Kapitel 21
Ein Samenkorn der Liebe
Anfang 1981 betrieb die dreiundsechzigjährige Julia Mavimbela in Soweto – einer Township mit über einer Million schwarzer Einwohner westlich von Johannesburg – in der Nähe ihrer Wohnung einen Gemeinschaftsgarten. Julia war Grundschulrektorin gewesen und hatte den Garten einige Jahre zuvor angelegt, um den jungen Leuten in der Township zu helfen, die mit der Apartheid – der in Südafrika geltenden Politik der Rassentrennung – zurechtkommen mussten.
Als Schwarze wusste sie aus erster Hand, wie schwierig es war, unter einem solchen Regime zu leben. Vor dem Gesetz wurden Schwarze herabgewürdigt und als Bürger zweiter Klasse behandelt. Jahrzehntelang hatte die Regierung jedem schwarzen Südafrikaner aufgezwungen, ein Ausweisheft mit sich zu führen, in dem verzeichnet war, wohin der Betreffende gehen durfte und wohin nicht. Wurde ein Schwarzer zur falschen Tageszeit in einem den Weißen vorbehaltenen Viertel angetroffen, lief er Gefahr, verprügelt, verhaftet oder gar getötet zu werden.
In jungen Jahren hatte Julia ihr multiethnisch geprägtes Viertel in Johannesburg verlassen und nach Soweto ziehen müssen, wo nur Schwarze lebten. Jetzt beobachtete sie, wie junge Leute gegen diese Ungerechtigkeiten aufbegehrten, und sie sorgte sich darum, dass in ihrem Herzen die Verbitterung zunehmen könne. Mit ihrem Garten hoffte sie, ihnen beibringen zu können, wie sie ihre Wut hinter sich lassen konnten, bevor sie und ihre Angehörigen ernsthaft Schaden nahmen.
„Schaut her“, erklärte sie gern, „der Boden hier ist fest und hart. Stechen wir aber einen Spaten oder eine Gabel hinein, brechen wir ihn auf und erhalten große Klumpen. Zerkleinern wir dann die großen Klumpen und setzen ein Samenkorn hinein, fängt es an zu wachsen.“
Sie wollte, dass die jungen Leute ihr Beispiel vom harten Boden verinnerlichten. „Lasst uns den Boden der Bitterkeit umgraben, ein Samenkorn der Liebe pflanzen und dann sehen, welche Frucht wir bekommen“, pflegte sie ihnen zu sagen. „Liebe kann erst entstehen, wenn man vergibt.“
Was Vergebungsbereitschaft betraf, musste Julia auch noch dazulernen. Jahrzehnte zuvor war ihr Mann John bei einer Frontalkollision mit einem Fahrzeug, an dessen Steuer ein Weißer saß, ums Leben gekommen. Als Julia auf dem Polizeirevier seine Sachen abholen wollte, stellte sie fest, dass das Geld, das er zum Zeitpunkt des Unfalls bei sich gehabt hatte, gestohlen worden war. Sie war davon überzeugt, dass John den Unfall gar nicht verursacht hatte. Dennoch hatte das aus Weißen bestehende Gericht ihm die alleinige Schuld dafür gegeben.
Nach dem Tod ihres Mannes musste Julia also die Kinder allein aufziehen, und sie hatte Mühe, für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Doch wann immer sie vor Schwierigkeiten stand, hatte sie das Gefühl, dass Jesus Christus ihr zur Seite stand und ihr Trost und Zuspruch spendete.
Mehr als ein Vierteljahrhundert nach Johns Tod war Julia nunmehr klar, dass sie, um von ihrem Schmerz geheilt zu werden, endlich vergeben musste. Doch das war leichter gesagt als getan. Noch immer fiel es ihr schwer, denen zu vergeben, die Johns Ruf beschädigt und ihre Familie bestohlen hatten.
