Kapitel 35
Hand in Hand
Anfang 2006 freute sich Willy Binene schon sehr darauf, nach Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, zu ziehen und dort endlich seine Ausbildung als Elektrotechniker fortzusetzen. Dreizehn Jahre lang war er in dem gut eintausendfünfhundert Kilometer entfernten Dorf Luputa Bauer gewesen.
Nun war er mit einer jungen Frau namens Lilly verheiratet, die er in seiner Zeit als Zweigmissionar getauft hatte. Das Paar hatte zwei Kinder. In den letzten beiden Jahren hatten Lilly und die Kinder bereits in Kinshasa gewohnt, Willy allerdings hatte zunächst noch Geld für den Umzug und seine Ausbildung verdienen wollen.
Am 26. März gründete Missionspräsident William Maycock in Luputa jedoch den ersten Distrikt und berief Willy zum Distriktspräsidenten. Willy steckte in einer Zwickmühle, doch er ließ die Umzugspläne fallen und nahm die Berufung an. Schon bald kehrten auch Lilly und die Kinder nach Luputa zurück, und Willy nahm seine neuen Aufgaben nun mit seiner Frau an der Seite wahr.
Er war einer von vielen afrikanischen Mitgliedern, die in der Kirche bereits Führungsaufgaben übernahmen. In den beinahe dreißig Jahren, seit die ersten Vollzeitmissionare nach Ghana und Nigeria entsandt worden waren, war die Kirche auf dem Kontinent inzwischen auf über zweihunderttausend Mitglieder angewachsen. Mittlerweile gab es in der Demokratischen Republik Kongo, in Kenia, in der Republik Kongo, in Ghana, in der Elfenbeinküste, in Liberia, Madagaskar, Nigeria, Südafrika und Simbabwe schon Pfähle. Überall wurden glaubenstreue einheimische Führungskräfte gebraucht, die fest in den Lehren des Erretters und seiner wiederhergestellten Kirche verankert waren.
Norbert Ounleu aus der Elfenbeinküste etwa hatte sich 1995 als Student der Kirche angeschlossen. Zwei Jahre später wurde er anlässlich der Gründung des ersten Pfahls in der Elfenbeinküste zum Bischof berufen. Drei Jahre danach wurde er Pfahlpräsident – als sein damaliger Pfahl geteilt wurde. Und fünf Jahre darauf wurden er und seine Frau Valerie als Missionsführer in die neu gegründete Elfenbeinküste-Mission Abidjan berufen.
Etwa um dieselbe Zeit diente Abigail Ituma, ehemals Rundfunkjournalistin und Radio-DJ, in ihrer Gemeinde in Lagos in Nigeria als Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung. Mit ihrer extrovertierten und witzigen Art zauberte sie ihren Mitmenschen gern ein Lächeln aufs Gesicht. Viele Frauen aus ihrer Gemeinde gingen nicht mehr zur Kirche – also machte sie es sich zur Aufgabe, sie zurückzubringen. Auf ihren Vorschlag hin wurde eine dieser Frauen als Zweite Ratgeberin berufen, und schon bald verbrachten die beiden viele Stunden damit, die Schwestern zu besuchen und zur Kirche einzuladen.
Abigail fand, dass man viel bewirken konnte, wenn man nur mit jemandem persönlich in Kontakt trat. Sonntags brachten sie und ihre Ratgeberinnen immer wieder das Thema Besuchslehren zur Sprache, doch anfangs schien niemand sonderlich erpicht darauf zu sein. Abigail blieb allerdings hartnäckig, und mit der Zeit übernahmen immer mehr Schwestern die Aufgabe, einander zu betreuen. Die Anwesenheit in den Versammlungen der Frauenhilfsvereinigung stieg.
In Kenia waren Joseph und Gladys Sitati für ihren Dienst in der Kirche und ihre Hingabe an Jesus Christus bekannt. Vor ihrer Taufe im März 1986 waren die Sitatis durchaus keine Kirchgänger gewesen. Manchmal besuchten sie zwar eine der christlichen Kirchen vor Ort, doch geistig erbaut fühlten sie sich dadurch nie. Joseph verbrachte die Sonntage häufig in der Arbeit – oder er spielte Golf.
