Kapitel 31
Unergründliche Wege
Am 26. Oktober 1999 wartete Georges A. Bonnet darauf, dass Präsident Gordon B. Hinckley sich erhob. Im Verwaltungsgebäude der Kirche in Salt Lake City war soeben eine Sitzung des Haushaltsausschusses mit der Ersten Präsidentschaft, der Präsidierenden Bischofschaft, zahlreichen Generalautoritäten und Verwaltungsbeamten der Kirche zu Ende gegangen. Georges nahm normalerweise nicht an solchen Sitzungen teil, doch er vertrat an jenem Tag den Geschäftsführer der Abteilung Gebäude und Grundstücke. Und ihm war bewusst, dass die Sitzung erst dann wirklich zu Ende war, wenn Präsident Hinckley aufstand und zur Tür ging.
Doch es sah nicht so aus, als würde der Prophet irgendwohin gehen. Stattdessen sah er Georges geradewegs an und fragte: „Was machen wir bloß mit dem Ghana-Tempel?“ Dem Blick des Propheten war zu entnehmen, wie dringend er eine Antwort auf diese Frage erhoffte.
Georges wusste nicht, was er sagen sollte. Die Frage traf ihn völlig unvorbereitet. Fast ein Jahrzehnt zuvor hatte er als Verwaltungsdirektor der Kirche in Afrika dazu beigetragen, dass die ghanaische Regierung den sogenannten „Freeze“ – ein Verbot aller Aktivitäten der Kirche – einstellte. Hierzu hatte er Isaac Addy, ein Mitglied der Kirche in Accra, gebeten, sich mit seinem Halbbruder, dem ghanaischen Präsidenten Jerry Rawlings, auszusöhnen.
Georges hatte sich durch seine Leistungen in Ghana den Respekt der Führer der Kirche erworben. Aber er war jetzt beruflich für die Kirche an anderer Stelle tätig, und die hatte rein gar nichts mit Afrika zu tun. Das Einzige, was er über den Ghana-Tempel wusste, war, dass Präsident Hinckley ihn im Februar 1998 angekündigt hatte.
„Es tut mir leid“, antwortete Georges schließlich, „aber ich bin nicht an dem Projekt beteiligt.“
Präsident Hinckley saß weiterhin da und hatte noch immer diesen flehentlichen Blick in den Augen. Er berichtete Georges, die Planung des Tempels sei ins Stocken geraten. Zunächst schien die ghanaische Regierung das Projekt zu unterstützen, und die Kirche hatte an einer Hauptverkehrsstraße in Accra ein Grundstück erworben. Doch dann, kurz vor dem geplanten ersten Spatenstich im April 1999, weigerte sich die Regierung, der Kirche die Baugenehmigung zu erteilen. Keiner wusste, warum.
Nach der Sitzung ging Georges mit dem Präsidierenden Bischof H. David Burton und dessen Zweitem Ratgeber Keith B. McMullin zurück zum Bürogebäude der Kirche. Beide wollten von ihm wissen, was die Kirche nun tun müsse, um für den Tempel in Accra die Baugenehmigung zu erhalten.
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, nach Ghana zu fliegen?“, wollten sie wissen.
„Keineswegs“, antwortete Georges. „Das mache ich sogar sehr gerne.“
Einige Wochen später reiste Georges nach Ghana und stellte fest, dass die Kirche dort an sich sehr gut vorankam. Während des „Freeze“ hatte es in Ghana fast neuntausend Mitglieder der Kirche, aber keinen einzigen Pfahl gegeben. Heute, zehn Jahre darauf, hatte das Land fünf Pfähle und über siebzehntausend Mitglieder. Und diese Mitglieder beteten ernsthaft darum, der Bau des Hauses des Herrn möge endlich weitergehen. Als Präsident Hinckley 1998 bei seinem Besuch in Ghana den Tempel angekündigt hatte, waren die Heiligen aufgesprungen und hatten gejubelt. Niemand hatte mit solchen Verzögerungen gerechnet.
In Accra kam Georges mit dem Architekten des Tempels, Anwälten der Kirche und Regierungsvertretern zusammen. Er traf sich auch mit Elder Glenn L. Pace, dem Präsidenten des Gebiets Afrika West, der für Georgesʼ Unterstützung dankbar war. Georges sah Elder Pace an, wie sehr ihn die Situation frustrierte. Aber er gab die Hoffnung nicht auf. Kürzlich hatten die Heiligen in Westafrika ein Sonderfasten für den Tempel eingelegt, und Elder Pace war der Ansicht, dass sich ein Wandel abzeichne.