Im Juni 1981 wurde Julia gebeten, beim Aufräumen einer Jugendeinrichtung mit angeschlossener Bibliothek zu helfen, die bei den jüngsten, gegen die Apartheid gerichteten Ausschreitungen geplündert und in Brand gesetzt worden war. Als Julia dort ankam, sah sie zwei junge Männer, die Schutt nach draußen schaufelten. Das überraschte sie sehr, da die beiden Weiße waren – in Soweto ein eigentlich undenkbarer Anblick.
Die jungen Männer erzählten Julia mit strahlendem Lächeln, sie seien amerikanische Missionare und seien gekommen, um zu helfen. Sie kannten sich ein wenig mit Gartenarbeit aus und unterhielten sich mit Julia über ihren Gemeinschaftsgarten. Sie fragten auch, ob sie bei ihr vorbeikommen dürften. Doch Julia war von dieser Idee alles andere als begeistert. Wenn sie zwei Weiße zu sich nach Hause einlud, riskierte sie gewalttätige Schikanen gegen sich und ihre Familie. Ihre Nachbarn könnten denken, sie kooperiere vielleicht mit der Polizei oder dem Apartheidregime.
Sie wollte schon zu einer Ausrede ansetzen, doch dann spürte sie ihr Herz klopfen und wusste, dass sie den Missionaren gestatten musste, sie zuhause zu besuchen. Sie teilte ihnen mit, es passe in drei Tagen.
Die jungen Männer waren pünktlich zur Stelle. Sie trugen weiße Hemden und ein Namensschild und stellten sich als Missionare der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage vor. Höflich hörte Julia sich an, was sie zu sagen hatten. Doch schon beim zweiten Besuch überlegte sie, wie sie ihnen freundlich klarmachen könne, dass sie eigentlich kein Interesse habe.
Da deutete einer der Missionare auf ein Foto, das Julia und ihren verstorbenen Mann zeigte, und fragte: „Wo ist denn Ihr Mann?“
„Er lebt nicht mehr“, gab sie zurück.
Daraufhin erzählten die Missionare ihr von der Taufe für Verstorbene. Doch Julia war skeptisch. Über die Jahre hinweg hatte sie etliche Glaubensgemeinschaften ausprobiert. Noch nie hatte sie irgendwo gehört, dass Verstorbene getauft werden können.
Da schlug einer der Missionare die Bibel auf und bat sie, aus dem Neuen Testament 1 Korinther 15:29 vorzulesen: „Wie kämen sonst einige dazu, sich für die Toten taufen zu lassen? Wenn Tote gar nicht auferweckt werden, warum lässt man sich dann taufen für sie?“
Die Schriftstelle fesselte sie. Von nun an öffnete sie das Herz und hörte den Missionaren aufmerksam zu. Sie erzählten ihr, dass die Familie ewig bestehen kann, und erklärten ihr auch, dass die Taufe und weitere heilige Handlungen für Verstorbene von deren Angehörigen im Tempel vollzogen werden können. Sie versicherten ihr, sie könne im nächsten Leben wieder mit denen vereint sein, die sie verloren hatte – auch mit ihrem Mann John.
Als Julia daraufhin begann, das Buch Mormon zu lesen, änderte sich ihr Leben. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass alle Menschen zur selben Familie gehören. Das wiederhergestellte Evangelium Jesu Christi schenkte ihr die Hoffnung, dass sie denen, die sie und ihre Kinder verletzt hatten, endlich werde vergeben können.
Sechs Monate nach der ersten Begegnung mit den Missionaren ließ sich Julia taufen. Einen Monat darauf wurde sie gebeten, auf der Pfahlkonferenz eine Ansprache zu halten. Unter dem Apartheidregime hatte die Kirche von Missionierungsbestrebungen unter der schwarzen Bevölkerung Südafrikas Abstand genommen. Doch Anfang der 1980er Jahre weichten die Apartheidregeln langsam auf. Für Schwarze und Weiße der gleichen Religionszugehörigkeit wurde es zusehends leichter, zum Gottesdienst zusammenzukommen. Einige Monate vor Julias Taufe war eine Gemeinde für die Mitglieder in Soweto entstanden.
