Kapitel 19
Als Familie vereint
An einem Abend im Juni 1978 kam Billy Johnson nach Hause. Er hatte – wie zuvor schon so oft – zusammen mit anderen aus seiner Gemeinde in Cape Coast gefastet, doch diesmal wollte sich seine Stimmung durch das Fasten einfach nicht aufhellen. Er war müde und mutlos, denn die Zahl derer, die nicht mehr in den Gottesdienst kamen und stattdessen wieder ihre früheren Glaubensgemeinschaften aufsuchten, war angestiegen.
Billy sehnte sich nach geistiger und seelischer Stärkung. Ein paar Monate zuvor hatte ihm eine Frau aus seiner Gemeinde von einer Offenbarung erzählt, die sie gehabt hatte. „Sehr bald werden Missionare kommen“, hatte sie gesagt. „Ich habe gesehen, wie Weiße zu uns in die Gemeinde kamen. Sie umarmten uns und verehrten Gott gemeinsam mit uns.“ Auch eine zweite Frau hatte von einer ähnlichen Offenbarung berichtet. Billy hatte selbst einen Traum gehabt, in dem Weiße ins Gemeindehaus kamen und verkündeten: „Wir sind eure Brüder und wir sind gekommen, um euch zu taufen.“ In einem weiteren Traum hatte er Schwarze gesehen, die von weither gekommen waren, um sich der Kirche anzuschließen.
Doch Billy konnte die Mutlosigkeit einfach nicht abschütteln.
Obwohl es bereits spät war, fand er keinen Schlaf. Auf einmal hatte er das deutliche Gefühl, er müsse etwas tun, was er seit Jahren schon nicht mehr gemacht hatte: das Radio einschalten und BBC hören.
Also suchte er nach seinem braunen Radio mit den vier silbernen Knöpfen. Als er es fand und einschaltete, erwachte es knisternd zum Leben. Der rote Zeiger wanderte über die Senderskala, als er den Sendersuchknopf hin und her drehte, doch der gewünschte Sender blieb unauffindbar.
Endlich, nach einer Stunde vergeblichen Suchens, empfing Billy eine Nachrichtensendung der BBC. Der Nachrichtensprecher gab bekannt, der Präsident der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage habe eine Offenbarung erhalten. Von nun an sei es allen würdigen Männern in der Kirche unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft erlaubt, das Priestertum zu tragen.
Billy sank zu Boden und ließ seinen Freudentränen freien Lauf. Endlich sollte die Priestertumsvollmacht nach Ghana kommen.
Wie die überwiegende Mehrheit der Heiligen freute sich auch Ardeth Kapp, Zweite Ratgeberin in der Präsidentschaft der Jungen Damen der Kirche, sehr über die Ankündigung, dass nun alle würdigen Männer das Priestertum empfangen konnten. „Einmal mehr eine neue Offenbarung – und dieses Mal eine so wunderbare!“, dachte sie bei sich. „Wie gesegnet wir doch sind und wie dankbar wir für einen Propheten sein können, der uns in diesen Letzten Tagen führt.“
Die Offenbarung über das Priestertum war bekanntgegeben worden, kurz nachdem Ruth Funk, die Präsidentin der Jungen Damen der Kirche, Ardeth mitgeteilt hatte, die Präsidentschaft der Jungen Damen werde als Ganzes entlassen. Diese Nachricht hatte alle überrascht. Die meisten Präsidentschaften vergangener Jahre waren mindestens zehn Jahre lang im Amt verblieben. Ihre Zusammenarbeit in der Präsidentschaft sollte nun also bereits nach nur fünfeinhalb Jahren enden.
Ardeth fiel es schwer, den Zeitplan des Herrn nachzuvollziehen. Durch ihre Tätigkeit für die Jungen Damen hatte sie einen neuen Lebenssinn gefunden. Was mochte die Zukunft wohl für sie bringen, jetzt, da ihre Berufung sich dem Ende zuneigte?