Nach einer Woche voller Besprechungen verlängerte Georges seine Reise um eine weitere Woche, um alle Erkenntnisse zusammenzutragen. Laut seinen Gesprächspartnern hatten Vertreter der Kirche unwissentlich die Baubehörde Accra Metropolitan Assembly beleidigt, die für die Genehmigung von hiesigen Bauprojekten zuständige staatliche Stelle. Die AMA war der Meinung, die Vertreter der Kirche seien während des Genehmigungsverfahrens zu aufdringlich und anmaßend gewesen. Auch Präsident Rawlings, der trotz der Versöhnung während des „Freeze“ nun nicht mehr mit seinem Bruder sprach, schien dem Projekt Widerstand entgegenzusetzen.
Georges berichtete dies Elder Pace, und gemeinsam fertigten sie für die Präsidierende Bischofschaft einen Bericht an. Mit diesem in der Tasche kehrte Georges nach Utah zurück und war zufrieden, in Ghana sein Teil geleistet zu haben.
Auf den Fidschi-Inseln genoss Juliet Toro derweil das Fernstudienprogramm der Brigham-Young-Universität. Die Kurse waren anders als alles, was sie bisher erlebt hatte. Als Kind hatte sie immer Angst gehabt, in der Schule Fragen zu stellen, weil sie befürchtete, ihre Lehrer würden sie auslachen, wenn sie das Falsche sagte. Sie stellte jedoch bald fest, dass die Lehrkräfte hier sie zu Fragen geradezu ermunterten und ihr nie das Gefühl gaben, dumm zu sein. Sie spürte auch im Klassenzimmer den Geist des Herrn, der sie beim Lernen anleitete.
Juliet empfand das erste Semester als große Herausforderung. Das Fach Betriebswirtschaft fiel ihr besonders schwer. Obwohl sie bereits mit einigen Grundlagen vertraut war, schwirrte ihr oft der Kopf von den vielen neuen Begriffen und Definitionen, die sie im Unterricht lernte. Gegen Ende des Semesters hatte sie das Gefühl, der Stoff für die Abschlussprüfung sei viel zu viel. Dennoch schnitt sie bei der Prüfung gut ab – sie bekam die beste Note der gesamten Klasse.
Auch die Fächer Religion und Buchhaltung stellten Juliet vor Herausforderungen. Da sie ja noch neu in der Kirche war, kannte sie sich im Buch Lehre und Bündnisse nicht aus. Deshalb erhielt sie Unterstützung von ihrer Kommilitonin Sera Balenagasau, die ihr Leben lang schon der Kirche angehörte und auf Vollzeitmission gewesen war. Beim Thema Buchhaltung wandte Juliet sich an ihren Mann Iliesa. Da dieser bis vor kurzem in einer Bank gearbeitet hatte, verstand er die Materie gut und konnte ihr bei den Aufgaben helfen. Am Ende des Semesters hatte sie auch in diesen Fächern die besten Noten.
Da Juliets Haus gegenüber den Universitätsräumlichkeiten lag, wurde es zu dem Ort, wo sich die Studenten trafen und zusammen lernten. Ihre Kommilitonen halfen ihr dann auch oft bei der Zubereitung der Mahlzeiten und beim Hausputz. Juliet genoss diese Freundschaften und war erfreut über die Bereitschaft ihrer Mitstudenten, ihr und ihrer Familie zur Hand zu gehen. Ihnen zuzusehen bedeutete, das Evangelium in Aktion zu erleben.
Das zweite Semester begann am 1. September 1999. Einige Studenten, die nicht so gut abgeschnitten hatten, wollten Prüfungen wiederholen, um ihre Noten zu verbessern. Dafür wurden Wiederholungskurse angeboten. Da Juliet im ersten Semester so gute Noten gehabt hatte, wurde sie als Tutorin für die Betriebswirtschaftsstudenten eingesetzt.
In den darauffolgenden drei Monaten jonglierte Juliet also ihr Studium mit ihren zusätzlichen Aufgaben als Tutorin – und natürlich als Mutter. Sie behandelte die fünf jungen Männer in ihrem BWL-Kurzlehrgang, als wären sie ihre eigenen Söhne. Im Laufe des Semesters merkte sie, dass diese sich in ihrer Nähe wohler fühlten als bei den Tutoren von der Brigham-Young-Universität. Im Lehrgang sprachen sie frei heraus und schienen weniger zurückhaltend zu sein, wenn es ums Fragenstellen ging. Am Ende des Semesters bestanden sie allesamt die Prüfung.