Als Julia bei der Pfahlkonferenz vor die überwiegend weiße Zuhörerschaft trat, war sie nervös. Sie befürchtete, ihr Schmerz über Johns Tod könne einen Keil zwischen sie und die übrigen Mitglieder treiben. Aber im Herzen trug sie ein Gebet, und der Herr gab ihr ein, ihre Geschichte zu erzählen.
Sie sprach über den Tod ihres Mannes, über die grausame Behandlung seitens der Polizei und über die Verbitterung, die sie die ganze lange Zeit über mit sich herumgetragen hatte. „Endlich habe ich die Kirche gefunden, die mir beibringen kann, wirklich zu vergeben“, bezeugte sie. Ihre Bitterkeit war zerbrochen – so wie große Klumpen Erde im Garten aufgebrochen werden.
Was bleibe, erklärte Julia weiter, seien Frieden und Vergebung.
Als Regierungsbeamte vorschlugen, doch in der DDR einen Tempel zu bauen, beauftragte die Erste Präsidentschaft Henry Burkhardt, eine Baugenehmigung für ein Gemeindehaus zu beantragen, in dem ein besonderer Trakt Endowments und Siegelungen für Lebende vorbehalten bleiben sollte. Verordnungen für Verstorbene waren darin nicht vorgesehen.
Nachdem Henry und seine Ratgeber in der Präsidentschaft der Mission Dresden gefastet und gebetet hatten, regten sie an, das Gebäude in Karl-Marx-Stadt zu errichten. Dort gab es viele Mitglieder, und ein neues Gemeindehaus wurde dringend benötigt. Die Behörden vor Ort verweigerten der Kirche die Baugenehmigung jedoch mit der Begründung, die Stadt brauche nicht noch mehr Kirchengebäude. Stattdessen brachten sie eine Universitätsstadt unweit davon ins Spiel – Freiberg.
„Ausgeschlossen“, gab Henry zurück. „Wir wollen den Standort Karl-Marx-Stadt.“
Die Missionspräsidentschaft schien dieses Ziel nicht aufgeben zu wollen, doch Henry und seine Ratgeber fasteten und beteten weiterhin und zogen Freiberg bald ernsthaft in Betracht. In der Stadt gab es einen kleinen Zweig der Kirche. Zudem lag sie nicht allzu weit von weiteren Zweigen wie etwa in Dresden und in anderen Städten in der Gegend entfernt.
Je mehr Henry und seine Ratgeber darüber nachdachten, desto mehr konnten sie sich für die Idee erwärmen. „Stimmt“, sagten sie sich, „Freiberg ist eigentlich gar nicht so übel.“
Die Freiberger Stadtplaner waren offenbar sehr davon angetan, dass die Kirche in ihrer Stadt ein dem Schweizer Tempel nachempfundenes Gebäude errichten wollte. Die DDR-Regierung legte im ganzen Land Wert auf die Stärkung der Beziehungen zu Gläubigen, die zugleich treue Staatsbürger waren. Einige Religionen waren in der DDR bereits offiziell anerkannt, und man bemühte sich um den Wiederaufbau historischer Kirchenbauten, die im Zweiten Weltkrieg beschädigt worden waren.
Da die Heiligen in Freiberg bereits über ein geeignetes Gemeindehaus verfügten, hatte Henry das starke Gefühl, die Kirche solle den Plan aufgeben, ein Mehrzweckgebäude zu errichten. Stattdessen könnte ein Standardtempel mit einem Taufbecken und sonstigen Bereichen entstehen, wo Verordnungen für Verstorbene vollzogen werden konnten. Er trug die Idee den Führern der Kirche in Salt Lake City vor und erhielt die Genehmigung, in Freiberg ein Grundstück für ein Haus des Herrn zu erwerben, das keinerlei Einschränkungen unterlag.
