Kapitel 25
Um des Evangeliums willen
Am 14. Juni 1989, als die beiden Missionarinnen Alice Johnson und Hetty Brimah auf dem Rückweg zu ihrer Wohnung in Koforidua in Ghana waren, fiel ihnen auf, dass man sie anstarrte. „Warum schauen uns denn alle so an?“, fragte sich Hetty laut.
„Wir sehen eben schick aus“, antwortete Alice. Sie hatten sich gerade von einer Friseurin, die sie im Evangelium unterwiesen, die Haare stylen lassen. Wieso sollten sie da denn nicht angestarrt werden?
Als Alice und Hetty in ihrer Unterkunft ankamen, teilte ihr Vermieter ihnen mit, sie müssten sich sofort bei Alices Vater und ihrer Stiefmutter melden, die ebenfalls als Missionare in Koforidua tätig waren.
Alice war die Tochter von Billy Johnson, dessen unermüdliche Verkündigung des wiederhergestellten Evangeliums viel zur Etablierung der Kirche in Ghana beigetragen hatte. Er war unter den ersten Getauften gewesen, als die Missionare Ende 1978 ins Land gekommen waren. Nach der Taufe empfing er das Priestertum, wurde der erste Zweigpräsident in Ghana und war später Distriktspräsident. Jetzt, ein Jahrzehnt später, gab es rund sechstausend ghanaische Mitglieder der Kirche. Als Missionare hatten Billy und seine Frau nun den Auftrag, sich um Mitglieder zu kümmern, die nicht mehr zu den Versammlungen kamen.
Alice und Hetty gingen zum Missionsheim in der Stadt und fanden dort die Johnsons vor. Alices Vater erklärte ihnen und anderen Missionaren gefasst, die ghanaische Regierung habe aus unbekannten Gründen sämtliche Aktivitäten der Kirche im Land verboten. Auch einigen anderen christlichen Kirchen wurde keine Versammlungsfreiheit mehr zugestanden.
„Ihr müsst bitte eure Namensschilder abnehmen“, sagte Billy. Die Nachricht über das Verbot war bereits über das Radio verbreitet worden – was erklärte, weshalb Alice und Hetty so angestarrt worden waren. „Geht in eure Wohnung und packt sofort eure Sachen“, wies Billy sie an. „Morgen Vormittag müssen wir im Missionsheim in Accra sein.“
Schon in ihrer Jugend hatte Alice immer bewundert, wie sehr sich ihr Vater auf das Beten stützte, wie freundlich er war und wie begeistert vom wiederhergestellten Evangelium. Sein Glaube und sein Eifer, Gott zu dienen, hatten Alice dazu motiviert, schon im Alter von achtzehn Jahren auf Mission zu gehen, was in einigen Teilen der Welt erlaubt war.
Als Billy nun über das Verbot durch die Regierung sprach, forderte er Alice und die anderen Missionare auf, zu fasten und um die Aufhebung der Regelung zu beten.
Am nächsten Morgen fuhren Alice und Hetty rund achtzig Kilometer Richtung Süden zum Missionsbüro in Accra. Dort hatten sich schon Dutzende von Missionaren versammelt. Die meisten von ihnen waren Ghanaer. Alle hatten Tränen in den Augen. Das Verbot war für alle überraschend gekommen, selbst für den Missionspräsidenten. Gemeindehäuser und sonstige Gebäude der Kirche waren von der örtlichen Miliz beschlagnahmt worden. Polizeibeamte hatten Missionare aus ihren Wohnungen getrieben und Autos sowie Fahrräder der Mission konfisziert. Vor dem Missionsbüro hatten bewaffnete Wachen Stellung bezogen.
Gilbert Petramalo, der Missionspräsident, teilte allen mit, dass sie entlassen werden müssten. Nur Alices Eltern sollten Vollzeitmissionare bleiben, aber sie würden inoffiziell tätig sein. Sie sollten den Heiligen weiterhin dienen, doch dabei Alltagskleidung tragen und kein Namensschild anstecken.
Nach ihrer Entlassung zog Alice zu einer Freundin nach Cape Coast. Ihr war zumute, als sei ihr plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Sie war verwirrt. Wie sollte nach dem abrupten Ende ihrer Mission ihre Zukunft bloß aussehen? Ihr schien, als sei alles, was für sie von Belang gewesen war, plötzlich zu Ende.
