalls eine Schwarze war. Obwohl Freda das Evangelium liebte und seit ihrer Kindheit der Kirche angehörte, ging sie nicht regelmäßig in die Kirche.
Einige Jahre vergingen und Katherine wollte sich der Kirche anschließen, wusste aber nicht, wie sie das bewerkstelligen könne. Sie schrieb Präsident Kimball von ihrem Wunsch, und er leitete den Brief an die Führer der Kirche in Louisiana weiter. Zwei Missionare – ihr Missionspräsident war LaMar Williams – suchten sie unverzüglich zuhause auf.
Sie nahmen mit Katherine die üblichen Missionarslektionen durch, und bald war sie für die Taufe bereit. Da die Kirche Ehekonflikte vermeiden wollte, vertrat sie seinerzeit den Grundsatz, dass eine Frau sich nicht ohne die Einwilligung ihres Mannes taufen lassen dürfe. Und prompt verweigerte Katherines Mann seine Zustimmung.
„Schwester Warren, das ist Ihre Kirche. Sie können weiterhin hierherkommen“, sagten die Missionare, als sie ihnen die schlechte Nachricht mitteilte. „Und wenn es fünfzig Jahre dauert, bis Sie sich taufen lassen können – aber kommen Sie weiterhin in die Kirche.“
Und das tat Katherine. Als neue Missionare kamen, nahmen sie die Lektionen wieder auf, aber sie kannte bereits alle Antworten. „Wir sind eigentlich hier, um Sie zu unterweisen“, sagten sie zu ihr, „aber Sie bringen uns noch etwas bei!“
Da Katherine immer noch hoffte, getauft zu werden, bat sie ihren Mann erneut um Einwilligung. Diesmal gab sie ihm ein Formular, das die Missionare aufgesetzt hatten und das er unterschreiben sollte. „Wenn es das ist, was du willst, unterschreibe ich es halt“, meinte er.
Doch als Präsident Williams nach New Orleans reiste, um Katherine für die Taufe zu interviewen, erlaubte ihr Ehemann nicht, dass sie mit ihm zusammenkam. Davon entmutigt, war Katherine kurz davor, aufzugeben. Sie wusste, dass der Heilige Geist sie zur Kirche geführt hatte, aber der Versuch, sich der Kirche anzuschließen, warf ein Problem nach dem anderen auf. War das die Mühe wert?
Sie beschloss zu fasten. Dabei hatte sie eine Vision: Eine Gestalt in einem grauen Anzug erschien in ihrer Wohnung. Zuerst dachte sie, es sei ein Missionar, aber sie erkannte schnell, dass es ein Engel war. Sein Gesicht leuchtete, aber er sprach kein Wort mit ihr. Er ergriff einfach ihre Hand. Sie erhielt die Eingebung, sie solle die Missionare und Präsident Williams für das Taufinterview zu sich nach Hause einladen. Sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen, dass sich ihr Mann einmischen werde.
Präsident Williams kam nach New Orleans und sprach mit Katherine. Am Weihnachtstag 1976 wurde sie getauft.
Zur selben Zeit, als Katherine Warren das wiederhergestellte Evangelium annahm, war Nguyen Van The, der Präsident des Zweiges Saigon, in Thành Ông Năm inhaftiert, einem verdreckten vietnamesischen Fort, das als Gefangenenlager diente. Er wartete verzweifelt auf Nachrichten von seiner Frau und seinen Kindern, aber man hatte die Lagerinsassen weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten. Alles, was er über den Verbleib seiner Familie wusste, stammte aus einem Telegramm des Präsidenten der Hongkong-Mission: „Lien und Familie wohlauf. Bei Kirche.“
The hatte das Telegramm kurz vor seiner Ankunft im Lager erhalten. In dem Bestreben, nach der Eroberung Saigons die Ordnung wiederherzustellen, hatte die nordvietnamesische Regierung allen ehemaligen Angehörigen des südvietnamesischen Militärs einen „Umerziehungskurs“ aufgezwungen, der sie auf die Grundsätze und Praktiken der neuen Regierung einschwor. Da The in Südvietnam als Nachwuchsoffizier und Englischlehrer gedient hatte, stellte er sich widerwillig und rechnete damit, dass die Umerziehungsmaßnahmen etwa zehn Tage dauern würden. Jetzt, mehr als ein Jahr später, fragte er sich, wann er je wieder frei sein würde.