Doch sobald sie das wiederhergestellte Evangelium angenommen hatten, wurde alles anders. Die Sitatis fühlten sich in der Kirche wohl, und da diese ein wesentlicher Teil ihres Lebens wurde, begannen sie auch, als Familie mehr Zeit miteinander zu verbringen. Joseph diente jahrelang als Zweig- und dann als Distriktspräsident und trug dazu bei, dass die Kirche 1991 in Kenia offiziell anerkannt wurde. Als 2001 der Pfahl Nairobi gegründet wurde, wurde er als Präsident berufen. Nur drei Jahre später wurde er im April 2004 Gebietsautorität-Siebziger. Gladys diente unterdessen als Zweig-FHV-Präsidentin sowie als Lehrerin in der Sonntagsschule, in der Primarvereinigung, bei den Jungen Damen, in der Frauenhilfsvereinigung und im Seminar.
1991 reisten die Sitatis nach Südafrika zum Johannesburg-Tempel und wurden dort als erste kenianische Familie für Zeit und Ewigkeit gesiegelt.
„Als wir so Revue passieren ließen, was wir schon alles durchgemacht hatten“, erzählte Joseph später einmal, „wurde uns schlagartig klar, dass man die wahre Bedeutung des Evangeliums Jesu Christi erst versteht, wenn man im Tempel gesiegelt ist.“
Blake McKeown war achtzehn Jahre alt und stand in Sydney kurz vor Abschluss der Highschool. Wie sollte es nun weitergehen? Wollte er gleich an die Uni gehen, so durfte er das Studium nie länger als ein Jahr unterbrechen. Doch da er ja vorhatte, mit neunzehn eine zweijährige Mission zu erfüllen, wollte er nach dem Schulabschluss lieber einen Saisonjob annehmen und sich nicht gleich – wie so viele seiner Mitschüler – an der Universität immatrikulieren.
Blake war in einem Schwimmbad an seinem Wohnort bereits als Rettungsschwimmer tätig gewesen und mochte die Arbeit. Vor kurzem hatte ihn Bondi Rescue, eine neue Reality-TV-Show über Rettungsschwimmer an Sydneys beliebtem Strand, auf die Idee gebracht, doch am Ozean Rettungsschwimmer zu werden. Der Bondi Beach war mehr als sechzig Kilometer von seinem Zuhause entfernt, dennoch wollte er dort ein einwöchiges Praktikum absolvieren und so mehr Einblick in das Aufgabengebiet erhalten. Er machte zudem auch den Fitnesstest, der für Rettungsschwimmer, die an Badestränden eingesetzt wurden, vorgeschrieben war.
Der Test verlangte den Teilnehmern ziemlich viel ab, doch Blake war sportlich. Als Diakon war er mit den Jungen Männern seines Pfahles Mountainbike gefahren, was sein Interesse an Sport geweckt hatte. Das Pfadfinderprogramm war zwar seit Anfang des 20. Jahrhunderts Teil des JM-Programms, doch außerhalb der Vereinigten Staaten und Kanadas wurde es nur selten durchgeführt. In Australien nahm etwa ein Drittel aller örtlichen Einheiten am Pfadfinderprogramm teil, doch Blakes Pfahl gehörte nicht dazu. In solch einem Fall hielten sich die Führungsverantwortlichen an eine von der Kirche zusammengestellte Anleitung für die Planung von Aktivitäten für die Jungen Männer.
Matt Green war derjenige, der die Jungs auf eine Tour mit dem Mountainbike mitgenommen hatte. Er brachte Blake auch Triathlon näher – ein Mehrkampf, der Schwimmen, Radfahren und Laufen kombiniert. Mit Matt als Trainer und Mentor hatte sich Blake Disziplin und Zielstrebigkeit angeeignet. Bei dem Fitnesstest am Bondi Beach machten sich Blakes jahrelanges Training und seine Wettkämpfe also bezahlt. Er war so gut, dass er als auszubildender Rettungsschwimmer eingestellt wurde.
Nach dem Schulabschluss arbeitete Blake nun unter der Woche Tag für Tag am Strand. Nicht zwangsläufig durfte er deswegen auch gleich bei Bondi Rescue mitspielen, doch schon bald filmten ihn Kamerateams, als ihm beigebracht wurde, wie man die Rettungsschwimmerausrüstung anlegt, den Strandbesuchern hilft und Strandregeln durchsetzt. Sie fingen sogar den Moment ein, als er zum ersten Mal jemanden aus dem Meer rettete.