Eines Tages rief der Verantwortliche für das Studienprogramm Juliet an und teilte ihr mit, dass sie die Abschiedsrednerin sein werde.
„Was ist das?“, wollte sie wissen.
Zu ihrer Überraschung bedeutete dies, dass sie aus ihrer Klasse dieses Jahr die besten schulischen Leistungen erbracht hatte und daher zu Semesterende eine Rede halten sollte. Ihr Selbstvertrauen wuchs. „Ja“, sagte sie sich, „ich kann das!“
Kurze Zeit später fand im Rahmen des Programms eine Abschlussfeier für die Studenten und rund vierhundert Angehörige und Freunde statt. Die Absolventen, die blaue Kappen und Talare des Fiji LDS Technical College trugen, wurden für ihren Abschluss gewürdigt. Juliet und einige andere erhielten außerdem von der Brigham-Young-Universität Hawaii ein Zeugnis für das erfolgreich abgeschlossene Wirtschaftsgrundstudium. Und Juliet hielt die Abschiedsrede.
Iliesa schrieb an Elder Henry B. Eyring, den Bildungsbeauftragten der Kirche, einen Brief, worin er seine und Juliets Dankbarkeit zum Ausdruck brachte. „Meine Frau und ich haben uns immer gefragt, ob wir in der Lage sein werden, uns weiterzubilden“, schrieb er. „Es scheint, dass unsere stillen Gebete erhört worden sind. Die Wege des Herrn sind wahrlich unergründlich.“
Am 1. Januar 2000 veröffentlichten die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel „Der lebendige Christus – das Zeugnis der Apostel“, eine unterzeichnete Erklärung zu Ehren des Erretters, zwei Jahrtausende nach dessen Geburt. „Wir legen Ihnen ans Herz, dieses schriftliche Zeugnis zu nutzen, um den Glauben der Kinder unseres Vaters im Himmel zu stärken“, riet die Erste Präsidentschaft.
Die Erklärung war ein gemeinsames Zeugnis für die göttliche Mission Jesu in Zeit und Ewigkeit. „Wir … geben Zeugnis für die Wirklichkeit seines unvergleichlichen Lebens und die unendliche Macht seines großen Sühnopfers“, so die Apostel. „Niemand sonst hatte so weitreichenden Einfluss auf alle Menschen, die schon auf der Erde gelebt haben, jetzt leben und noch leben werden.“
Drei Monate später veröffentlichte die Kirche auf der Frühjahrs-Generalkonferenz 2000 die einstündige Videopräsentation Besondere Zeugen für Christus. Darin legte jedes Mitglied der Ersten Präsidentschaft und des Kollegiums der Zwölf Apostel persönlich Zeugnis für den Erretter ab.
Der Film begann mit Präsident Hinckley, der durch die sonnenbeschienenen Gänge des Jerusalem-Centers der Brigham-Young-Universität wandelte. „Diese große alte Stadt Jerusalem – sie inspiriert mich immer wieder“, sagte er von einem Balkon, denn „sie ist durch den Sohn Gottes geprägt“.
Dann fasste er kurz die Geschichte Jesu von seiner Geburt in Betlehem bis zu seiner Auferstehung aus dem Grab zusammen. „Niemand kann ganz erfassen, wie groß sein Leben, wie erhaben sein Tod und wie umfassend sein Geschenk an die Menschheit war“, bezeugte der Prophet. „Wie der Hauptmann beim Kreuz sagen wir: ‚Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.‘“
Nach dieser Einleitung gaben in dem Film ein Apostel nach dem anderen Zeugnis. Jeder sprach von einem anderen Ort aus. Einige Apostel standen vor einem Tempel, andere an historischen Stätten wie etwa Palmyra, Kirtland oder Nauvoo.