Nachdem alle kirchlichen Aktivitäten in Ghana verboten worden waren, wartete William Acquah – ein Mitglied der Kirche – ungeduldig auf weitere Nachrichten. Er las die Lokalzeitungen und hörte ständig Radio in der Hoffnung, mehr über den „Freeze“, wie das Verbot bald genannt wurde, zu erfahren. Gelegentlich kam er mit anderen Heiligen zusammen, und sie tauschten Informationen aus.
Jahrzehnte der Kolonialherrschaft hatte einige Ghanaer misstrauisch gegenüber Außenstehenden gemacht. Offenbar waren die Tatsache, dass sich der Hauptsitz der Kirche in den Vereinigten Staaten befand, und ebenso auch der offensichtliche Wohlstand der Kirche den Behörden ein Dorn im Auge. Vielfach war auch ein Film gezeigt worden, der die Kirche als bedrohlich und unmoralisch darstellte und Ängste gegenüber den Heiligen schürte. Durch die Einschränkungen vermeinte die Regierung also offenbar, ihre Bürger schützen zu können, und die Behörden schienen die Sperre erst aufheben zu wollen, nachdem sie eine gründliche Untersuchung der Kirche und ihrer Aktivitäten durchgeführt hatten.
William lebte in Cape Coast. Seine Frau Charlotte gehörte zur Familie Andoh-Kesson, die schon früh die Arbeit von Billy Johnson unterstützt hatte. Charlotte hatte William 1978 mit dem wiederhergestellten Evangelium bekanntgemacht, aber er hatte mehr als ein Jahr gewartet, ehe er sich taufen ließ. Er stammte aus einer angesehenen Familie in der Region, und Schulbildung und Lebenserfahrung hatten ihn schon in seiner Jugend Gott gegenüber misstrauisch gemacht. Sein Herz erweichte sich jedoch, als Charlotte ihm Reed und Naomi Clegg vorstellte, ein Missionarsehepaar in Cape Coast. Die beiden warteten geduldig, während er sich mit dem Buch Mormon und weiterer Literatur der Kirche befasste, und gestanden ihm die Zeit zu, ein Zeugnis zu erlangen und sich zur Taufe zu entschließen.
Zu Beginn des „Freeze“ hatten die Führer der Kirche den ghanaischen Mitgliedern gestattet, zuhause das Abendmahl zu spenden und die Sonntagsschule abzuhalten. William, Charlotte und ihre Kinder taten dies jeden Sonntag. Danach ging William oft aus dem Haus, um nach anderen Mitgliedern zu sehen und sich zu vergewissern, dass es ihnen gut ging.
Am Sonntag, dem 3. September 1989, sah William eine Gruppe von Mitgliedern, die sich um ein Taxi scharten. Sie erzählten ihm, dass zwei Mitglieder, nämlich Ato und Elizabeth Ampiah, soeben verhaftet worden seien, weil sie zuhause Versammlungen der Kirche abgehalten hatten. William stieg zu den anderen in das Taxi, und sie fuhren zur Polizeiwache.
Das Gebäude war ein trister Bau aus der Kolonialzeit. Drinnen stand ein Beamter an einem Schalter. Hinter ihm saßen die Ampiahs barfuß auf einer Bank vor den Eisengittern der Gefängniszellen.
Der Beamte sah William an. „Gehören etwa auch Sie dieser Kirche da an?“, wollte er wissen.
„Ja“, antwortete William.
Der Beamte führte William sogleich hinter den Schalter. „Ziehen Sie die Schuhe aus“, verlangte er barsch. „Geben Sie mir Ihre Armbanduhr.“ Derselbe Befehl erging an die anderen Männer, die mit William mitgekommen waren. Einer von ihnen wollte wissen, ob er einen Bekannten anrufen könne, einen örtlichen Regierungsbeamten. Der Polizist war außer sich vor Wut.
„In die Zellen!“, brüllte er.
Ein widerlicher Gestank schlug William entgegen, sobald er durch die vergitterte Tür getreten war. Der kleine Raum war überfüllt mit in Lumpen gekleideten Gefangenen. Völlig entgeistert starrten diese das Grüppchen von Heiligen an, die nun mit ihnen die Zelle teilen sollten – und unverkennbar Sonntagskleidung trugen.