„Ich bin jetzt siebenundvierzig Jahre alt, und das kann es doch wohl noch nicht gewesen sein – gerade jetzt, wo ich ein besseres Verständnis als je zuvor für den großen Zusammenhang habe“, schrieb sie in ihr Tagebuch. Sie wusste, dass sie mehr beitragen konnte. „Und doch“, schrieb sie weiter, „sehe ich im Moment keine Möglichkeit, ernsthaft etwas in Bewegung zu setzen.“
Die drei Frauen haderten mit ihrer Entlassung vor allem deswegen, weil sie sich noch so viel vorgenommen hatten. In den ersten Jahren ihrer Amtszeit waren sie wegen der organisatorischen Veränderungen innerhalb der Kirche langsamer vorangekommen als geplant. Die Bezeichnung GFV für das Aaronische Priestertum hatte sich als zu sperrig erwiesen. Aus ihr ließ sich außerdem nicht ableiten, wo und wie sich die Jungen Damen in das Programm einfügten. Nachdem Präsident Harold B. Lee gestorben war, hatte die neu gebildete Erste Präsidentschaft den Begriff „Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigung“ aufgegeben und zwei separate Jugendorganisationen ins Leben gerufen: die Jungen Damen und das Aaronische Priestertum.
Doch selbst nach diesen Veränderungen waren Ardeth und weitere Führungsverantwortliche der Jungen Damen sich nach wie vor nicht sicher, wo denn eigentlich der Platz der Jungen Damen im Gefüge der Kirche war. Durch die Änderungen wurden anfangs Kommunikationskanäle etabliert, die es den Frauen in der obersten Präsidentschaft verwehrten, mit den JD-Leiterinnen vor Ort direkt in Verbindung zu treten oder sie zu schulen. Was sie zu sagen hatten, musste über die örtlichen Priestertumsführer weitergegeben werden. Die Kommunikation mit den örtlichen Führungsverantwortlichen hatte sich seitdem zwar verbessert, doch die Präsidentin der Jungen Damen der Kirche hatte nach wie vor kaum Kontakt mit der Ersten Präsidentschaft oder dem Kollegium der Zwölf Apostel. Vielmehr erfolgte der Austausch über ein als Mittelsmann fungierendes Mitglied der Siebziger.
Die JD-Präsidentschaft der Kirche hatte ihr Bestes gegeben, die Organisation voranzubringen. Gleich zu Beginn ihrer Amtszeit hatte Präsidentin Funk ein Programm ins Leben gerufen, das den Jungen Damen helfen sollte, geistig zu wachsen, sich Ziele zu setzen und die Rolle der Frau als Ehefrau und Mutter in Ehren zu halten, die ihrer Meinung nach in den populären Medien unter Beschuss stand.
Das neue Programm wurde 1977 eingeführt. Es nannte sich „Mein Fortschritt“ und spornte die Mädchen an, sich in sechs Bereichen Fertigkeiten anzueignen: geistige Erkenntnis, Dienst am Nächsten und Mitgefühl, Hauswirtschaft, Freizeit und Natur, Kunst, Kultur und Bildung sowie Persönlichkeitsentwicklung und Sozialkompetenz. Das Programm regte die Jungen Damen auch dazu an, etwas zu tun, was Präsident Kimball allen Heiligen ans Herz gelegt hatte: Tagebuch zu führen. Im selben Jahr brachte Ardeth ein Buch mit dem Titel Miracles in Pinafores and Bluejeans heraus. Darin schilderte sie Begebenheiten aus ihrem eigenen Leben sowie aus dem Leben junger Frauen aus Vergangenheit und Gegenwart, die sich besonders hervorgetan hatten. Das Buch wurde zum Bestseller.