Blake gefiel seine Arbeit. Als einziges Mitglied der Kirche unter den Rettungsschwimmern, deren Leben und Wertvorstellungen so ganz anders waren als seine eigenen, war er allerdings ein wenig zurückhaltend. Doch nie fühlte er sich unter Druck gesetzt, seine Maßstäbe zu senken.
Anfang 2007 machten sich Blake und weitere Rettungsschwimmer auf die Suche, nachdem an einer tückischen Stelle im Wasser ein Mann gesichtet worden war, dem offenbar die Kräfte ausgingen. Sie suchten fünfundvierzig Minuten lang – doch nirgends war ein Ertrinkender oder ein erschöpfter Schwimmer zu sehen, und keiner der fünfundzwanzigtausend Strandbesucher hatte einen Freund oder Angehörigen als vermisst gemeldet. Schließlich gaben die Rettungsschwimmer die Suche auf in der Hoffnung, dass derjenige, den sie zu sehen gemeint hatten, bereits ans Ufer zurückgekehrt war.
Zwei Stunden später kam am Rettungsschwimmerturm ein junger Mann auf Blake zu. Er könne seinen Vater nicht finden, teilte er ihm mit. „Warten Sie einen Augenblick“, bat Blake den jungen Mann und informierte umgehend die übrigen Rettungsschwimmer.
Die Gruppe begab sich in Windeseile wieder auf die Schwimmbretter und einen Jetski. Sie forderten sogar einen Polizeihubschrauber an, der das Meer von oben absuchen sollte. Blake blieb unterdessen bei dem jungen Mann und dessen Mutter und stellte ihnen Fragen über den Vermissten. Zwar redete Blake ruhig, doch insgeheim war er voller Sorge, dass der Mann inzwischen tot sei.
Als das Tageslicht langsam schwand, wurde unter Wasser eine leblose Gestalt entdeckt. Ein Rettungsschwimmer tauchte hinunter und brachte den Mann an den Strand. Sämtliche Wiederbelebungsversuche schlugen fehl.
Blake wurde bei der Nachricht richtiggehend übel. Wie hatten er und seine Kollegen den Mann denn aus den Augen verlieren können, wo doch das Geschehen am Strand überall so gut im Auge behalten wurde? Blake hatte sich noch nie viel mit dem Tod befasst, denn von den Menschen, die ihm nahestanden, war noch keiner gestorben. Nun war er auf einmal ganz unmittelbar mit dem Ableben eines Menschen konfrontiert.
An diesem Abend wurde Blake erst spät mit der Arbeit fertig, und als er über die Tragödie nachsann, die doch hätte verhindert werden können, wandten sich seine Gedanken dem Erlösungsplan zu. Sein ganzes Leben lang war ihm beigebracht worden, dass der Tod nicht das Ende des Daseins ist und dass Jesus Christus für jedermann die Auferstehung möglich macht.
In den folgenden Wochen tröstete ihn der Glaube an diese Grundsätze.
Am 31. März 2007 wurden Julie B. Beck, Silvia H. Allred und Barbara Thompson als neue Präsidentschaft der Frauenhilfsvereinigung der Kirche bestätigt. Zu diesem Zeitpunkt war Silvia gerade an der Seite ihres Mannes Jeff tätig, der Präsident der Missionarsschule in der Dominikanischen Republik war. Obwohl Silvia es genossen hatte, unter den Missionaren in der Karibik zu sein, freute sie sich nun auch auf die Zusammenarbeit mit den Frauen der Kirche. Die neue Berufung machte sie zur ersten Frau aus Lateinamerika in einer FHV-Präsidentschaft der Kirche.
Kurze Zeit später lud Boyd K. Packer, der Amtierende Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel, die neu berufene Präsidentschaft zu einer Zusammenkunft in seinem Büro ein. Als die Schwestern eingetroffen waren, zeigte er ihnen als Erstes eine Reihe Ordner in einem Regal. „Die habe ich schon seit etwa fünfzehn Jahren“, erklärte er ihnen.