„Was geht bloß in unserem Land vor“, fragte ein Gefangener, „dass harmlose Priester wie ihr hierher gebracht werden?“
Trotz ihres nicht gerade vertrauenerweckenden Aussehens machten die Zelleninsassen Platz für die Heiligen und behandelten sie respektvoll. Es war Fastsonntag, und als William und seine Begleiter ihre Lage besprachen, beschlossen sie, mit dem Fasten fortzufahren. Sie waren angespannt und besorgt. Doch die Nachricht von ihrer Gefangennahme sprach sich herum, und andere Mitglieder der Kirche setzten sich für ihre Freilassung ein.
Irgendwann am Nachmittag kam Williams Onkel auf das Revier. Er war ein ruhiger, würdevoller älterer Herr, der nicht der Kirche angehörte. Er sprach mit den Polizisten, konnte sie jedoch nicht überreden, William freizulassen. Die Beamten behaupteten nämlich, die Heiligen seien eine Bedrohung für die nationale Sicherheit und könnten daher nicht auf Kaution freigelassen werden.
Die Stunden verrannen, und der Nachmittag ging in den Abend über. Freunde aus der Kirche kamen zum Gefängnis und baten ebenfalls um die Freilassung der Inhaftierten, doch vergeblich – die Beamten drohten vielmehr, auch sie zu verhaften. Als schließlich klar wurde, dass William und die übrigen die Nacht im Gefängnis verbringen würden, reichten sie einander die Hände und sprachen ein Gebet.
Am nächsten Morgen teilte ihnen der Revierkommandant mit, er warte auf Befehle, was mit ihnen zu tun sei. William verbrachte die Zeit damit, mit anderen Gefangenen zu reden. Einige hatten Angehörige in der Nähe und wollten sie gern kontaktieren. William prägte sich ihre Adressen ein und versprach, ihnen die Nachrichten zu überbringen. Als William an den Apostel Paulus im Neuen Testament und an dessen Gefangenschaft um des Evangeliums willen dachte, inspirierte ihn dies sehr.
Ein weiterer Tag verging. Am Dienstag wurden William und die übrigen Heiligen schließlich zum Kommandanten gebracht. „Ihr könnt gehen“, sagte der ohne weitere Erklärung. Er versuchte, freundlich zu klingen, wies sie jedoch warnend darauf hin, sie dürften keinem Menschen etwas von ihrer Festnahme erzählen.
Niemand erwiderte etwas darauf. Am Schalter gaben ihnen Polizisten ihre Sachen zurück und schickten sie fort.
Am Abend des 18. November 1989 wartete Olga Kovářová an einem Busbahnhof im tschechoslowakischen Brünn auf ihren Bus. Dabei bemerkte sie, dass Dutzende von Polizeiautos vor einem nahegelegenen Theater hielten. „Da brennt es wohl“, dachte Olga.
Kurz darauf kam ihr Bus. Olga stieg ein und sah eine junge Nachbarin, die sie öfter im Bus traf. Diese sah ganz aufgeregt aus.
„Was hältst du davon?“, wollte sie sogleich wissen.
„Wovon sprichst du?“, erkundigte sich Olga.
Ihre Freundin senkte die Stimme. „Na, über die Revolution!“
„Wo?“
„In der Tschechoslowakei, in Prag – hier!“
Olga lachte. „Du machst wohl Witze“, meinte sie.
„Hast du denn nicht die vielen Polizeiautos rund um das Theater gesehen?“, fragte ihre Freundin. „Die Schauspieler haben einen Streik begonnen, der sich immer weiter ausweitet.“
Olga hatte immer noch ihre Zweifel. Seit über einem Jahr hatte eine Welle friedlicher öffentlicher Proteste und Demonstrationen in Polen, Ungarn, der DDR und weiteren mit der Sowjetunion verbündeten Ländern zu einem politischen Wandel geführt. Nur wenige Tage zuvor hatten in Berlin Menschen auf beiden Seiten der Stadt mit dem Abriss der massiven Betonmauer begonnen, die die Deutschen fast dreißig Jahre lang voneinander getrennt hatte.
In der Tschechoslowakei war die Regierung auf die Forderungen ihrer Bürger nach mehr Freiheit jedoch nicht eingegangen.
Olga sehnte sich danach, ihre Religion frei ausüben zu dürfen – um diese Segnung hatten sie und ihre Mitbrüder und -schwestern schon lange gefastet und gebetet. Elder Russell M. Nelson war in der Zwischenzeit mit der tschechoslowakischen Regierung zusammengekommen, um die offizielle Anerkennung der Kirche zu erreichen.