Ende Juni 1978 hielten sich Ardeth und weitere Führer der Kirche in Nauvoo im US-Bundesstaat Illinois auf, wo der Park Monument to Women Memorial Garden geweiht wurde. In der knapp einen Hektar großen Parkanlage standen zwölf Skulpturen, die Frauen in verschiedenen Lebensabschnitten darstellten, wobei der Schwerpunkt auf der Rolle der Frau als Mutter lag. Später im Jahr sollte auch noch eine Satellitenübertragung stattfinden, die sich als erste ihrer Art an alle Frauen in der Kirche richtete. Auf diese Weise sollte zusammen mit der Parkanlage und den Skulpturen den Frauen ein Denkmal gesetzt, ihre Bedeutung im Evangeliumsplan gewürdigt, ihre Leistung als Ehefrau und Mutter hervorgehoben und der Gründung der Frauenhilfsvereinigung im Jahr 1842 gedacht werden. Am Tag der Weihung regnete es zwar, doch die Zeremonie fand in einem großen Zelt statt und zweitausendfünfhundert Frauen waren anwesend.
Wenige Wochen nach der Weihung wurde die Präsidentschaft der Jungen Damen von der Ersten Präsidentschaft entlassen. Ardeth sah ihre Entlassung nun positiver. „Jetzt im Moment“, schrieb sie, „bin ich so optimistisch, entschlossen, zuversichtlich und dankbar gestimmt, dass ich gar nicht weiß, wie ich es zum Ausdruck bringen kann.“
Ardeths Bischof berief sie bald darauf als Beraterin für die sechzehnjährigen Lorbeermädchen in der Gemeinde. Sie wollte unbedingt ihre in der Präsidentschaft der Jungen Damen gesammelten Erfahrungen nutzen und diese Mädchen unterrichten und schulen. Ihrem Tagebuch vertraute sie an: „Ich glaube fest daran, dass ich mit der Hilfe des Herrn zu jedem einzelnen Mädchen einen guten Draht finden kann.“
Am 29. September 1978 wandte sich Präsident Kimball in Salt Lake City auf einem Seminar an die Regionalrepräsentanten der Kirche. „Wir haben einen göttlichen Auftrag und damit die Schuldigkeit und Pflicht“, sagte er, „das Evangelium in jeder Nation und der ganzen Schöpfung zu verkünden.“
Der Kirche gehörten nun über vier Millionen Mitglieder an und jedes Jahr kamen weit über hunderttausend Bekehrte hinzu. Doch gab es noch so viele Menschen überall, die das Evangelium brauchten. Er fühlte sich gedrängt, zu ihnen allen durchzudringen. „Bisher haben wir nur an der Oberfläche gekratzt“, war er überzeugt.
Über 26.000 Vollzeitmissionare waren mittlerweile weltweit unterwegs – so viele konnten in den bestehenden Einrichtungen gar nicht mehr geschult werden. Um diese riesige Gruppe entsprechend zu rüsten, hatten die Führer der Kirche kurz zuvor die Missionarsschule in Provo im US-Bundesstaat Utah bauen lassen. Dort konnten sich neue Missionare vier bis acht Wochen lang eine von fünfundzwanzig verschiedenen Fremdsprachen aneignen, unter anderem auch die Gebärdensprache.
Ständig taten sich neue Arbeitsgebiete auf. Dank der Unterstützung durch Präsident Kimball hatte David Kennedy als spezieller Vertreter der Ersten Präsidentschaft zuletzt dazu beigetragen, dass die Kirche in Portugal und Polen offiziell anerkannt wurde. Nun hatte er sich vorgenommen, dies auch in Indien, Sri Lanka, Pakistan, Ungarn, Rumänien und Griechenland zu erreichen. Doch es gab noch sehr viel mehr zu tun.