Elder Neal A. Maxwell befand sich in einem Observatorium unterhalb eines imposanten Teleskops und bekundete den universellen Einfluss des Erretters. „Lange bevor der Erretter in Betlehem geboren und später als Jesus von Nazaret bekannt wurde, da war er Jehova“, gab er Zeugnis. „Damals war Christus auf Weisung des Vaters Herr des Weltalls; er schuf Welten ohne Zahl, und die unsere ist nur eine davon.“
Weiter führte Elder Maxwell aus: „Der Herr des Weltalls nimmt inmitten der Unermesslichkeit seiner Schöpfung wahr, wenn ein einzelner Sperling zu Boden fällt, und wahrhaftig ist er ebenso auch unser persönlicher Erlöser.“
Elder Henry B. Eyring, das jüngste Mitglied des Kollegiums der Zwölf Apostel, sprach von der Osttreppe des Salt-Lake-Tempels aus. „Der geweihte Tempel ist ein heiliger Ort, zu dem der auferstandene Erretter kommen kann“, erklärte er. „Jeder Teil eines solchen Gebäudes und alles, was darin vorgeht, spiegelt die Liebe des Erretters zu uns und unsere Liebe zu ihm wider.“
Präsident James E. Faust schritt ehrfürchtig über das Fundament des alten Nauvoo-Tempels und gab Zeugnis für den Erretter und sein Opfer. „Ich weiß, dass durch das unbeschreibliche Leiden im Zusammenhang mit dem Sühnopfer Männern und Frauen ihre Sünden vergeben werden können, sofern sie umkehren“, bekräftigte er. „Durch das Wunder der Auferstehung werden alle vom Tod auferstehen. Ich spüre seine Liebe und staune über den Preis, den er für einen jeden von uns gezahlt hat.“
Der Film endete mit einem abschließenden Zeugnis von Präsident Hinckley, der gemeinsam mit seinen Mitaposteln vor der Christus-Statue auf dem Tempelplatz stand.
„Er, Jesus Christus, steht an der Spitze dieser Kirche, die seinen heiligen Namen trägt“, verkündete der Prophet. „Einig, als seine Apostel, bevollmächtigt und von ihm dazu beauftragt, geben wir Zeugnis, dass er lebt und dass er wiederkehren wird, um sein Reich zu beanspruchen und als König der Könige und Herr der Herren zu regieren.“
Am 19. Mai 2000, sechs Monate nach Juliet Toros Studienabschluss, drangen Bewaffnete in das Parlament des Staates Fidschi ein und nahmen den Premierminister und Dutzende weiterer Regierungsmitglieder in Geiselhaft. Die Krise entwickelte sich schnell zu einem regelrechten Staatsstreich. Mehrere Tage lang herrschten im Land Gewalt und Gesetzlosigkeit.
Juliet weinte, als sie im Fernsehen die Berichte über die Revolte sah. Zunächst gab es einen allgemeine Ausgangssperre. Geschäfte und Schulen schlossen, Kirchen durften keine Zusammenkünfte mehr abhalten. Als schließlich einige Einschränkungen wieder aufgehoben wurden, wollten Juliets zwei älteste Kinder mit ihren Cousinen und einem Freund aus der Kirche ins Kino gehen. Doch kaum waren sie aus dem Haus, brach in Suva erneut eine Welle der Gewalt aus und stürzte die Stadt ins Chaos. Juliet war außer sich, als sie davon hörte. Drei Stunden vergingen. Als es ihre Kinder endlich wieder nach Hause geschafft hatten, schloss sie sie fest in die Arme.
Der Staatsstreich fand statt, nachdem die Bauarbeiten am Suva-Tempel abgeschlossen worden waren und alles für die Tage der offenen Tür und die Weihung im Juni vorbereitet wurde. Viele fragten sich nun, ob diese Termine nicht verschoben werden sollten, bis die Unruhen vorbei waren.
Am 29. Mai trat der Präsident von Fidschi zurück, und das Militär übernahm die Kontrolle über die Regierung. Zwei Tage später rief Präsident Hinckley Roy Bauer an, den Präsidenten der Fidschi-Mission Suva, und erkundigte sich nach der dortigen Lage. Präsident Bauer teilte dem Propheten mit, das Land sei trotz des anhaltenden Hausarrests einiger Regierungsmitglieder unter der Führung des Militärs relativ stabil. Der Flughafen in Suva sei wieder geöffnet, man könne in der Stadt auch wieder die Straßen nutzen.
Präsident Hinckley war zufrieden. „Dann sehen wir uns also nächsten Monat“, beschied er.
Anfang Juni hielten die Mitglieder in Fidschi die Tage der offenen Tür ab – zwar schlicht, aber dennoch wurden über sechzehntausend Besucher davon angelockt.
An einem Samstag kamen drei Busse voller Leute, die anderen Glaubensgemeinschaften angehörten. Eine Frau verspürte schon beim Aussteigen aus dem Bus ein wunderbares Gefühl, das immer stärker wurde, je näher sie dem Tempel kam. In der Vergangenheit hatte sie sich gegen die Kirche ausgesprochen. Jetzt bereute sie ihre Worte und betete vor dem Betreten des Tempels um Vergebung.