Das Leben in Thành Ông Năm war entwürdigend. Seine Mitgefangenen und er waren in Einheiten organisiert und in rattenverseuchten Baracken untergebracht. Sie schliefen auf dem nackten Boden, bis ihre Wärter sie Betten aus Stahlplatten bauen ließen. Unzureichende, verdorbene Nahrung und unhygienische Bedingungen im Lager machten die Männer anfällig für Krankheiten wie Ruhr und Beriberi.
Zur „Umerziehung“ gehörten auch körperliche Schwerstarbeit und politische Indoktrination. Wenn sie nicht gerade Bäume fällten oder Getreide anbauten, um das Lager zu versorgen, wurden die Männer gezwungen, Propagandamaterial auswendig zu lernen und ihre Verbrechen gegen Nordvietnam zu gestehen. Wer gegen die Lagerregeln verstieß, musste mit brutalen Schlägen oder Einzelhaft in einem müllcontainerartigen Eisenverschlag rechnen.
The hatte bisher überlebt, indem er sich bemühte, nicht aufzufallen, und an seinem Glauben festhielt. Er versuchte, die Lagerregeln zu befolgen, und praktizierte seine Religion nur für sich im Verborgenen. An den Fastsonntagen fastete er, obwohl er unterernährt war, und wiederholte still im Kopf Schriftstellen, um seinen Glauben zu stärken. Als ihm ein Mitchrist im Lager eine geschmuggelte Bibel schenkte, las er sie innerhalb von drei Monaten zweimal komplett durch und freute sich über die Gelegenheit, wieder das Wort Gottes zu lesen.
The sehnte sich nach Freiheit. Eine Zeit lang dachte er darüber nach, aus dem Lager zu fliehen. Er war sich sicher, dass er es mit seiner militärischen Ausbildung schaffen könne, seinen Wärtern zu entkommen. Doch als er um Unterstützung bei der Flucht betete, spürte er, dass ihn der Herr zurückhielt. „Hab Geduld“, flüsterte der Heilige Geist. „Alles wird gut, gemäß der vom Herrn bestimmten Zeit.“
Einige Zeit später erfuhr The, dass seine Schwester Ba ihn im Lager besuchen dürfe. Wenn er ihr einen Brief an seine Familie zustecken könnte, würde sie ihn an Präsident Wheat in Hongkong schicken, und dieser könnte ihn an Lien und die Kinder weiterleiten.
Am Tag von Bas Besuch wartete The in der Schlange, während die Wärter eine vollständige Leibesvisitation der Gefangenen vor ihm durchführten. Da er wusste, dass die Wachen ihn sofort in Einzelhaft schicken würden, wenn sie seinen Brief an Lien fanden, hatte er die Nachricht hinter dem Stoffband an der Innenseite seines Hutes verborgen. Dann steckte er ein kleines Notizbuch und einen Stift in den Hut und legte ihn auf den Boden. Mit etwas Glück würde das Notizbuch die Wachen gerade genug ablenken, um sie davon abzuhalten, den Rest des Hutes zu durchsuchen.
Als The mit der Leibesvisitation an der Reihe war, versuchte er, ruhig zu bleiben. Doch als die Wachen ihn untersuchten, begann er zu zittern. Er dachte an die Haft, die ihn erwartete, falls die Aufseher den Brief entdeckten. Thes Anspannung wuchs, als die Wachen auf seinen Hut aufmerksam wurden. Sie begutachteten den Stift und das Notizbuch, aber als sie nichts Ungewöhnliches fanden, verloren sie das Interesse an The und ließen ihn passieren.
Bald sah The seine Schwester auf sich zukommen, nahm den Brief unauffällig aus dem Hut und drückte ihn ihr in die Hand. Er weinte, als Ba ihm etwas Essen und Geld gab. Ihr Mann und sie verkauften landwirtschaftliche Erzeugnisse, aber sie konnten nicht viel entbehren. The war dankbar für jede Kleinigkeit, die sie ihm geben konnte. Als sie auseinandergingen, vertraute er darauf, dass sie seinen Brief an Lien weiterleiten würde.
Sechs Monate später kehrte Ba mit einem Brief ins Lager zurück. Darin befand sich ein Foto von Lien und den Kindern. The betrachtete ihre Gesichter mit Tränen in den Augen. Seine Kinder waren so gewachsen! Er spürte, er konnte nicht länger warten.
Er musste einen Weg aus dem Lager und in die Arme seiner Familie finden.