In seiner Rede an die Regionalrepräsentanten verwies Präsident Kimball auf die Gläubigen in Ghana und Nigeria. „Sie warten schon so lange“, meinte er. „Sollen wir sie etwa bitten, noch länger zu warten?“ Er sei da anderer Ansicht. „Was ist mit Libyen, Äthiopien, der Elfenbeinküste, dem Sudan und anderen Ländern?“, fragte er. „Das alles sind Länder, die uns so vertraut werden müssen, wie es uns heute Japan, Venezuela, Neuseeland oder Dänemark sind.“
China, die Sowjetunion und viele weitere Nationen brauchten ebenfalls das wiederhergestellte Evangelium. Da die Kirche dort jedoch noch nicht offiziell anerkannt war, gab es auch noch keine Gemeinden vor Ort. „Fast drei Milliarden Menschen leben heute in Ländern, in denen das Evangelium derzeit nicht verkündet wird“, stellte Präsident Kimball fest. „Wenn wir dabei in jeder Nation klein anfangen, könnten bald Bekehrte unter allen Geschlechtern und Sprachen aktiv werden und ihrem eigenen Volk ein Licht sein. Auf diese Weise würde das Evangelium vor der Wiederkehr des Herrn allen Nationen verkündet.“
Er wünsche sich, dass die Heiligen beten und sich hierfür rüsten. Er sei der Ansicht, die Hindernisse beim Wachstum der Kirche würden so lange bestehen, bis die Heiligen bereit seien, sie zu beseitigen. Es sei für die Kirche notwendig, dass sich ihre Mitglieder – sowohl die jüngeren als auch die älteren – Sprachkenntnisse aneignen und auf Mission gehen. „Nur der Friede, der dem Evangelium Jesu Christi entspringt, ist wirklich von Dauer“, erklärte er den Regionalrepräsentanten. „Wir müssen das Evangelium überall und jedem verkünden.“
Tags darauf fand die Generalkonferenz statt. Das Tabernakel in Salt Lake City war bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf Präsident Kimballs Bitte hin trat sein Ratgeber, N. Eldon Tanner, an das Rednerpult und verlas die Erklärung der Ersten Präsidentschaft, in der bekanntgegeben wurde, dass alle würdigen männlichen Mitglieder der Kirche ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft das Priestertum würden tragen können.
Dann fuhr Präsident Tanner fort: „Wir erkennen Spencer W. Kimball als den Propheten, Seher und Offenbarer sowie Präsidenten der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage an; darum wird vorgeschlagen, dass wir als konstituierende Versammlung diese Offenbarung als das Wort und den Willen des Herrn annehmen.“
Er bat alle, die dafür waren, die rechte Hand zu heben. Eine Vielzahl von Händen reckten sich nach oben. Dann machte er die Gegenprobe. Nicht eine einzige Hand hob sich.
Kurz nach der Konferenz nahm Präsident Kimball in einem Sitzungssaal des Verwaltungsgebäudes der Kirche am Kopf eines langen Tisches Platz. Am selben Tisch saßen seine Ratgeber, mehrere Generalautoritäten und zwei ältere Ehepaare, Edwin und Janath Cannon sowie Rendell und Rachel Mabey. Beide Ehepaare hatten gerade zugestimmt, als erste Missionare der Kirche in Westafrika tätig zu werden, obwohl dies bedeutete, dass Janath als Erste Ratgeberin in der Präsidentschaft der Frauenhilfsvereinigung der Kirche entlassen werden müsste.
Die Anwesenden besprachen, welche Tätigkeitsbereiche die Missionare abdecken sollten und welche Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme mit den Gläubigen in Ghana und Nigeria zu erwarten waren. Als das Treffen sich vierzig Minuten später dem Ende zuneigte, dankte Präsident Kimball den Ehepaaren dafür, dass sie im Glauben so treu waren.
„Gibt es noch weitere Fragen?“, hakte er nach.
Elder Mabey blickte zu den anderen Missionaren hinüber. „Im Moment nur eine“, meinte er. „Wann sollen wir aufbrechen?“
Präsident Kimball lächelte.