„Heute weiß ich, dass dies die wahre Kirche des Herrn ist“, sagte sie zu einem Mitglied der Kirche, das sich ihr bei dem Rundgang vorgestellt hatte. „Bitte schicken Sie die Missionare zu mir.“
Wegen des Staatsstreichs beschloss die Erste Präsidentschaft, nur eine statt vier Weihungsversammlungen abzuhalten, was die Teilnehmerzahl an der Zeremonie natürlich sehr begrenzte. Doch am 18. Juni, dem Tag der Weihung, standen Juliet und andere fidschianische Heilige auf der Hauptstraße vor dem Tempel Schlange.
Der Tempel befand sich auf einem Hügel mit Blick auf den Pazifik. Als der Wagen mit Präsident Hinckley und seiner Frau Marjorie langsam vorbeifuhr, schwenkten die Heiligen weiße Taschentücher und riefen Hosanna. Der Prophet lächelte und winkte ihnen zu. Ihn zu sehen munterte alle Anwesenden auf. Die Sonne schien, und Juliet spürte die Aufregung und die Emotionen in der Luft.
In seiner Ansprache zur Weihung sprach Präsident Hinckley über die Bedeutung der neuen, kleineren Tempel. Er hatte bereits über zwei Dutzend davon in der ganzen Welt geweiht. „Es ist das Haus des Herrn“, erklärte er an einem Pult im celestialen Saal. „Sie können die Waschungen, die Salbungen und das Endowment empfangen und in diesen wunderschön eingerichteten Raum kommen, nachdem Sie durch den Schleier gegangen sind – als Symbol für unseren Übergang von diesem Leben in ein neues Leben.“
Weiterhin bekundete er: „Es gibt hier zwei Siegelungsräume mit einem wunderschönen Altar. Dort kann man in die Spiegel schauen und somit ein Gefühl für die Ewigkeit erhalten. Auf der ganzen Erde gibt es nichts, was dem gleichkommt.“
Schon bald wurden im Tempel heilige Handlungen vollzogen. Auch Familie Toro wurde – nachdem sie sich darauf vorbereitet hatte, in das Haus des Herrn einzutreten – für Zeit und Ewigkeit aneinander gesiegelt.
Am 10. August 2000 fühlte sich Georges Bonnet sehr allein. Neun Monate nach seiner Reise nach Ghana kehrte er wieder in das Land zurück – dieses Mal, um die Arbeit als Verwaltungsdirektor der Kirche im Gebiet Afrika West aufzunehmen. Seine Frau Carolyn und drei ihrer Kinder würden bald nach Accra nachkommen. Aber jetzt war er erst einmal auf sich selbst gestellt.
Der Bau des Accra-Tempels kam nach wie vor nicht voran. Die Führer der Kirche hofften, Georges – der in Afrika für seine sachliche und einfühlsame Art in puncto Menschenführung bekannt war – könne dem Projekt wieder auf die Sprünge helfen. Georges spürte das Gewicht seiner Aufgabe und hoffte, den vor ihm liegenden Herausforderungen gewachsen zu sein. Er ging in sich und dachte über Jesus Christus und sein Sühnopfer nach.
„Obwohl ich fest an die Kraft des Sühnopfers glaube, die der Seele Frieden schenkt“, schrieb er in sein Tagebuch, „gibt es zweifellos andere Kräfte und Segnungen des Sühnopfers, die ich erst noch erleben muss.“
Nach seiner Ankunft in Accra stellte Georges schnell fest, dass die Baugenehmigung für den Tempel nur eine von vielen schwierigen Angelegenheiten war, die seinen Einsatz in Westafrika erforderten.
Zunächst war er zuversichtlich, der Belastung gewachsen zu sein, die auch weitere große Bauprojekte und den Tempel in Aba in Nigeria umfasste. „Ich habe hier schon einmal gearbeitet“, sagte er sich. „Ich schaffe das.“ Als seine Familie zu ihm stieß, fühlte er sich weniger allein.
Doch nach einem Monat war er sich seiner Sache nicht mehr so gewiss. Seine vielen anderen Verpflichtungen ließen ihm wenig Zeit, sich um die Baugenehmigung für den Accra-Tempel zu kümmern. Während sich Heilige in ganz Ghana treu darauf vorbereiteten, in das Haus des Herrn einzutreten, schien niemand – weder innerhalb noch außerhalb der Kirche – zu wissen, wie man sich aus der Sackgasse herausmanövrieren könne. Alle waren sich jedoch einig, dass Jerry Rawlings, der Präsident von Ghana, Drahtzieher der Verzögerungen war.