Die Ordner enthielten mehr als tausend Seiten über die Geschichte der Frauenhilfsvereinigung. Jahrzehnte zuvor war er, damals noch ein junger Apostel, als Generalautorität der Berater für die Frauenhilfsvereinigung gewesen und hatte für diese Organisation und ihre damalige Präsidentin Belle Spafford eine tief empfundene Bewunderung entwickelt. Später hatte er die beiden Schriftstellerinnen Lucile Tate und Elaine Harris gebeten, für ihn persönlich eine Geschichte der Frauenhilfsvereinigung zusammenzustellen. Ihre Arbeit befand sich in den besagten Ordnern.
„Das ist meine persönliche Ausgabe“, teilte er der neuen Präsidentschaft mit. „Ich lege sie in Ihre Hände.“
Auf Weisung von Präsidentin Bonnie D. Parkin hatte sich der Hauptausschuss der Frauenhilfsvereinigung mit dem Buch Women of Covenant: The Story of Relief Society befasst, einer ausführlichen Chronik, die anlässlich der 150-Jahr-Feier der Organisation im Jahr 1992 herausgegeben worden war. Nun hatten Präsidentin Beck und ihre Ratgeberinnen das Gefühl, sie sollten den Geschichtsbericht in den Ordnern selbst durchlesen. Sie teilten daher die Ordner untereinander auf und befassten sich nacheinander mit jedem einzelnen. Das Lesen vermittelte ihnen eine klare Vorstellung von der Idee und dem Zweck hinter der Organisation.
Deutlich stand ihnen vor Augen, dass die Frauenhilfsvereinigung zu Beginn durch die Vollmacht des Priestertums gegründet worden war. Aktivitäten und Bestrebungen der Vereinigung hatten sich im Laufe der Jahre allerdings geändert: Einige Präsidentschaften gründeten Krankenhäuser oder konzentrierten sich auf Sozialarbeit, Alphabetisierung oder sonstigen Dienst am Nächsten. Dessen ungeachtet hatte es zu jeder Zeit unumstößlich zum Wirken der Organisation gezählt, dass Frauen in die Lage versetzt wurden, das Evangelium Jesu Christi zu erläutern und Bedürftigen zu helfen.
Allerdings bereitete es der Präsidentschaft Sorge, dass die Frauenhilfsvereinigung unter Umständen bloß zu einer weiteren Klasse geworden war, die man sonntags eben besuchte. Versammlungen und Aktivitäten unter der Woche waren – vor allem dort, wo die Kirche samt ihren Mitgliedern gut aufgestellt war – häufig nicht mehr als gesellige Veranstaltungen, die kaum etwas damit zu tun hatten, dass man dem Nächsten diente oder das Evangelium lehrte. Viele Mitglieder kannten zudem weder die inspirierten Anfänge noch die Geschichtsträchtigkeit der Organisation. Vor allem jüngere Frauen zeigten wenig Begeisterung für die Frauenhilfsvereinigung. Die Präsidentschaft war der Ansicht, die Frauen in der Kirche müssten aus ihrer Identität als FHV-Schwestern Stärke und Selbstwert gewinnen.
Während die Präsidentschaft so die Vergangenheit und den derzeitigen Stand der Frauenhilfsvereinigung besprach, wandten sich ihre Gedanken der Kernbotschaft und dem Zweck dieser Organisation für die Schwestern weltweit zu. Alle drei Schwestern der Präsidentschaft hatten bereits außerhalb der Vereinigten Staaten gelebt, und daher war ihnen bewusst, dass sie eine klare, einfache Botschaft formulieren mussten, welche die Mitglieder der Frauenhilfsvereinigung trotz aller Unterschiede bei Sprache, Kultur und Lebensumständen zu vereinen und zu inspirieren vermochte.
Gemeinsam arbeitete die Präsidentschaft drei Zwecke der Frauenhilfsvereinigung heraus – erstens, an Rechtschaffenheit und Glauben zunehmen; zweitens, Familie und Zuhause stärken; und drittens, Bedürftige ausfindig machen und unterstützen. Daher legten sie fest, im Rahmen ihres Wirkungskreises künftig die Schlagwörter „Glaube, Familie und Helfen“ in den Fokus zu rücken.