Rudá Martins erfuhr in ihrer Familie als erste von der Offenbarung über das Priestertum. Als die Nachricht bekannt wurde, war in ihrem Viertel in Rio de Janeiro gerade das Telefonnetz ausgefallen. Also setzte sich eine Freundin der Familie in den Bus und fuhr vierzig Minuten, um sie zu informieren. Die junge Frau klopfte aufgeregt an Rudás Wohnungstür und rief, sie habe Neuigkeiten.
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass die Kirche eine Offenbarung empfangen hat“, verkündete sie und teilte Rudá mit, dass es nunmehr allen würdigen Männern erlaubt sei, das Priestertum zu tragen.
Helvécio war bei der Arbeit, daher konnte Rudá ihm die Nachricht nicht gleich überbringen. „Ich habe Neuigkeiten, tolle Neuigkeiten!“, überraschte sie ihn, als er endlich nach Hause kam. „Helvécio, du wirst das Priestertum tragen!“
Helvécio verschlug es die Sprache. Er konnte es nicht fassen. Dann klingelte das Telefon und er hob ab. Ein Kollege aus Salt Lake City meldete sich.
„Ich halte die Amtliche Erklärung gerade in der Hand“, eröffnete ihm der Kollege, „und möchte sie Ihnen jetzt vorlesen.“
Als Helvécio aufgelegt hatte, dankten er und Rudá dem Vater im Himmel unter Tränen im Gebet. Die Weihung des São-Paulo-Tempels sollte in wenigen Monaten stattfinden. Nun könnten sie dort auch das Endowment empfangen und sich gemeinsam mit ihren vier Kindern siegeln lassen.
Zwei Wochen später empfingen Helvécio und Marcus das Aaronische Priestertum. Eine Woche darauf wurde Helvécio zum Ältesten ordiniert und übertrug Marcus unmittelbar darauf das Melchisedekische Priestertum. Marcus war mit Mirian Abelin Barbosa – einer ehemaligen Missionarin – verlobt, und die beiden hatten bereits die Einladungen zu ihrer Hochzeit verschickt. Doch nun verschoben sie die Hochzeit, damit Marcus auf Mission gehen konnte.
Anfang November 1978 wohnte Familie Martins der Weihung des Tempels bei. Rudá sang im Chor und saß daher in der Nähe von Präsident Kimball und weiteren Generalautoritäten, die zu den Feierlichkeiten angereist waren. Helvécio saß mit den Kindern im Zuschauerraum. An der Weihung durften die Missionare aus allen vier Missionen in Brasilien teilnehmen. Daher konnte auch Marcus – jetzt Vollzeitmissionar in der Brasilien-Mission São Paulo Nord – dabei sein.
Wenige Tage darauf, am 6. November, empfingen Rudá, Helvécio und Marcus das Endowment. Anschließend wurden sie in einen Siegelungsraum geleitet, wo Rudá und Helvécio für Zeit und Ewigkeit aneinander gesiegelt wurden. Marcus fungierte hierbei als Zeuge. Dann wurden die drei kleineren Kinder, alle in Weiß gekleidet, in den Raum geführt.
„Mama“, fragte die dreijährige Tochter des Ehepaars, „was machen wir hier?“
„Wir knien jetzt vor diesem Tisch“, erklärte Rudá und wies auf den Altar, „und werden hier als Familie vereint.“
Darauf meinte die Kleine: „Ich freu mich, dass ich jetzt wirklich dein Kind sein werde.“
„Aber das bist du doch bereits“, versicherte Rudá ihr.
Alle knieten nun um den Altar und der Siegler vollzog die Zeremonie. Von den Kindern war nur Marcus alt genug, die Bedeutung dieses Augenblicks ganz zu erfassen. Doch jedes der Kinder schien zu spüren, dass in diesem Raum ein von großer Freude begleitetes Wunder geschah. Rudá und Helvécio fanden, dass ihre Familie im Tempel einen wunderschönen Anblick bot. Sie waren von Freude überwältigt.