Olga tat ihr Bestes, um ihrem Glauben gemäß zu leben. Glücklicherweise erfüllte das Evangelium sie weiterhin mit Freude. 1987 war sie mit ihren Eltern in die DDR gefahren; sie hatten im Freiberg-Tempel das Endowment erhalten und waren als Familie aneinander gesiegelt worden. Das hatte sie sehr gestärkt. „Das ist ein wirklich schönes Fundament“, hatte sie damals gedacht, „als ob man sich nach der Decke streckt, und diese Decke wird dann zu einem neuen Fundament.“
Zwei Jahre waren seitdem vergangen. Nun kam Olga in ihre Wohnung, schaltete Fernseher und Radio ein und wartete auf Nachrichten. Doch es kamen keine. Würde sich denn wirklich einmal etwas ändern?
Als Olga am nächsten Morgen das Jugendzentrum betrat, in dem sie arbeitete, eilten ihre Kollegen auf dem Flur auf und ab. Viele sahen äußerst besorgt aus. „In Prag geht etwas sehr Schwerwiegendes vor sich“, sagte Olgas Chef. „Ich habe gleich eine Notfallsitzung.“
Bald darauf lieferten auch andere Kollegen Neuigkeiten über die Revolution. „Es ist also wahr“, dachte Olga.
Innerhalb weniger Tage hingen in den Schaufenstern Schilder, die einen Generalstreik gegen die Regierung ankündigten. Olga schloss sich den Tausenden an, die zum Hauptplatz marschierten. Ihr Herz schlug heftig, als sich die Geschichte ihres Landes entspann – und sie inmitten des Geschehens war. Sie dachte an all die Schwierigkeiten, die ihre Eltern und Großeltern durchgemacht hatten. Doch in der Einigkeit und Liebe der Menschen um sich spürte sie auch den Geist Gottes.
Nach tagelangen Protesten trat die Regierung zurück, und die Bildung einer neuen Regierung nahm Gestalt an. Die Atmosphäre im Lande veränderte sich. Man konnte sich auf der Straße offen unterhalten. Die Menschen lächelten einander zu, und einer half dem anderen. In der Kirche blickten die Heiligen optimistisch in die Zukunft und freuten sich, zum ersten Mal seit Jahrzehnten offiziell zusammenkommen zu können.
In dieser Zeit suchte Olga auch Otakar Vojkůvka zuhause auf. Er hatte Tränen in den Augen, so glücklich war er, dass junge Leute wie sie nun in Freiheit leben und ihre Religion würden ausüben können.
Sein ganzes Leben, erklärte Otakar, habe er genau darauf gewartet.
Als Dignardino Espi, leitender Sicherheitsbeamter im Manila-Tempel in den Philippinen, am Abend des 1. Dezember 1989 zur Arbeit kam, war er beunruhigt. Bewaffnete hatten in Manila einen Aufstand angezettelt und die Stadt ins Chaos gestürzt. Es war innerhalb von vier Jahren der siebte Versuch, die philippinische Regierung zu stürzen.
Trotz aller politischen Unruhen stand die Kirche in den Philippinen auf einem festen Fundament. Innerhalb von dreißig Jahren war die Mitgliederzahl von einer Handvoll einheimischer Gläubiger auf mehr als zweihunderttausend Heilige angewachsen. Inzwischen gab es im Land achtunddreißig Pfähle und neun Missionen. Der Manila-Tempel schenkte den Heiligen seit seiner Weihung im September 1984 große Freude und geistige Kraft.
Im Wachhäuschen vor dem Tempel traf Dignardino auf seine Kollegen Felipe Ramos und Remigio Julian. Obwohl die beiden Männer ihre Schicht gerade beendet hatten, zögerten sie, sich auf den Heimweg zu machen, denn gegenüber vom Tempel befand sich ein großer Militärstützpunkt namens Camp Aguinaldo. Den beiden Wachen war bewusst, dass der Stützpunkt ein Ziel der bewaffneten Rebellen sein könnte, und sie befürchteten daher, in Kämpfe verwickelt zu werden, sobald sie ihren Posten verließen. Daher wollten sie lieber bleiben und mithelfen, die Heiligkeit des Hauses des Herrn und des Tempelgeländes zu bewahren.
Gegen ein Uhr nachts errichteten Regierungstruppen an einer Kreuzung in der Nähe des Tempels eine Straßensperre. Einige Stunden später sprengte ein Panzer die Straßensperre und beschädigte dabei die Mauer um den Tempel.