Einer ihrer ersten Aufträge bestand darin, im Handbuch Anweisungen der Kirche den Abschnitt über die Frauenhilfsvereinigung zu überarbeiten. Schon der vorherigen Präsidentschaft war es bewusst gewesen, dass der komplizierte Wortlaut des Handbuchs für einige Mitglieder schwer zu lesen und zu verstehen war. Präsidentin Beck und ihre Ratgeberinnen gingen davon aus, dass sich einige Richtlinien eher für die Mitglieder in Utah eigneten denn für die Gesamtheit der Heiligen in aller Welt. Wie auch andere Führungsverantwortliche wünschten sie sich ein leichter lesbares Handbuch, das von den Mitgliedern an Bedürfnisse und Gegebenheiten vor Ort angepasst werden konnte.
Das aktuelle Handbuch umfasste allein für die Frauenhilfsvereinigung schon über zwanzig Seiten. Präsidentin Beck hoffte, das Sachgebiet kürzer und einfacher darstellen zu können. Tatsächlich entwarf die Präsidentschaft auf der Grundlage von Glaube, Familie und Helfen ein vierseitiges Arbeitspapier und übergab es Elder Dallin H. Oaks, dem Apostel, der für die Überarbeitung des Handbuchs zuständig war. Ihm gefiel der Entwurf zwar, doch er empfahl, weitere Anweisungen hinzuzufügen. Die führenden Schwestern erweiterten ihre Ausarbeitung schließlich auf zwölf Seiten, und diese fanden Zustimmung.
Das Handbuch war nur eines der zahlreichen Projekte der Frauenhilfsvereinigung. Neben der Überarbeitung des Handbuchs war Silvia zudem in Ausschüssen tätig, in denen es um Schulung, Besuchslehrarbeit und Integration neuer Schwestern in die Frauenhilfsvereinigung ging. Sie bereiste viele Länder rund um den Globus, kam mit den Schwestern zusammen und hörte ihnen zu.
Allen Schwestern in der Präsidentschaft war es ein Anliegen, diese Ziele der Frauenhilfsvereinigung in die Welt hinauszutragen.
Im Mai 2007 war Silvina Mouhsen aus Buenos Aires in Argentinien von Sorge erfüllt. In den vergangenen Jahren hatte sie sich um ihre Schwester gekümmert, bei der eine Depression und eine schwere Psychose diagnostiziert worden waren. Gleichzeitig hatte Silvina den Tod einer nahen Verwandten verkraften müssen, ihr drittes Kind geboren und war zudem als Gemeinde-FHV-Präsidentin tätig. Ihr Mann David war unterdessen beruflich sehr eingespannt, denn er versuchte, die nächste Sprosse seiner Karriereleiter zu erklimmen, besuchte nebenbei Weiterbildungskurse und diente ebenfalls in der Kirche. Wegen andauernder Terminüberschneidungen sahen die beiden einander unter der Woche kaum.
Nun bemerkte Silvina, dass es ihr schwerfiel, morgens aus den Federn zu kommen, und immer wieder stellte sie bei sich beunruhigende Fehlleistungen fest. Einmal war sie mit dem Auto zum Supermarkt gefahren und wusste danach plötzlich nicht mehr, wo sie überhaupt war. Ein andermal hatte sie ihren Sohn Nicolás von der Schule abholen wollen und versehentlich die Hand eines anderen Kindes ergriffen. Und unlängst erst hatte sie ihre Tochter am falschen Tag zu einer Party gebracht.
Als Silvina mit ihrem Arzt über diese Vorfälle sprach, meinte er, sie habe Symptome einer Depression. Er empfahl ihr, eine Therapie zu machen, sich als Lehrerin freistellen zu lassen und Medikamente zu nehmen.
Silvina fiel es nicht leicht, solch einen Rat anzunehmen. Da sie sich ja um ihre Schwester gekümmert hatte, war ihr bewusst, wie vielschichtig psychische Erkrankungen sind und dass sie mitunter auf genetische Faktoren zurückzuführen sind, auf die niemand Einfluss hat. Nichtsdestotrotz hatte sie sich immer als starke Frau betrachtet, die sich um andere kümmerte, wenn sie Schwierigkeiten hatten – nicht jedoch als eine, die selbst eine schwere Zeit durchmachte. Eine Zeit lang behielt sie ihre Diagnose daher weitestgehend für sich.