„Jetzt gehören sie zu mir“, dachte Rudá bei sich. „Wirklich und wahrhaftig.“
Nach ihrer Taufe fuhr Katherine Warren oft nach Baton Rouge, einer rund hundertdreißig Kilometer nordwestlich von ihrem Zuhause in New Orleans gelegenen Stadt, wo sie sich gemeinsam mit ihren dort ansässigen entfernten Verwandten mit der Bibel befasste. Etliche ihrer Angehörigen hatten vor kurzem eine Pfingstgemeinde in der Gegend für sich entdeckt. Katherine brachte gelegentlich Erkenntnisse in die Bibelstunde ein, die sie dem wiederhergestellten Evangelium entnommen hatte, achtete jedoch darauf, ihre Angehörigen mit ihrer Begeisterung für die Kirche nicht überzustrapazieren. „Ich will euch nicht zu viel auf einmal zumuten“, pflegte sie zu sagen.
Als Katherine jedoch von der Offenbarung über das Priestertum erfuhr, konnte sie kaum an sich halten. Sie rief ihre Nichte Betty Baunchand an und erzählte ihr davon. Betty hatte mit ihrer Familie zwar immer die gemeinsamen Bibelstunden mit Katherine besucht, wusste aber nicht viel über die Kirche und verstand die Tragweite der Offenbarung nicht.
Katherines Bischof hingegen schon. Er rief sie sofort an. „Schwester Warren“, begeisterte er sich, „ist Ihnen eigentlich klar, was da gerade geschieht?“
„Ja“, erwiderte sie.
Der Bischof wusste nicht recht, wie er sein Anliegen formulieren sollte. „Sie sind eine Seele von Mensch“, meinte er schließlich. „Ich würde Sie gerne auf Mission schicken.“
Einen Monat nach der Bekanntgabe reiste Freda Beaulieu, die einzige andere Schwarze in der Gemeinde New Orleans, gut sechzehnhundert Kilometer zum nächstgelegenen Tempel in Washington, wo sie das Endowment empfing und durch einen Stellvertreter an ihren verstorbenen Mann gesiegelt wurde.
Obwohl Katherine und viele andere nun endlich erstmals Zugang zu den Segnungen des Tempels hatte, suchte sie den Tempel nicht sofort auf. Aber sie dankte dem Vater im Himmel.
Eines Tages sah Severia – Bettys Ehemann –, dass einer seiner Arbeitskollegen im Buch Mormon las. Mit Katherine hatte er sich zuvor schon über die Kirche ausgetauscht. Also sprach Severia seinen Kollegen auf das Buch an, und dieser fragte ihn, ob er nicht mit den Missionaren zusammenkommen wolle. „In Ordnung“, meinte Severia. „Schick sie vorbei.“
Noch am selben Abend kamen die Missionare vorbei und stellten die erste von sieben Lektionen aus dem Einheitlichen System zur Unterweisung von Familien vor, den damals ganz neu konzipierten Missionarslektionen. Die 1973 veröffentlichten Lektionen gab es auf Englisch sowie in neunzehn weiteren Sprachen. Sie begannen mit einer Einführung in die erste Vision, in das Buch Mormon und in die Wiederherstellung des Priestertums.
Der Familie gefiel die Lektion und so machte sie mit den Missionaren ein Anschlussgespräch aus. Sowohl Betty als auch Severia wollten unbedingt mehr erfahren und luden weitere Angehörige zu den Treffen mit den Missionaren ein. Bald schon gab es in der Wohnung von Familie Baunchand kaum noch Platz, wenn die Missionare dort waren.
An einem Wochenende stattete Katherine der Familie einen Besuch ab. Dabei hörte sie zufällig ein Gespräch mit, das Betty am Telefon führte. „Nein“, erwiderte Betty dem Anrufer, „wir gehen ein anderes Mal. Meine Tante aus New Orleans ist zu Besuch.“
„Wer ist denn am Telefon?“, erkundigte sich Katherine.