Zusammen mit dem Führungssekretär der Mission, Frank Apel, der aus Freiberg stammte, stellte Henry daraufhin den Plan auf einer Sitzung der Stadt Freiberg vor. Der Stadtrat bot der Kirche zwei mögliche Bauplätze an. Das erste Grundstück befand sich zwar im Stadtzentrum, war aber klein und lag unterhalb der Straßenebene, war für Passanten also nur schwer zu erkennen. Das zweite war ein unbebautes Feld auf einem Hügel nordwestlich der Stadt. Dort gab es zwar keine Bushaltestellen, dafür war der Standort selbst weithin sichtbar.
Als Henry und Frank das zweite Grundstück besichtigten, spürten sie, dass sie den richtigen Ort für den Tempel gefunden hatten.
Am 27. Februar 1982 reiste Elder Thomas S. Monson in die DDR, um nach den dortigen Heiligen zu sehen und mit Henry über das neue Grundstück für den Tempel zu sprechen. Seitdem Henry und seine Frau Inge den Apostel vor fast vierzehn Jahren kennengelernt hatten, hatte sich zwischen ihnen eine herzliche Freundschaft entwickelt. Elder Monson überreichte Inge einen Zierteller und einen hübschen neuen Rock, den seine Frau Frances ausgesucht hatte. Außerdem brachte er Tobias, dem vierzehnjährigen Sohn der Burkhardts, einen Taschenrechner mit – ein solches Gerät war in der DDR Mangelware.
Am nächsten Tag fuhr Henry mit Elder Monson zu dem vorgesehenen Grundstück. Obwohl Elder Monson nachvollziehen konnte, weshalb der Kirche der Bau des Tempels in Karl-Marx-Stadt verwehrt blieb, hakte er zum Standort Freiberg nach.
„Haben Sie das auch in jeder Hinsicht gut überlegt?“, fragte er Henry. „Ist dies wirklich der richtige Ort? Wie sollen die Leute ohne Anschluss ans öffentliche Verkehrsnetz denn herkommen?“
Henry beantwortete Elder Monsons Fragen nach bestem Gewissen. Dann versicherte er, dass er und seine Ratgeber den Bau des Tempels auf diesem Grundstück ausdrücklich befürworteten. Er sagte, sie hätten wegen des Standorts gefastet und gebetet und spürten, dass dies der Ort in Ostdeutschland sei, an dem der Herr sein Haus haben wolle.
Diese Aussage genügte Elder Monson. Die Kirche erwarb das Grundstück und legte der Behörde anschließend überarbeitete Baupläne vor.
Am 31. März 1982 saß David Galbraith still in einem Büro in Jerusalem, während der Stadtingenieur, Amnon Niv, aufmerksam eine große handkolorierte Karte des Ölbergs musterte. Ein halbes Dutzend weiterer Stadtplaner war ebenfalls anwesend.
David hatte sich seit Monaten auf die Zusammenkunft mit Amnon vorbereitet. Die Kirche wollte in Jerusalem ja ihren Plan zum Bau eines Centers für Austauschstudenten der BYU und für die Heiligen vor Ort voranbringen. Dadurch hätte die Kirche auch eine offizielle Präsenz im Heiligen Land. Das Center sollte ein Ort des Lernens, der Verständigung und des Friedens sein, wohin die Mitglieder kommen könnten, um auf den Spuren Jesu zu wandeln, mehr über die alten Wurzeln ihres Glaubens zu erfahren und Kultur und Religion der Völker im Nahen Osten schätzen zu lernen.
Die Führer der Kirche – darunter auch David – wünschten sich, dass das Center an der Stelle entstand, die Präsident Kimball so sehr gefallen hatte, als er 1979 in der Stadt zu Gast gewesen war. Doch das Grundstück lag unweit des Skopusberges, des höchsten Punkts des Ölbergs, und mitten hindurch lief ein von der Regierung ausgewiesener Grüngürtel, der für jegliche Bebauung praktisch tabu war. Andere Immobilienentwickler hatten zuvor bereits versucht, den Bebauungsplan zu kippen, jedoch ohne Erfolg. Wenn die Kirche dort bauen wollte, würde Amnon die Grüngürtelgrenze verschieben müssen.