Als sich Silvina nun eingehender mit psychischer Gesundheit – der ihrer Schwester und ihrer eigenen – befasste, fiel ihr auf, dass auch andere mit ähnlichen Symptomen rangen. Doch niemand verlor ein Wort darüber. Eine Frau in der Kirche hatte psychische Probleme, die sie daran hinderten, die Versammlungen zu besuchen. Wann immer sie ihre örtlichen Führer um Hilfe bat, schlugen ihr diese in der Regel vor, dass sie sich Gott noch mehr nahen und darauf vertrauen solle, dass er sich ihrer Probleme annähme.
Silvina wusste aus eigener Erfahrung, dass dies nur zum Teil eine Lösung für die Probleme der Frau war, und sie ermunterte sie, die Hilfe eines Therapeuten in Anspruch zu nehmen. Monate später hörte Silvina, dass die Frau ihren Rat befolgt hatte und sich auf dem Weg der Besserung befand.
In den vergangenen Jahren hatte die Kirche psychische Erkrankungen offener thematisiert und die Heiligen gedrängt, jemandem mit einem solchen Problem mitfühlend zu begegnen. Die Kirche stellte zum Thema psychische Gesundheit nun auch unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung. Die Abteilung Sozialdienste der Frauenhilfsvereinigung, die sich inzwischen Familiendienst der Kirche nannte, hatte Mitgliedern mit psychischen Problemen schon seit längerem Beratung und andere Hilfsangebote vermittelt. Obschon es Niederlassungen des Familiendienstes lediglich in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Australien, Neuseeland, Großbritannien und Japan gab, war man nun im Begriff, in weitere Länder zu expandieren, darunter auch nach Argentinien. In Südamerika boten etliche Wohlfahrtszentren, etwa die in Chile, eine Beratungsmöglichkeit durch geschulte Therapeuten an. Auch im Zuge von Naturkatastrophen leistete die Kirche psychische Unterstützung. Nach dem Tsunami im Indischen Ozean führte der Familiendienst der Kirche beispielsweise in den betroffenen Gebieten Schulungen durch, um die Menschen bei der Bewältigung von Verlusten und Traumata zu unterstützen.
Silvina befolgte schließlich den Rat ihres Arztes, und ihr Gesundheitszustand besserte sich. Neben Therapie, Ruhe und Medikamenten schenkten ihr auch sportliche Betätigung und Musik Trost. Zudem strebte sie im Alltag nach Ausgewogenheit. Zuhause verbrachten David und sie jetzt mehr Zeit miteinander. Manchmal trafen sie sich nach der Arbeit beim Tempel und nahmen an einer Endowmentsession teil. Oder sie gingen einfach gemeinsam einkaufen.
Auch die Proklamation zur Familie schenkte Silvina Kraft – besagte sie doch, dass die Geisttöchter und Geistsöhne Gottes im vorirdischen Leben seinen Plan angenommen hatten und dadurch als „Erben ewigen Lebens“ auf ihre göttliche Bestimmung hinarbeiten konnten. Das Wissen um diese Wahrheit gab ihr, während sie sich ihren Herausforderungen stellte, einen Sinn sowie die benötigte Führung und Perspektive.
In der Kirche stützte sie sich bei der Erfüllung ihrer Pflichten mehr auf ihre Ratgeberinnen in der Präsidentschaft der Frauenhilfsvereinigung. Sie verließ sich mehr denn je auf den Erretter, und ihr Gottesglaube fand eine neue Dimension. Sonntag für Sonntag hörte sie bei den Abendmahlsgebeten genauer hin und dachte dadurch mehr über diese heilige Handlung nach. Eines Abends gab ihr David einen Priestertumssegen und verhieß ihr, dass ihr Verstand so funktionieren werde, wie sie es brauche. Freunde und Bekannte beteten für sie, und ihr Bruder setzte ihren Namen auf die Gebetsliste des Tempels.
Durch all dies wuchs Silvina geistig. Sie erkannte, dass der Erretter ihre Bedrängnisse ganz genau kannte. Sie musste ihre Schwierigkeiten also nicht alleine ausfechten.