„Das sind Missionare der Kirche Jesu Christi.“ Sie wollten die Familie einladen, am kommenden Sonntag die Kirche zu besuchen.
„Sag zu.“
So kam es, dass an jenem Sonntag die gesamte Familie in dem kleinen Städtchen Baker zur Kirche ging. Im Laufe der weiteren Unterweisungen durch die Missionare gingen alle die Verpflichtung ein, das Wort der Weisheit und das Gesetz der Keuschheit zu befolgen, den Zehnten zu zahlen, Jesus Christus als ihren Erretter und Erlöser anzunehmen und bis ans Ende auszuharren.
Etwa zwei Wochen nachdem Familie Baunchand zum ersten Mal in der Kirche gewesen war, rief Betty Katherine an. „Weißt du, was?“, platzte es aus ihr heraus. „Wir lassen uns taufen, und du musst unbedingt dabei sein!“
Am Tag der Taufe war das Gemeindehaus bis auf den letzten Platz gefüllt. Einhundertzehn Mitglieder der Kirche hatten sich eingefunden, um Betty und Severia sowie elf weitere Verwandte von Katherine in ihrer Gemeinde willkommen zu heißen. Da die Kulturhalle und der Bereich um das Taufbecken herum noch eine Baustelle waren, zog es beim Taufgottesdienst recht heftig. Doch der Heilige Geist war machtvoll zu spüren und wärmte jeden im Raum.
Als Katherine ihre neugetauften Angehörigen in trockene Handtücher hüllte, musste sie weinen. „Auf diesen Augenblick habe ich lange gewartet und ich habe lange darum gebetet“, sagte sie hinterher. Die Kirche bedeutete ihr unendlich viel, und Katherine wünschte sich, dass Schwarze wie sie und ihre Angehörigen alle Segnungen empfangen konnten, welche die Kirche zu bieten hat.
Sie wusste, dass der Erretter ein wachsames Auge auf die Heiligen hatte.
Mit feierlicher Miene ging Anthony Obinna am 18. November 1978 auf zwei Amerikaner und eine Amerikanerin zu, die vor dem Versammlungsgebäude seiner Gemeinde im Südosten Nigerias auf ihn warteten. Anthony hatte sich sofort auf den Weg gemacht, als er von ihrer Ankunft erfahren hatte. Auf diesen Augenblick hatte er seit über einem Jahrzehnt gewartet.
Bei den Amerikanern handelte es sich um Elder Rendell Mabey, Sister Rachel Mabey und Elder Edwin Cannon. Sie fragten ihn: „Sind Sie Anthony Obinna?“
„Jawohl“, antwortete Anthony und betrat mit seinen Gästen das Versammlungsgebäude. Das Gebäude war gut neun Meter lang. Über einer der Türen stand „LDS“ zu lesen, über einer anderen Tür „Missionsheim“. Am Giebel war die Inschrift „Heilige der Letzten Tage Nigerias“ angebracht.
„Es war schwierig, so lange zu warten“, sagte Anthony zu seinen Gästen. „Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Nun sind Sie ja endlich gekommen.“
„Ja, es war eine lange Wartezeit“, bestätigte Elder Cannon, „aber jetzt endlich ist das Evangelium in seiner ganzen Fülle da.“
Die Missionare baten Anthony, von sich zu erzählen. Er antwortete, er sei achtundvierzig Jahre alt und arbeite als Hilfslehrer an einer nahegelegenen Schule. Dann erzählte er, wie er Jahre zuvor vom Salt-Lake-Tempel geträumt habe und später in einer alten Zeitschrift auf ein Bild dieses Gebäudes gestoßen sei. Zuvor habe er noch nie etwas von der Kirche gehört. „Doch mit eigenen Augen“, berichtete Anthony mit bebender Stimme, „sah ich genau das Gebäude, das ich in meinem Traum besucht hatte.“
Weiter berichtete er von seinem eingehenden Studium des wiederhergestellten Evangeliums Jesu Christi, von seinem Briefwechsel mit LaMar Williams und von seinem Kummer darüber, dass die Kirche in Nigeria noch immer nicht Fuß gefasst hatte. Aber er legte auch Zeugnis für seinen Glauben ab und erzählte, er habe sich stets geweigert, die Hoffnung aufzugeben – selbst als er und seine Glaubensgenossen wegen ihrer Hingabe an die Wahrheit Verfolgung ausgesetzt gewesen waren.