Zwar unterstützte Bürgermeister Teddy Kollek den Wunsch der Kirche, in der Stadt dieses Zentrum zu errichten, denn er ging davon aus, die freundschaftliche Beziehung der Kirche zu Muslimen und Juden werde beiden Gruppen helfen, einander besser zu verstehen und in Frieden zu leben. Dennoch war er der Meinung, das Grundstück auf dem Skopusberg zu erwerben sei unmöglich. Auf sein Drängen hin hatte David weitere mögliche Bauplätze besichtigt. Wann immer er ein vielversprechendes Grundstück fand, wandte er sich an den Hauptsitz der Kirche. Doch keines wurde genehmigt, und Präsident N. Eldon Tanner riet ihm, sich auf den Skopusberg zu konzentrieren.
Eines Tages kam Bürgermeister Kollek auf Amnon zu und regte eine Besprechung mit David an, bei der dieser seine Argumente vortragen sollte. David Reznik, der ortsansässige Architekt, den die Kirche mit der Planung des Jerusalem-Centers der BYU beauftragt hatte, wurde ebenfalls hinzugezogen.
Reznik zeigte Amnon einige seiner Pläne für die Lehranstalt und wies auf die Nähe zur Hebräischen Universität Jerusalem hin, für deren Entwurf er und Amnon Jahre zuvor mitverantwortlich gewesen waren. Amnon musterte die Karte noch einige Minuten lang schweigend. Keiner der Anwesenden sagte etwas. „Hat jemand einen Filzstift?“, brach es plötzlich aus ihm heraus. Niemand hatte einen dabei, also beeilte sich jemand, einen Stift für ihn zu holen. Dann fing Amnon mit großer Geste an, etwas auf der Karte einzuzeichnen.
Unter den Blicken der Anwesenden änderte er den Verlauf des Grüngürtels und zog eine rote Linie um genau die Stelle, wo die Kirche das Jerusalem-Center bauen wollte.
„Das ist die Baufluchtlinie“, verkündete er. Dann stempelte er die Karte mit dem offiziellen Stempel ab und unterschrieb. „Das war’s dann also!“, rief er aus.
Alle nickten zustimmend. David war sprachlos. Die Kirche hatte soeben die Baugenehmigung erhalten – etwas, wovon alle glaubten, es sei völlig ausgeschlossen. Er konnte es kaum erwarten, am Hauptsitz der Kirche anzurufen und zu berichten, welches Wunder sich gerade ereignet hatte.
Einige Monate darauf, im Juli 1982, fuhr Olga Kovářová mit einer kleinen Gruppe von Mitgliedern mit dem Auto zu einem Stausee bei Brünn, wo sie getauft werden sollte.
Seit Olga in Otakar Vojkůvkas Wohnung ihre erste Abendmahlsversammlung miterlebt hatte, bewunderte sie immer mehr den großen Glauben der älteren tschechoslowakischen Heiligen. Die Unterrichtsgespräche in der Sonntagsschule bauten sie auf, und sie selbst trug auch schon gern dazu bei.
In den Monaten vor ihrer Taufe hatte Jaromír Holcman, ein Mitglied der Brünner Zweigpräsidentschaft, die Missionarslektionen mit Olga durchgenommen. Weil all die religiösen Begriffe so fremd für sie klangen, waren die Lektionen anfangs schwierig gewesen und ihr war unbehaglich zumute gewesen. Der Erlösungsplan kam ihr wie ein Märchen vor, und Olga rang mit Fragen, die sie über den Vater im Himmel hatte.
Sie machte sich auch Sorgen über Probleme, die nach der Taufe auf sie zukommen würden. Nach 1975 fing die Kirche in Mittel- und Osteuropa langsam an zu wachsen. Zu dieser Zeit hatten Henry Burkhardt und seine Ratgeber in der Präsidentschaft der Mission Dresden Jiří Šnederfler berufen, über die Heiligen in der Tschechoslowakei zu präsidieren. Aber die Kirche war immer noch kaum bekannt und stieß auf wenig Verständnis. Olgas Verstand sagte ihr, sie solle das Evangelium Christi einfach vergessen, doch ihr Herz sagte ihr: Es ist wahr.