Als dann auf der Straße Unruhen ausbrachen, holten Dignardino und die anderen Sicherheitsbeamten zur Unterstützung die beiden Hausmeister des Tempels herbei, um gemeinsam mit ihnen das Gebäude und die Anlage zu schützen. Kurze Zeit später brach eine Gruppe von Männern die Tore auf, um sich vor dem Beschuss durch die Regierungstruppen in Sicherheit zu bringen. Dignardino versuchte, sie zum Gehen zu zwingen, doch die Männer weigerten sich.
Später am Nachmittag telefonierte Dignardino mit Tempelpräsident Floyd Hogan und Gebietspräsident George I. Cannon. Präsident Cannon riet ihm und den Mitarbeitern, im Inneren des Tempels Schutz zu suchen. Kurz darauf waren die Telefonleitungen tot.
Am nächsten Morgen war Fastsonntag, und die Mitarbeiter im Tempel begannen ihr Fasten mit der Bitte an Gott, das Haus des Herrn möge nicht entweiht oder beschädigt werden.
Ansonsten verlief der Tag ähnlich wie der vorherige. Hubschrauber flogen über das Tempelgelände und übersäten es mit Geschossen. Ein Flugzeug warf in der Nähe mehrere Bomben ab, wodurch die Fenster in der Verkaufsstelle zu Bruch gingen und auch andere Gebäude beschädigt wurden. Ein Kampfjet feuerte über dem Tempel zwei Raketen ab und setzte so ein benachbartes Feld in Brand.
Am frühen Nachmittag traf Dignardino in der Nähe des Tempeleingangs auf zehn bewaffnete Männer. „Was Sie im Inneren des Tempels finden, ist rein religiöser und heiliger Natur“, erklärte er ihnen. Er war nervös, redete aber weiter. „Wenn Sie darauf bestehen, in ein heiliges Gebäude einzudringen, verliert es seine Heiligkeit“, sagte er. „Wollen Sie uns wirklich dieser Segnung berauben?“ Die Männer schwiegen. Doch als sie schließlich von dannen zogen, war Dignardino bewusst, dass seine Worte sie beeindruckt hatten.
Als Dignardino seine Mitarbeiter am Abend um sich versammelte, suchten sie abermals Schutz im Inneren des Tempels. Er sprach aus tiefster Seele ein Gebet und vertraute darauf, dass der Herr sein heiliges Haus bewahren werde.
Die ganze Nacht hindurch erwarteten sie, dass weitere Bomben fallen würden, aber die Stunden verstrichen in Stille. Als am Montag die Morgendämmerung einsetzte, verließen sie vorsichtig den Tempel, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Die Bewaffneten waren verschwunden. Nichts war zu sehen – außer weggeworfene Waffen, Munition und Militäruniformen.
Dignardino inspizierte mit seinen Mitarbeitern das Tempelgelände, und an einigen Außengebäuden stellten sie Schäden fest. Aber der Tempel selbst war unversehrt geblieben.
Am späten Nachmittag des 7. Juni 1990 gingen Manuel Navarro und sein Mitarbeiter Guillermo Chuquimango zurück zu ihrer Unterkunft in Huaraz in Peru. Manuel hatte im März 1989 seine Mission in der Missionarsschule in Lima angetreten – einer von vierzehn Missionarsschulen weltweit. Er mochte das ausgelastete Leben eines Missionars und hatte Freude daran, unterschiedliche Regionen seines Heimatlandes kennenzulernen und Menschen zu Jesus Christus zu führen.
Sein derzeitiges Einsatzgebiet war nachts jedoch nicht ungefährlich. Eine revolutionäre Gruppe namens Sendero Luminoso – Leuchtender Pfad – bekriegte seit mehr als einem Jahrzehnt die peruanische Regierung. In letzter Zeit waren ihre Angriffe aggressiver geworden, da in dem südamerikanischen Land die wirtschaftlichen Probleme zugenommen hatten und die Inflation gestiegen war.
Manuel und Guillermo, der ebenfalls gebürtiger Peruaner war, kannten die Gefahren, denen sie jeden Morgen beim Verlassen ihrer Unterkunft ausgesetzt waren. Gruppierungen wie der Sendero Luminoso nahmen zuweilen Mitglieder der Kirche ins Visier, weil sie die Kirche mit der Außenpolitik der Vereinigten Staaten in Verbindung brachten. In den spanischsprachigen Ländern zählte die Kirche inzwischen mehr als eine Million Mitglieder, davon etwa 160.000 in Peru. In den letzten Jahren hatten Revolutionäre in ganz Lateinamerika Missionare angegriffen und Gemeindehäuser bombardiert. Im Mai 1989 hatten Revolutionäre in Bolivien zwei Missionare erschossen. Seitdem hatte sich das politische Klima noch weiter verschärft, und die Angriffe auf die Kirche nahmen zu.