Freunde, Familie und der Herr standen ihr bei der Genesung zur Seite.
Im Juni 2007 kam Hector David Hernandez eines Tages erschöpft von der Universität nach Hause. Mit tiefen Schatten unter den Augen setzte er sich zu seiner Frau Emma und erzählte ihr, er sei während einer Vorlesung eingeschlafen.
Vor anderthalb Jahren waren Emma und Hector David im Guatemala-Stadt-Tempel aneinander gesiegelt worden. Nun studierten sie beide in der Nähe ihres Wohnortes in Honduras an einer staatlichen Universität. Es war nicht einfach, Erwerbstätigkeit, Studium und Ehe unter einen Hut zu bringen und sich vor allem um ihren neugeborenen Sohn Oscar David zu kümmern.
Die Universität, die sie besuchten, bot pro Semester zudem nur eine begrenzte Zahl an Vorlesungen an, was bedeutete, dass es länger als im Normalfall dauern würde, bis Emma und Hector David ihr Studium abschließen konnten. Und für sie als frischgebackene Eltern gab es naturgemäß viele schlaflose Nächte, worunter ihr Studium litt.
Bei dem Gespräch nun gestand Hector David seiner Frau auch, dass er gerade seine Bewertungen bekommen hatte.
„Ich habe nicht besonders gut abgeschnitten“, klagte er frustriert.
Emma sah ein, dass sich etwas ändern müsse. Unter den diversen Möglichkeiten, die sie diskutierten, war auch die Inanspruchnahme des Ständigen Ausbildungsfonds. Dieses Darlehensprogramm der Kirche war Emma über die Jahre immer wieder in den Sinn gekommen, doch eigentlich wollten Hector David und sie ja niemanden um Hilfe bitten müssen. Nun hatten sie das Gefühl, sie sollten an ihrem Plan doch etwas ändern.
„Wie wäre es denn, wenn du auf eine Privatuniversität gehst und wir auf den Ständigen Ausbildungsfonds zurückgreifen?“, schlug Emma vor.
Hector Davids Traum war es, an der Universität, die sie beide besuchten, den Studiengang Buchhaltung abzuschließen. Doch die von Emma erwähnte Privatuniversität bot ein ähnliches Studium an. Außerdem war das Studienjahr dort in Trimester statt in Semester aufgeteilt, was bedeutete, dass er mehr Kurse belegen und seinen Abschluss daher früher machen könnte. Der Ständige Ausbildungsfonds konnte dazu beitragen, die hohen Studienkosten zu decken.
„In Ordnung“, stimmte Hector David zu. Er wollte jedoch, dass auch Emma den Ständigen Ausbildungsfonds nutzte, um ihre Studienziele zu erreichen. „Wir werden beide studieren“, beschied er. „Ich werde studieren. Und du wirst ebenfalls studieren!“
„In Ordnung“, meinte Emma und freute sich über diese Aussicht.
Sie bewarben sich also beide um ein Darlehen beim Ständigen Ausbildungsfonds und immatrikulierten sich an der Privatuniversität. Und Emma nahm all ihren Glauben zusammen und kündigte ihren Job bei der Bank, um für Oscar David mehr Zeit zu haben.
Wer den Ständigen Ausbildungsfonds in Anspruch nahm, musste zuerst einen Kurs besuchen, der auf die spätere Berufstätigkeit vorbereitete. Durch diesen Kurs sollten die Teilnehmer ihren Traumberuf herausfinden und erkennen, wie er zu erreichen war.
Eine von Emmas Aufgaben im Kurs bestand darin, ihre Talente und Interessen aufzuschreiben. Sie hielt fest, sie sei kreativ und interessiere sich für die Werbebranche. Danach suchte sie das Gespräch mit Fachleuten in den Bereichen Marketing und Grafikdesign. Diese Unterhaltungen bewogen Emma schließlich dazu, von ihrem Hauptfach Betriebswirtschaft zu Marketing und Werbung zu wechseln.
Sie wusste anfangs zwar nicht viel über diese Fächer, aber schon bei der ersten Marketing-Vorlesung an der Privatuniversität merkte sie, dass sie am richtigen Platz war.