Am Tag ihrer Taufe fastete sie den ganzen Tag. So fuhr sie nun also mit Jaromír und seiner Frau Maria zum Stausee, auch Otakar und Gád Vojkůvka kamen mit. Die Gruppe kam am Ufer zusammen und sprach ein Gebet. Doch bevor sie die heilige Handlung vollziehen konnten, wurden sie von mehreren Anglern aufgeschreckt, die am Ufer entlanggingen. Die Männer kamen näher und ließen sich in der Nähe der Stelle nieder, wo Olga getauft werden sollte.
„An den meisten Stellen ist das Ufer leider ziemlich steil“, meinte Otakar. „Hier ist die einzige uns bekannte seichte, leicht abfallende Stelle, wo man sicher ins Wasser gelangt.“
Olga und ihre Freunde hatten keine andere Wahl, also warteten sie. Zehn Minuten vergingen, dann zwanzig. Doch die Angler machten keinerlei Anstalten zu gehen.
Zweifelnd lehnte Olga den Kopf an einen Baumstamm. „Vielleicht bin ich nicht genügend vorbereitet“, dachte sie, „oder mein Zeugnis ist nicht stark genug oder ich bin noch nicht vollständig umgekehrt.“
Sie wollte sich gerade zum Beten niederknien, als Jaromír sie am Arm nahm und zu den anderen zurückführte.
„Ich glaube, wir müssen alle noch einmal beten, damit Olga heute getauft werden kann“, teilte er der Gruppe mit.
Sie knieten zusammen hin, und Jaromír rief Gott um Olgas willen an. Seiner Stimme war anzumerken, wie bewegt er war. Nach dem Gebet verstrichen noch einige Minuten – dann standen die Angler unversehens auf und gingen davon.
Als Jaromír Olga an der Hand nahm, sie in den See führte und das Taufgebet sprach, war das Wasser ruhig und still. Sie hörte ihn ihren Namen aussprechen und spürte, wie sich ein Kapitel in ihrem Leben schloss. Nun, da sie sich entschieden hatte, Christus nachzufolgen und sein wiederhergestelltes Evangelium anzunehmen, sollte sich alles ändern. Übergroße Freude überkam sie und sie wusste, dass ihre Taufe im Himmel verzeichnet war.
Bald war die kleine Gruppe in Jaromírs Auto wieder auf dem Rückweg nach Brünn. Auf der Fahrt lief eine Kassette mit Aufnahmen des Tabernakelchors. Olga hatte das Gefühl, Engel singen zu hören, und staunte, als Jaromír ihr erzählte, dass die Chorsänger alle der Kirche angehörten. Sie fragte sich, wie das Leben wohl sein mochte, wenn man als Mitglied in einem Land lebte, in dem Religionsfreiheit herrschte und wo es einen lebenden Propheten gab.
Nach der Ankunft in Brünn kamen alle in Jaromírs Wohnung zusammen. Jaromír, Otakar und weitere Priestertumsträger legten Olga die Hände auf. Als sie als Mitglied der Kirche bestätigt wurde, spürte sie, wie der Heilige Geist sie umgab. In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie eine Tochter Gottes war.
In dem Segen verkündete Jaromír, Olga werde auf verständliche Weise vielen jungen Leuten das Evangelium nahebringen, die sich dann der Kirche anschließen würden. Diese Worte überraschten sie. Bis auf Weiteres schien es ihr ausgeschlossen, das Evangelium öffentlich zu verkünden.
Dennoch trug sie die Worte im Herzen und sehnte den Tag herbei, da sie sich erfüllen sollten.
Am 27. November 1982 waren in Johannesburg bei bedecktem Himmel 850 Besucher zum ersten Spatenstich für das erste Haus des Herrn auf dem afrikanischen Kontinent zusammengekommen. Julia Mavimbela war mit zehn Familien aus Soweto, der Siedlung im Südwesten der Stadt, zu der Feier gekommen. Von dem Moment an, als Julia etwas über den Tempel erfahren hatte, wollte sie für ihren verstorbenen Mann und ihre Eltern die heiligen Handlungen vollziehen lassen. Sie war fest entschlossen, bei allen wichtigen Ereignissen rund um den Bau des Tempels mit dabei zu sein.