Als Anthony mit seiner Geschichte zu Ende gekommen war, bat ihn Elder Mabey um ein Gespräch unter vier Augen. Sie gingen in das Nebenzimmer, und Elder Mabey fragte, ob es in Nigeria irgendwelche Gesetze gebe, die einer Taufe im Wege stünden, da die Kirche ja noch nicht gesetzlich registriert sei. Anthony erwiderte, dies sei nicht der Fall.
„Nun“, erklärte Elder Mabey, „das freut mich zu hören. In den nächsten Wochen sind wir viel unterwegs, um ähnlichen Gruppen wie diesen hier einen Besuch abzustatten.“ Er meinte, die Rundreise könne fünf bis sechs Wochen dauern. Die Missionare würden im Anschluss wieder zurückkehren und Anthony und seine Glaubensgenossen dann taufen.
„Nein, so bitte nicht“, bat Anthony. „Ich weiß, dass es noch viele andere gibt, aber wir warten schon seit dreizehn Jahren.“ Er blickte Elder Mabey fest an und sagte: „Bitte, wenn es menschenmöglich ist – taufen Sie uns jetzt gleich!“
„Sind denn die meisten wirklich bereit?“, fragte Elder Mabey.
„Ja, auf jeden Fall!“, war sich Anthony sicher. „Lassen Sie uns doch jetzt diejenigen taufen, die im Glauben am stärksten sind, und die übrigen unterweisen wir weiter im Evangelium.“
Drei Tage später kam Anthony erneut mit Elder Mabey zusammen. Diesmal besprachen sie, was zu tun sei, um einen Zweig der Kirche zu leiten. Draußen sangen kleine Kinder ein neues Lied, das ihnen die Missionare beigebracht hatten:
Bald darauf kamen Anthony, die Missionare und die anderen Gläubigen am Ufer eines abgeschiedenen Beckens des Flusses Ekeonumiri zusammen. Das Becken hatte einen Durchmesser von rund neun Metern und war von dichten grünen Büschen und Bäumen umgeben. Die Sonnenstrahlen fielen durch die Bäume auf die Wasseroberfläche und ließen sie hell glitzern. Kleine, bunte Fische schossen in Ufernähe hin und her.
Elder Mabey stieg ins Wasser und nahm Anthony bei der Hand. Lächelnd folgte Anthony ihm ins Wasser. Als Anthony sicher stand, ergriff er das Handgelenk von Elder Mabey, und der Missionar hob die rechte Hand.
„Anthony Uzodimma Obinna“, sagte er, „beauftragt von Jesus Christus, taufe ich dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“
Als Elder Mabey Anthony untertauchte, spürte dieser, wie das Wasser über ihm zusammenschlug. Und als er aus dem Wasser stieg, gaben die Leute am Ufer alle einen großen Stoßseufzer von sich, der sogleich in freudiges Lachen überging.
Nach der Taufe von Anthonys Frau Fidelia und siebzehn weiteren Nigerianern kehrte die Gruppe in ihr Versammlungsgebäude zurück. Dort wurden Anthony und drei seiner Brüder – Francis, Raymond und Aloysius – zum Amt eines Priesters im Aaronischen Priestertum ordiniert. Elder Mabey setzte Anthony als Präsidenten des Zweigs Aboh ein. Francis und Raymond wurden seine Ratgeber.
Kraft der Vollmacht des Priestertums, das Anthony nun trug, setzte er im Anschluss Fidelia als FHV-Präsidentin des Zweiges ein.