„Dafür bin ich wie geschaffen“, dachte sie bei sich.
Trotz der finanziellen Unterstützung durch den Ständigen Ausbildungsfonds war es kein Kinderspiel, Studium und Elternschaft unter einen Hut zu bringen. Sie und Hector David hatten weiterhin schlaflose Nächte, und einfach war es beileibe nicht, all ihren Verpflichtungen gerecht zu werden. Es gab durchaus Tage, da fragte sich Emma, ob sie das Studium nicht lieber unterbrechen sollte.
In solch schwierigen Momenten stützten sich Hector David und sie auf ihr Motto: „Jetzt ist die Zeit.“
Am 12. Januar 2008 stand Präsident Gordon B. Hinckley auf dem Friedhof von Salt Lake City am Grab seiner Frau Marjorie. Fast vier Jahre waren nun schon seit ihrem Tod vergangen. Auf dem Rückflug von der Weihung des Accra-Tempels in Ghana war sie krank geworden. Sie verstarb wenige Monate später, am 6. April 2004.
Präsident Hinckley und seine Frau hatten zusammen alle Welt bereist, den Heiligen gedient und sich an ihrer Zweisamkeit erfreut. Er vermisste sie über die Maßen. Nur sein Dienst in der Kirche und seine Familie bewahrten ihn davor, in Einsamkeit zu versinken.
Präsident Hinckley war es ein Anliegen, jede Woche ihr Grab zu besuchen, Blumen hinzulegen und die sechsundsechzig Jahre ihrer Ehe Revue passieren zu lassen. Er befürchtete, manche könnten meinen, er verbringe zu viel Zeit am Grab. Dennoch ließ er sich davon nicht abhalten.
„Sie war doch mein Ein und Alles – niemand ist mir teurer als sie“, hatte er sich einst gesagt. „Das Mindeste, was ich tun kann, ist doch wohl, hier jede Woche etwas Schönes hinzulegen.“
Beim heutigen Besuch lagen noch Blumengebinde von vorangegangenen Wochen auf dem Grab, und Präsident Hinckley befand, er wolle sie noch ein Weilchen dort liegenlassen.
Bald darauf setzte sich der Prophet hin und diktierte seine Wünsche für die eigene Beisetzung. Mit siebenundneunzig Jahren war er nun der bis dato älteste lebende Präsident der Kirche. Einige Jahre zuvor hatte er eine Krebsoperation überstanden, doch jetzt hatte sich der Krebs ausgebreitet. Ihm war klar, dass sich seine Zeit auf Erden ihrem Ende zuneigte.
„Ich möchte in einem Kirschholzsarg begraben werden, genau wie meine Frau“, diktierte er. Er wünschte sich, dass die Trauerfeier im Konferenzzentrum stattfinden sollte, selbst wenn in dem riesigen Saal viele Plätze vielleicht frei blieben.
„Ich habe ja den ersten Spatenstich vorgenommen und das Zentrum geweiht“, schrieb er, „und halte es daher für angemessen, dass meine Trauerfeier auch dort stattfindet.“
Präsident Hinckley wünschte sich keine langatmigen Beerdigungsfeierlichkeiten. Nicht länger als neunzig Minuten sollten sie dauern, legte er fest – genau wie es im Handbuch Anweisungen der Kirche stand. Und er wünschte sich, dass sein langjähriger Erster Ratgeber, Präsident Thomas S. Monson, die Leitung übernehme. Außerdem sollte der Tabernakelchor das Lied „Mein Erlöser lebt“ singen, das er vor Jahren gedichtet hatte:
Ich weiß, dass mein Erlöser lebt,
mein Herr und Heiland, Gottes Sohn;
er siegte über Schmerz und Tod,
als König herrscht er auf dem Thron.
Am Ende seines Diktats zur Beisetzung erwähnte der Prophet seine Frau. Er habe die feste Gewissheit, dass ihr Ehebund im künftigen Leben Bestand haben werde, und es sei sein letzter Wunsch, neben ihr begraben zu werden.
„Somit lege ich mich in die Hand des Herrn“, schloss er, „und werde gemeinsam mit meiner geliebten ewigen Gefährtin Hand in Hand den Weg zu Unsterblichkeit und ewigem Leben beschreiten.“