Elder Marvin J. Ashton vom Kollegium der Zwölf Apostel präsidierte bei der Feier. In seiner Schlussrede sprach er davon, welch großen geistigen Enthusiasmus er unter den Heiligen in Südafrika spürte. Bald werde das Haus des Herrn fertiggestellt sein, und die Heiligen, die früher für einen Tempelbesuch tausende Kilometer in die Vereinigten Staaten, in die Schweiz, nach England oder Brasilien hatten reisen müssen, könnten sich dann an ihrem eigenen Tempel in der Nähe erfreuen.
Nach seinen Worten führte Elder Ashton zusammen mit weiteren Führern der Kirche den symbolischen ersten Spatenstich durch. Andere Besucher wollten nicht zurückstehen und drängten nach vorne, um sich ebenfalls zu beteiligen. Da Julia und die Mitglieder der Kirche aus Soweto niemanden beiseiteschieben wollten, wichen sie vor der Menge zurück. Einige Amtsträger entdeckten sie jedoch und baten sie, vorzutreten, einen Spaten in die Hand zu nehmen und ebenfalls einen Spatenstich zu machen. Julia war sich sicher, dass der Heilige Geist seine Hand im Spiel gehabt hatte, als sie und ihre Gruppe nach vorne gebeten wurden.
In den Monaten darauf hatte Julia große Freude daran, in der Frauenhilfsvereinigung mitzuwirken. In ihrem Zweig gab es viele Neubekehrte, daher nahmen erfahrene Mitglieder aus anderen Gemeinden im Pfahl sie unter ihre Fittiche, bis sie so weit waren, im Zweig Führungsaufgaben zu übernehmen. Die FHV-Präsidentin, eine Weiße, schlug Julia als Erste Ratgeberin vor.
Der Zweig war einer der ersten, der für Mitglieder in einer Township gegründet worden war. Die Versammlungen fanden zunächst in einem Gemeindehaus in einem Stadtviertel von Johannesburg statt. Um dorthin zu gelangen, mussten Julia und ihre Mitbrüder und -schwestern aus Soweto ein Taxi in die Stadt nehmen und dann den Rest des Weges zum Gemeindehaus zu Fuß zurücklegen. Einige Zeit später zog der Zweig in eine Highschool in Soweto um, und Julia freute sich, dass die Kirche nun näher an ihren Wohnort gerückt war.
Doch die neuen Versammlungsräume brachten ihre eigenen Herausforderungen mit sich. Jeden Sonntagmorgen mussten die Mitglieder die Schule in aller Frühe erst einmal für die Abendmahlsversammlung herrichten und die Böden fegen sowie Fenster und Stühle reinigen. Es kam auch vor, dass der für die Terminplanung Zuständige das Schulgebäude überbuchte, um mehr Geld zu kassieren. Dann hatten die Heiligen das Nachsehen und die Versammlungen fielen aus.
Schon bald übertrug der Pfahl Johannesburg mehr und mehr Schwarzen in den Zweigen der Townships Führungsaufgaben. Julia wurde in ihrem Zweig als FHV-Präsidentin berufen.
Doch dieser Aufgabe fühlte sich absolut nicht gewachsen. Zwar hatte sie in ihrer Nachbarschaft reichlich Führungserfahrung und wusste, wie man Menschen hilft und sie motiviert, aber die Heiligen in ihrem Zweig waren es gewohnt, dass Führungsaufgaben von den Weißen ausgeübt wurden. Sie meinte fast hören zu können, wie die Mitglieder ihres Zweiges ihre Fähigkeiten anzweifelten und dachten: „Sie ist doch schwarz – wie wir.“
Doch Julia ließ sich nicht entmutigen. Sie wusste, was sie zu leisten imstande war. Und sie wusste auch, dass der Herr mit ihr sein würde.