Die fünf Missionen in Peru hatten auf die Attacken reagiert, indem sie Ausgangssperren einführten und die Missionare anwiesen, ihrer eigentlichen Tätigkeit nur tagsüber nachzugehen. Aber an diesem Abend waren Manuel und Guillermo gut gelaunt und gesprächig. Sie hatten gerade jemanden im Evangelium unterwiesen und sollten in etwa fünfzehn Minuten wieder zuhause sein.
Als sie so nebeneinander hergingen und sich unterhielten, sah Manuel etwa einen Häuserblock weit weg zwei junge Männer. Sie schoben ein kleines, gelbes Auto und sahen aus, als könnten sie Unterstützung brauchen. Manuel überlegte noch, ob er nicht helfen solle, doch da starteten die Männer schon den Wagen und fuhren weg.
Kurze Zeit später näherten sich die Missionare einem Park gleich bei ihrer Wohnung. Nicht einmal zwei Meter von der Stelle entfernt, an der sie sich gerade befanden, parkte auf dem Bürgersteig das gelbe Auto. In der Nähe befand sich ein Truppenstützpunkt.
„Sieht fast aus wie eine Autobombe“, sagte Guillermo. Manuel sah Leute wegrennen – und im nächsten Augenblick explodierte auch schon das Auto.
Die Druckwelle erfasste Manuel, und er wurde durch die Luft geschleudert. Granatsplitter zischten an ihm vorbei. Als er auf dem Boden aufschlug, hatte er panische Angst. Er dachte an seinen Mitarbeiter. Wo war der nur? Hatte er die ganze Wucht der Explosion abbekommen?
In diesem Moment spürte er, wie Guillermo ihn vom Boden hochzog. Der Park glich einem Kriegsschauplatz. Soldaten des Stützpunkts – der offensichtlich Ziel der Bombe gewesen war – feuerten ihre Gewehre hinter den schwelenden Überresten des Autos ab. Gestützt auf seinen Mitarbeiter schaffte Manuel den Rest des Heimwegs zu Fuß.
Dort ging er ins Bad und sah sich im Spiegel an. Sein Gesicht war blutverschmiert, aber er konnte am Kopf keine Verletzung entdecken. Ihm war einfach nur schwindlig.
„Gib mir einen Segen“, bat er seinen Mitarbeiter. Guillermo, der nur leichte Verletzungen davongetragen hatte, legte Manuel die zitternden Hände auf und gab ihm einen Segen.
Kurz darauf kam die Polizei. Die Beamten hielten die Missionare für jene jungen Männer, welche die Bombe gelegt hatten, nahmen sie fest und brachten sie aufs Revier. Dort erkannte einer der Beamten Manuels Zustand und sagte: „Der hier macht es nicht mehr lange. Bringen wir ihn auf die Gesundheitsstation.“
Der dortige Dienststellenleiter erkannte die Missionare wieder. Erst vor kurzem hatte Manuel mit ihm ein Taufinterview geführt. „Das sind keine Terroristen“, erklärte er seinen Kollegen. „Das sind Missionare.“
Unter der Obhut des Dienststellenleiters wusch sich Manuel das Gesicht und entdeckte schließlich eine tiefe Wunde unter dem rechten Auge. Sobald der Dienststellenleiter das sah, beorderte er Manuel und Guillermo ins Krankenhaus. „Ich kann hier nicht helfen“, meinte er.
Kurze Zeit später fiel Manuel aufgrund des Blutverlusts in Ohnmacht. Er benötigte dringend eine Bluttransfusion. Mitglieder der Kirche aus Huaraz kamen zum Krankenhaus in der Hoffnung, ihm Blut spenden zu können, doch keiner hatte die richtige Blutgruppe. Zu guter Letzt nahmen die Ärzte auch an Guillermo eine Blutuntersuchung vor und stellten fest, dass er genau dieselbe Blutgruppe hatte wie Manuel.
Zum zweiten Mal an diesem Abend rettete Guillermo seinem Mitarbeiter das Leben.