Georges fühlte sich hilflos und betete. „Es gibt zu viele Probleme, zu viele Komplikationen“, klagte er. „Herr, wie soll ich nach deinem Willen vorgehen? Ich werde tun, was immer du mir aufträgst. Ich möchte dein Werkzeug sein – aber ich schaffe es nicht alleine.“
Kurze Zeit später begann Georges gemeinsam mit dem Büro der ghanaischen First Lady, humanitäre Hilfsprojekte zu organisieren. Er hoffte, dies würde Familie Rawlings helfen, die Kirche und ihre Mission besser zu begreifen. Außerdem fastete er neuerdings jeden Sonntag.
Mitte November 2000 war Georgesʼ Stimmung optimistischer. Mehr und mehr war er der Meinung, dass Isaac Addy, der Bruder des Präsidenten, eine Schlüsselfigur sei, um aus der Sackgasse herauszukommen – so wie er es auch beim „Freeze“ gewesen war. Er zögerte jedoch, Isaac zu bitten, sich zugunsten der Kirche an den Staatspräsidenten zu wenden.
Zwar hatten sich die Brüder während des „Freeze“ versöhnt, doch diese Versöhnung war nur von kurzer Dauer gewesen. Da Isaac der ältere der beiden war, war es schmerzlich für ihn, ein zweites Mal um einen Gefallen bitten zu müssen. Doch Isaacs Frau June ermutigte ihn, auf Jesus Christus und seine Hilfe dabei zu vertrauen, die Beziehung zu seinem Bruder zu kitten. Trotz aller schmerzlichen Gefühle versicherte Isaac Georges, er sei bereit, mit Jerry über den Tempel zu reden.
Am 3. Dezember rief Isaac bei Familie Bonnet zuhause an und überbrachte erfreuliche Neuigkeiten. Ein Berater des Präsidenten hatte sich mit Fragen zum Tempel an ihn gewandt. Der Präsident war bereit, das Projekt zu unterstützen, falls die Kirche einige geringfügige Änderungen an der Gestaltung des Tempelgeländes vornehmen könne. Es war Fastsonntag, und Georges und Isaac hatten den ganzen Tag noch nichts gegessen. Doch anstatt an jenem Abend sogleich ihr Fasten zu brechen, fuhren sie gemeinsam zum Tempelgrundstück, um festzustellen, ob die Forderungen des Präsidenten umsetzbar seien.
Als sie so über das Gelände gingen, waren sie zuversichtlich, dass die Auflagen erfüllt werden könnten. „Isaac, dies ist der Ort, an dem der Tempel stehen wird“, sagte Georges. „Bitten wir den Vater im Himmel, einzugreifen.“
Sie knieten nieder und sprachen ein Gebet, in dem sie den Herrn baten, ihre Bemühungen zu segnen. Sie spürten den Geist sehr stark und riefen sofort den Berater des Präsidenten an, um ihre Verhandlungsbereitschaft mitzuteilen. Sowohl Georges als auch Isaac hatten bei diesem Gespräch ein gutes Gefühl.
Zwei Tage später traf Isaac mit seinem Bruder in der Christiansburg, dem Amtssitz des ghanaischen Präsidenten, zu einem privaten Gespräch zusammen. Kurz vor dem Treffen rief Georges noch Isaac an, um ihn daran zu erinnern, er solle seinem Bruder sagen, dass er ihn liebhabe. Dann fuhr Georges nach Hause, betete, lief unruhig hin und her und wartete auf eine Nachricht von Isaac. Als kein Anruf kam, fuhr Georges zum Tempelgrundstück und wartete dort. Eine halbe Stunde später klingelte endlich das Handy.
„Es ist geschafft“, jubelte Isaac. Jerry und er hatten bloß zehn Minuten über den Tempel gesprochen. Den Rest der Zeit verbrachten sie damit, über ihre Familie zu reden und in Erinnerungen zu schwelgen. Am Ende ihres Gesprächs lachten und weinten sie gemeinsam, und beiden war die Freude anzusehen. Jerry sagte, die Kirche könne sofort mit dem Bau des Tempels beginnen.
Isaac wollte wissen, ob sie zuerst den Planungsausschuss der Stadt konsultieren müssten.
„Mach dir darum keine Gedanken“, hatte der Staatspräsident gesagt. „Ich erledige das.“